Das deutsche Steuerrecht gilt als eines der kompliziertesten weltweit; immer wieder heißt es, von allen Fachbüchern und Kommentaren, die weltweit zum Thema Steuern und Steuersysteme veröffentlicht werden, beschäftigten sich die meisten mit dem deutschen Steuersystem und füllten lange Regale. Ob das tatsächlich stimmt, lässt sich nicht mit Sicherheit beantworten. Fakt ist allerdings, dass die Komplexität des deutschen Steuerrechts zum Teil so beabsichtigt ist: Zahlreiche Gesetze, Regelungen, Verordnungen und Richtlinien sollen dazu beitragen, den individuellen Fall jedes Einzelnen möglichst fair und gerecht abzubilden.
Dem Prinzip der individuellen Leistungsfähigkeit wird damit Vorrang vor einer einfachen, aber möglicherweise zu stark pauschalisierenden rechtlichen Grundlage gegeben. Allerdings sind sich Expertinnen und Experten schon länger einig, dass noch mehr Ausnahmen und noch mehr individualorientierte Regelungen das deutsche Steuersystem undurchdringbar machen. Ein einfaches, von allen leicht zu verstehendes, transparentes System könnte ebenfalls den Prinzipien der Steuergerechtigkeit dienen, argumentieren manche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler.
Angesichts der Tatsache, dass sich ein gewachsenes System nicht von heute auf morgen komplett verändern lässt, fokussieren sich einige Expertinnen und Experten zudem darauf – auch angesichts zunehmender Bürokratie –, mögliche Neuregelungen nur noch befristet einzuführen oder dafür andere, nicht nachhaltig erfolgreiche Regelungen, zurückzunehmen. Diese sogenannte „One in one out“-Regel wird unter anderem vom Nationalen Normenkontrollrat eingefordert und eine Bilanz dazu – zumindest, was Vorgaben, die die Wirtschaft belasten – ist seit 2015 Pflicht. Im Berichtszeitraum 2021/22, der das Ende der letzten und den Anfang der neuen Legislaturperiode umfasst, fiel die „One in one out“-Bilanz negativ aus. Mit Bürokratieentlastungsgesetzen versucht der Gesetzgeber, zumindest den Bürokratieabbau voranzutreiben. Neben der Komplexität und der Bürokratie steht auch die Abgabenlast im Fokus der Kritik mancher Experten. Deutschland gehöre demnach zu den Ländern mit der höchsten Steuern- und Abgabenlast weltweit. Allerdings betrifft dies vor allem die Kosten, die durch die Sozialversicherungsabgaben entstehen.
Ob eine radikale Vereinfachung das deutsche Steuersystem so viel besser machen würde, ist unter Expertinnen und Experten umstritten. Zudem ist das deutsche Steuerrecht im internationalen Vergleich nicht außergewöhnlich kompliziert. So liegt die durchschnittliche Bearbeitungszeit in den USA für eine Steuererklärung bei 27 Stunden. Deutsche brauchen dagegen im Schnitt nur vier Stunden dafür. Ein stark vereinfachtes Steuersystem würde zahlreiche individuelle Situationen außer Acht lassen und könnte die jeweilige Lebenssituation mit all ihren notwendigen Ausgaben nicht berücksichtigen. Das wiederum könnte zu neuer Ungerechtigkeit führen, auch wenn die Steuererklärung als solche dann einfach zu erledigen wäre.
Darüber hinaus hat der Gesetzgeber die Möglichkeit, mit neuen Vorgaben auf möglichen Missbrauch zu reagieren und so dafür zu sorgen, dass Steuerpflichtige in gleichen Situationen gleichbehandelt werden. Steuerberatung ist für alle zugänglich und die verstärkte Digitalisierung erleichtert auch im Steuerrecht bislang bürokratische Vorgänge. So können digitale Prozesse und elektronische Steuererklärungen den Aufwand für die Bürgerinnen und Bürger reduzieren.
Dass die Debatte über eine Reform des Steuersystems bereits seit Jahrzehnten anhält und immer wieder die gleichen Punkte aufgreift, zeigt, wie komplex die Diskussion über die richtigen Ansätze ist. Zudem müssen Änderungen in Vorgaben der Europäischen Union und internationale Bestrebungen zur Steuerharmonisierung eingebettet werden. Darüber hinaus haben die politischen Parteien unterschiedliche Vorstellungen von Steuergerechtigkeit und den damit verbundenen Auswirkungen auf das Steuersystem. Ob das deutsche Steuerrecht in den nächsten Jahrzehnten noch komplexer wird oder ob die Digitalisierung dazu beiträgt, sich mit der Vereinfachung des Systems aufs Neue zu beschäftigen, bleibt abzuwarten.
QuellentextMit der Förderung strukturarmer Regionen gegen den Populismus kämpfen?
Interview mit dem Ökonomen Robert Gold vom Kiel Institut für Weltwirtschaft
ZEIT: Herr Gold, Sie haben am Kiel Institut für Weltwirtschaft gerade eine Studie veröffentlicht, in der Sie feststellen, dass die Förderung von strukturarmen Regionen den Populismus eindämmt. Lässt sich der Populismus wirklich mit Geld bekämpfen?
Gold: Einfach Straßenbahnen und Schwimmbäder zu bauen, wird das Problem nicht lösen. Die Ökonomie ist immer nur ein Teil des Ganzen. Aber wir zeigen in unserer Studie, dass regionale Förderung die Unterstützung populistischer Parteien um durchschnittlich 2,5 Prozentpunkte bei Wahlergebnissen reduziert. Das ist zumindest ein Anfang. Und ein Ergebnis mit direkten Implikationen für die Politik.
ZEIT: Inwiefern?
Gold: Wir haben in der ganzen EU strukturschwache Regionen, die Förderung erhalten haben oder denen Förderung entzogen worden ist, miteinander verglichen und geschaut, welchen Effekt die Finanzierungsspritze auf die Unterstützung populistischer Parteien hat. Dadurch haben wir mit einer nie dagewesenen Datenmenge überprüfen können, welche Rolle regionalpolitische Entwicklungsmaßnahmen tatsächlich spielen. Jetzt wissen wir: Die Unzufriedenheit vieler Menschen mit der Politik lässt nach, wenn sie spüren, dass in die marode Infrastruktur oder die Industrie vor Ort investiert wird. Das gilt EU-weit und entsprechend auch für Deutschland.
ZEIT: Gilt denn Gleiches auch vice versa: Wo Infrastruktur verfällt, steigt die Zustimmung für Rechtspopulisten?
Gold: Ja. Und das ist gerade für Deutschland relevant. Mit der EU-Osterweiterung traten arme Regionen der Europäischen Union bei. Sie erhielten plötzlich Mittel aus dem Fördertopf für regionale Entwicklung, die einst ostdeutschen Regionen zur Verfügung standen. Gerade in den Regionen, denen man die Förderung entzog, stieg die Unterstützung der AfD an. Hinzu kommt: Wenn das Angebot an öffentlichen Gütern verknappt wird, also zum Beispiel lokale Schwimmbäder schließen müssen, reagieren Menschen besonders sensitiv auf den Zuzug von Migranten. In solchen Situationen bekommt Immigration besonders viel Sprengkraft. […]
ZEIT: Woraus besteht dieses Gefühl der Frustration?
Gold: Das lässt sich schwer definieren. Da geht es um ein Stadt-Land-Gefälle, um mangelnde politische Kommunikation. Aber, und das zeigen unsere Daten sehr schön, es geht vor allem auch um das Vertrauen in die politischen Institutionen. Das wächst signifikant, sobald die Infrastruktur ausgebaut, das Schwimmbad renoviert, innovative Industrien gefördert oder Qualifikationsangebote geschaffen werden. Die Leute geben in den Umfragen dann an, der nationalen Regierung und dem EU-Parlament zu vertrauen. Sie haben ein besseres Verhältnis zum Staat, seinen Akteuren und Institutionen.
ZEIT: Nur leider hat unser Staat derzeit keine Spendierhosen an. Wie wirkt man der Demokratiekrise in einer Haushaltskrise entgegen?
Gold: Ich glaube nicht, dass es an Masse fehlt. Man muss die Mittel, die man zur Verfügung hat, effizient nutzen und vor allem gut kommunizieren. Es braucht nicht überall mehr Geld, sondern Projekte, die für die Region sinnvoll sind und den Menschen vor Ort eine Perspektive geben. Und ich glaube, dass es wichtig ist, diese Politiken sichtbarer zu machen. Überall, wo mit EU-Förderungen gebaut wird, werden riesengroße Schilder aufgehängt: Dieses Projekt wird finanziert aus Mitteln der Europäischen Union. Das macht was mit den Menschen. Die merken: Diese EU, die ist vielleicht doch nicht so schlecht […]. Der Staat investiert viel mehr, als viele glauben. Es weiß nur niemand, wo ihr Steuergeld hinfließt und wie stark manche Regionen davon bereits profitiert haben. Aber woher sollen sie es auch wissen? Das muss man transparent machen. Es lohnt sich, zu zeigen, wo der Staat investiert.
ZEIT: Und wo er funktioniert.
Gold: Genau. Repräsentative Demokratien müssen responsiv sein. Die Menschen müssen nachvollziehen können, dass die staatlichen Institutionen ihnen persönlich einen Vorteil bringen.
ZEIT: Ist das ein Plädoyer für mehr Regionalpolitik im Allgemeinen?
Gold: Ja, definitiv. Wie wirksam gute oder eben auch schlechte Regionalpolitik ist, konnte man bereits hervorragend am Brexit studieren. Regionalpolitik und -förderung stellt eine stärkere Verbundenheit zwischen der lokalen Bevölkerung und dem politischen System her, die Menschen spüren, dass die eigenen Bedürfnisse wahrgenommen werden. Das wirkt allen populistischen Kampagnen entgegen, die behaupten, der Staat privilegiere den urbanen Raum und vergesse den Rest der Bevölkerung.
ZEIT: Es geht ja nicht nur um ein Gefühl. Zwischen Ost- und Westdeutschland herrscht strukturell nach wie vor ein großes Gefälle.
Gold: Das stimmt. Deshalb steht die Verbindung zwischen der Entwicklung einer Region und seiner Förderung im Fokus unserer Forschung. Es geht um die Frage, wie regionalpolitische Maßnahmen diese Ungleichheiten, die sich mehr oder weniger zwingend aus dem ökonomischen Wandel ergeben, abfedern können. Wichtig ist, den Verlust an Entwicklungsperspektiven auszugleichen, sodass die Lebensqualität, egal ob gefühlt oder real, weniger stark leidet, als sie es aktuell in strukturschwachen Regionen tut. […]
Carlotta Wald, „Lässt sich Populismus wirklich mit Geld bekämpfen?“, in: ZEIT ONLINE vom 29. Juni 2024. Online: Externer Link: https://www.zeit.de/gesellschaft/2024-06/infrastrukturfoerderung-populismus-unterstuetzung-wirtschaft-robert-gold