Steuern gibt es, seitdem Menschen in organisierten Gemeinschaften zusammenleben. Zunächst wurden Steuern in Gütern, später in Form von Geld entrichtet. Zivilisation im Sinne von geordnetem Zusammenleben, Versorgung von außen und gegenseitiger Unterstützung bildeten die Grundlage dafür. Erste Belege für Steuererhebungen finden wir bereits im 3. Jahrtausend vor Christus – also vor 5000 Jahren.
Die Ursprünge des deutschen Steuersystems lassen sich bis in das frühe Mittelalter zurückverfolgen. Das deutsche Wort „Steuer“ kommt aus dem Althochdeutschen und bedeutet „Stütze“. Unterstützt wurden mit Steuern jedoch in früheren Zeiten vor allem die Machthabenden, zum Beispiel, um Kriege zu finanzieren oder den Lebensstil der Herrscher zu sichern. In der Regel wurden Steuern willkürlich erhoben und waren selten gerecht gestaltet.
Steuerproteste und Aufklärung
Sowohl der amerikanische Unabhängigkeitskrieg (1775-1783) als auch die Französische Revolution (1789) nahmen ihren Ursprung in Protesten gegen Steuern. Die staatsphilosophischen Gedanken der Aufklärung trugen dazu bei, dass nicht nur das Prinzip der Allgemeinheit, sondern auch die Idee der Gleichmäßigkeit der Besteuerung ins Bewusstsein rückte – und damit die Tatsache, dass dies nur durch eine proportionale Anpassung an die Leistungsfähigkeit erreicht werden könne.
Diese Idee setzte sich im Zeitalter des Liberalismus zunächst in England durch. Die klassischen Maximen des Finanzliberalismus fügten dem noch weitere Kernthesen hinzu. In England wurde Ende des 18. Jahrhunderts die erste allgemeine Einkommensteuer Europas eingeführt. Dies hat den weiteren Verlauf der Steuergeschichte wesentlich beeinflusst, auch in Deutschland, das es als Einheitsstaat zu diesem Zeitpunkt noch nicht gab.
Die Einkommensteuer kommt nach Deutschland
1820 wurden in Preußen sämtliche anderen direkten Steuern abgeschafft und durch eine Einkommensteuer ersetzt. Bei dieser Klassensteuer bewertete der Staat die Einkommens- und Vermögensverhältnisse anhand äußerlicher Merkmale. Aufgrund dieser Schätzungen wurden die Zahlungspflichtigen wiederum in Steuerklassen eingeteilt. Das Prinzip der Leistungsfähigkeit wurde aber auch andersherum interpretiert: Wer für den Staat zahlt, darf auch mitbestimmen. So gesehen war die Besteuerung Grundlage für das preußische Dreiklassenwahlrecht.
In den deutschen Einzelstaaten setzte sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Einkommensteuer endgültig durch. In Preußen wurde sie durch die Miquelschen Steuerreformen von 1891/93 nochmals verändert. Der preußische Finanzminister Johannes von Miquel (1828-1901) entwickelte ein neuartiges Steuersystem – mit einer Steuerprogression in der Einkommensteuer, einer Vermögensteuer und der Gewerbesteuer. 1906 kam die Erbschaftsteuer hinzu.
Die Erzbergerschen Steuer- und Finanzreformen
Nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg (1914-1918), der damit verbundenen desolaten finanziellen Lage und der Gründung der Weimarer Republik 1919 wurden die öffentlichen Finanzen in Deutschland grundlegend umgestaltet. Ein Meilenstein waren die Erzbergerschen Steuerreformen von 1919/20, benannt nach dem damaligen Finanzminister Matthias Erzberger (1875-1921). Durch sie wurden die vielen parallel nebeneinander existierenden Einkommensteuern der Länder vereinheitlicht, der Finanzföderalismus wurde durch einen Unitarismus [= Streben nach einem Einheitsstaat bzw. danach, innerhalb eines Staatenbundes die zentrale Macht zu stärken] ersetzt. Der zentralstaatliche Behördenapparat konnte mit dem dreistufigen System des Reichsfinanzministeriums auf der ersten, den Landesfinanzämtern auf der zweiten und den örtlichen Finanz- oder Hauptzollämtern auf der dritten Ebene effizienter auf Vermögen und Einkommen der Bürgerinnen und Bürger zugreifen.
Die Steuersätze stiegen erheblich bis zu einem Spitzensteuersatz von 60 Prozent. Die Einnahmen aus diesen direkten Steuern wurden nun zwischen den Ländern und der Republik aufgeteilt. Zudem „erfand“ Erzberger die Körperschaftsteuer für Unternehmen. Die Einkommensteuer wurde zur bedeutendsten Einnahmequelle des Reiches. An zweiter Stelle folgte die Allphasen-Bruttoumsatzsteuer, die erst 1968 in die heutige Umsatzsteuer umgewandelt wurde.
QuellentextSteuern im Nationalsozialismus
Die nationalsozialistische Steuerpolitik basierte auf dem Steuersystem der Weimarer Zeit; die Nationalsozialisten ließen das Steuersystem in seinen Grundzügen zunächst unangetastet. Das Fortbestehen des Steuersystems war eine wichtige Voraussetzung zur Herrschaftssicherung. Die Finanzpolitik des NS-Regimes diente vor allem der Wirtschaftsbelebung, war aber recht bald schon durch die Kriegsvorbereitungen Hitlers und die Aufrüstung geprägt. Bereits mit der sogenannten Reinhardtschen Steuerreform von 1934 war das Steuerrecht unter den Einfluss der nationalsozialistischen Ideologie geraten. Die Steuerverwaltung wurde ausgebaut und ihre Stellung gegenüber den Steuerpflichtigen gestärkt. Gleiches galt für die Rechtsprechung, die nach dem Motto in dubio pro fisco (im Zweifel für den Fiskus) urteilte. Spätestens seit 1939 wurde die Finanzpolitik in den Dienst der allgemeinen Kriegsführung gestellt. Die steuerliche Belastung der Bürgerinnen und Bürger, aber auch die Verschuldung des Reichs stieg während des Zweiten Weltkriegs (1939-1945) steil an.
Zudem wurden die Finanzbehörden direkt in die NS-Verfolgungspolitik eingebunden: Sie sorgten für die „Verwertung“ des Vermögens der deportierten Jüdinnen und Juden. Durch die unrechtmäßige Enteignung der jüdischen Bevölkerung flossen dem Reich ebenso neue Geldmittel zu wie durch die „Reichsfluchtsteuer“, mit der sich Emigranten ihre Ausreise erkaufen mussten. Die Politik der wirtschaftlichen Enteignung mittels Steuern wurde mit der „Judenvermögensabgabe“ fortgesetzt.
Das Bundesfinanzministerium hat 2009 eine unabhängige Historikerkommission eingesetzt, um die Arbeit des Reichsfinanzministeriums in der Zeit des Nationalsozialismus zu untersuchen. Die Ergebnisse der Kommission sind auf der Internetseite Externer Link: https://www.reichsfinanzministerium-geschichte.de/ nachzulesen.
Constanze Elter
Zwei Staaten – zwei (Steuer-)Systeme
Das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland legte 1949 das Fundament für eine neue Finanzverwaltung und -gerichtsbarkeit. Die finanziellen Hoheitsrechte wurden zwischen Bund und Ländern aufgeteilt; es entstanden getrennte Finanzverwaltungen des Bundes und der Länder. Der erste Bundesminister der Finanzen, Fritz Schäffer (1888-1967), sah sich 1949 noch mit den Folgen des Zusammenbruchs konfrontiert. Erst nachdem diese beseitigt waren, konnte er sich den neuen fiskalpolitischen Herausforderungen stellen, die in erster Linie darin lagen, den Geldwert durch eine strenge Ausgabenpolitik zu sichern und durch konsequente Steuersenkungen die Wirtschaft zu beleben.
1953 unterbreitete der Wissenschaftliche Beirat des Bundesfinanzministeriums – ein politisch unabhängiges Gremium von Wissenschaftlern – Schäffer Vorschläge für eine umfassende, auf das ganze Wirtschafts- und Gesellschaftssystem abgestimmte Steuerreform. Diese organische Steuerreform wurde jedoch nie umgesetzt. Der Grund: Sie wäre angesichts der erheblichen ökonomischen Anpassungsprozesse, die sie ausgelöst hätte, kaum zu verantworten gewesen. An ihre Stelle traten permanente Steuerreformbemühungen, in die die Ziele des organischen Steuersystems einflossen und die bis heute ein Merkmal der Finanzgeschichte der Bundesrepublik Deutschland geblieben sind.
Mit der Umsatzsteuerreform zum 1. Januar 1968 löste die Mehrwertsteuer mit Vorsteuerabzug die Allphasen-Bruttoumsatzsteuer ab. 1969 wurde die deutsche Finanzverfassung weiterentwickelt: Das Finanzreformgesetz ordnete die finanziellen Beziehungen zwischen Bund und Ländern neu. Mit der Haushaltsreform wurde das teilweise veraltete Haushaltsrecht den Bedürfnissen einer modernen Finanzwirtschaft angepasst.
Die DDR als in ihrem ideologischen Selbstverständnis neuer Staat knüpfte auch in ihrer Finanzgeschichte nicht an alte Traditionen an, wie es die Bundesrepublik tat. Ein Großteil der Produktionsmittel war Staatseigentum, die Wirtschaft wurde durch Mehrjahrespläne zentral gelenkt. Haupteinnahmequelle des Haushalts waren die Abgaben der sogenannten Volkseigenen Betriebe (VEB). Steuern der Bevölkerung und privater Betriebe spielten im Vergleich dazu kaum eine Rolle. Finanzämter gab es in der DDR bereits seit 1952 nicht mehr. Für die Finanzplanung war das Ministerium für Finanzen zuständig, sowohl was die Einnahmen- als auch was die Ausgabenseite anging. Im Bereich des Außenhandels arbeiteten der Zoll, das Ministerium für Außenhandel und die Grenz- und Kontrollbehörden eng zusammen.
(Wieder-)Vereinigtes Steuersystem
Die Wiedervereinigung 1990 stellte die deutsche Finanzpolitik und den Haushalt vor große Herausforderungen. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung kommt in einer Bilanz zu dem Schluss, dass bereits direkt nach dem Mauerfall 1989 klar wurde, dass Wirtschaftsreformen und eine völlige Neugestaltung des öffentlichen Sektors im Osten Deutschlands unumgänglich waren. Zunächst ging man davon aus, dass getrennte Wirtschaftsgebiete in den zwei Staaten auf Jahre weiter bestehen könnten. Doch schon zu Jahresbeginn 1990 wurde deutlich, dass aufgrund der „drohenden politischen und wirtschaftlichen Destabilisierung“ – so Stefan Bach und Dieter Vesper im Band „Finanzpolitik und Wiedervereinigung“ – ein anderer Weg gegangen werden musste.
So schlug die Bundesregierung eine Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion vor, die nach den Volkskammerwahlen im März 1990 vorbereitet wurde. Damit wurden die öffentlichen Haushalte der DDR den Haushaltsstrukturen der Bundesrepublik angepasst. Die DDR musste sich bei der Gestaltung des Steuersystems an bundesdeutschen Prinzipien orientieren – auch mit Blick auf Haushaltsordnung und Haushaltsgrundsätze.
QuellentextVertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik
Kapitel V Bestimmungen über den Staatshaushalt und die Finanzen
1. Abschnitt Staatshaushalt
Art 26 Grundsätze für die Finanzpolitik der Deutschen Demokratischen Republik
1) Die öffentlichen Haushalte in der Deutschen Demokratischen Republik werden von der jeweiligen Gebietskörperschaft grundsätzlich in eigener Verantwortung unter Beachtung der Erfordernisse des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts aufgestellt. Ziel ist eine in die marktwirtschaftliche Ordnung eingepaßte Haushaltswirtschaft. Die Haushalte werden in Einnahmen und Ausgaben ausgeglichen. Alle Einnahmen und Ausgaben werden in den jeweiligen Haushaltsplan eingestellt.
(2) Die Haushalte werden den Haushaltstrukturen der Bundesrepublik Deutschland angepaßt. Hierzu werden, beginnend ab der Errichtung der Währungsunion mit dem Teilhaushalt 1990, aus dem Staatshaushalt insbesondere die folgenden Bereiche ausgegliedert:
der Sozialbereich, soweit er in der Bundesrepublik Deutschland ganz oder überwiegend beitrags- oder umlagenfinanziert ist,
die Wirtschaftsunternehmen durch Umwandlung in rechtlich und wirtschaftlich selbständige Unternehmen,
die Verkehrsbetriebe unter rechtlicher Verselbständigung,
die Führung der Deutschen Reichsbahn und der Deutschen Post als Sondervermögen.
Auszug aus: „Vertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik“ vom 18. Mai 1990. Online: Externer Link: https://www.gesetze-im-internet.de/wwsuvtr/WWSUVtr.pdf
Der Fonds „Deutsche Einheit“, ein Sondervermögen des Bundes, das die sozialen und wirtschaftlichen Entwicklungen finanzieren und abfedern sollte, musste schon bald aufgestockt werden. Dass Steuererhöhungen nicht erforderlich seien, stellte sich als Fehlannahme heraus, wie das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung in seiner Bilanz herausarbeitet. Die Zahl der Arbeitslosen wuchs, die Finanzierungsdefizite wurden größer. Der Solidaritätszuschlag wurde 1991 als Ergänzungsabgabe zur Einkommensteuer eingeführt – zunächst auf ein Jahr befristet. 1993 folgte eine Erhöhung des Mehrwertsteuersatzes von 14 auf 15 Prozent. Auch die Beiträge zur Sozialversicherung stiegen. Das wiederum führte zu einer Debatte über mangelnde Steuergerechtigkeit, da die unteren und mittleren Einkommensschichten vergleichsweise mehr Steuerlast zu tragen hätten.
In den folgenden Jahren prägten Debatten um gerechte Verteilung, Vereinfachung des Steuersystems in ganz Deutschland oder den Abbau von Subventionen die politische Landschaft und füllten so manchen Wahlkampf. Grundlegende Änderungen wurden immer wieder diskutiert. Finanzwissenschaftlerinnen und Finanzwissenschaftler sowie Politikerinnen und Politiker aller Parteien legten Vorschläge für eine organische Reform, also eine komplette Umgestaltung des Systems, vor. Sie spielen in der tagespolitischen Debatte wiederkehrend eine große Rolle. Umgesetzt worden sind sie bis heute aber nicht.
QuellentextBeispiel einer aktuellen Debatte: Besteuerung von Hochvermögenden
[…] Kaum ein Land in der Welt besteuert Arbeit stärker und Vermögen geringer als Deutschland. Die Behauptung des Bundesfinanzministers, Deutschland sei ein Hochsteuerland, ist zwar teilweise zutreffend: Vor allem Menschen mit mittleren und geringen Einkommen zahlen im internationalen Vergleich mit die höchsten Steuern und Abgaben auf ihr Arbeitseinkommen. Für Spitzenverdienerinnen und Spitzenverdiener gilt das aber weniger. Viele andere Länder, zum Beispiel auch Frankreich, besteuern Spitzenverdiener stärker. Betrachtet man die steuerliche Belastung von Hochvermögenden, ist Deutschland geradezu ein Niedrigsteuerland. [Als Hochvermögende gelten Menschen, die über ein Nettogeldvermögen von mindestens einer Million Euro verfügen, Anm. d. Red.].
So nimmt der deutsche Staat jedes Jahr nur knapp ein Prozent der Wirtschaftsleistung, oder knapp 40 Milliarden Euro, an vermögensbezogenen Steuern ein. Im Vergleich: Die USA, Frankreich oder Großbritannien haben drei- bis viermal so hohe Steuereinnahmen auf Vermögen. Wenn Deutschland private Vermögen genauso stark besteuern würde wie diese drei Länder, dann hätte der Staat jedes Jahr 100 Milliarden Euro an zusätzlichen Einnahmen. Die fehlenden 17 Milliarden Euro Bundeshaushalt sind also ein Klacks im Vergleich dazu.
Das Beispiel dieser drei Länder – und vieler anderer Industrieländer – räumt auch den Einwand aus, eine stärkere Besteuerung von Vermögen verursache einen wirtschaftlichen Schaden oder eine Kapitalflucht aus Deutschland. Deutschland ist nicht Opfer im globalen Unterbietungswettbewerb bei der Besteuerung von Superreichen, sondern eher Täter und Mitverursacher.
Denn die Steuervermeidung von Hochvermögenden ist hierzulande ein schwerwiegendes Problem […]. Wichtig ist es […], zwischen Steuervermeidung (welche legal ist) und Steuerhinterziehung (welche illegal ist) zu unterscheiden. Die Ursache für die geringen Steuereinnahmen bei Hochvermögenden in Deutschland liegt nicht daran, dass es wenige Hochvermögende in Deutschland gibt, sondern dass sowohl die Steuersätze auf Vermögen gering sind als auch Steuervermeidung oft sehr einfach ist.
Der neue Jahresbericht der UBS zu Hochvermögenden zeigt, dass Deutschland weltweit bei der Anzahl von sehr Wohlhabenden – hier definiert als Personen mit einem Vermögen von umgerechnet mehr als 50 Millionen US-Dollar – hinter den USA und China an dritter Stelle liegt. Auch gibt es ungewöhnlich viele Milliardäre in Deutschland, nämlich 109 im Vergleich zu 34 in Frankreich. Während viele Bürgerinnen und Bürger, vor allem mit geringen Einkommen, unter Pandemie und Energiekrise gelitten haben, gehören Hochvermögende eher zu den Gewinnern. Ihr Vermögen wächst, auch wegen der steigenden Aktienmärkte, die durch eine expansive Geldpolitik befeuert werden – der deutsche Aktienindex Dax hat gerade wieder einmal ein neues Rekordhoch erreicht.
Nun mag mancher an dieser Stelle einwerfen, es handele sich lediglich um eine Neiddebatte, denn was ist dagegen einzuwenden, wenn unternehmerisch und innovativ denkende Menschen wie Elon Musk durch ihre Erfindungen viele Milliarden Euro oder US-Dollar an Vermögen anhäufen? Auch hierauf hat die UBS-Studie eine Antwort: Über das vergangene Jahr wurde der größte Zuwachs bei den Milliardären nicht durch Unternehmertum, sondern durch Erbschaften erzielt. Glück und nicht Leistung sind die wichtigste Erklärung für großen Reichtum. Knapp 60 Prozent aller privaten Vermögen in Deutschland wurden nicht durch eigener Hände Arbeit erwirtschaftet, sondern durch Erbschaften oder Schenkungen erzielt.
Der Kernpunkt ist: Eine auch nur moderat höhere Besteuerung von Vermögen würde dem deutschen Staat deutlich höhere Einnahmen ermöglichen, die für Investitionen in Bildung, Klimaschutz, eine leistungsfähige Infrastruktur und Innovationsfähigkeit zur Verfügung gestellt werden könnten. So könnten die Ausnahmen und Privilegien bei Erbschaften für Hochvermögende reduziert werden. 300 bis 400 Milliarden Euro werden in Deutschland jedes Jahr verschenkt oder vererbt, der Staat nimmt jedoch nur knapp zehn Milliarden Euro an Erbschaftssteuern ein. Dabei sind große Erbschaften von Unternehmen häufig ausgenommen und werden überhaupt nicht besteuert. Eine Abschaffung dieser Ausnahmen könnte erheblich zusätzliche Steuereinnahmen generieren und die Besteuerung könnte so gestreckt werden, dass die Unternehmen nicht in ihrer Existenz bedroht sind.
Ähnliches gilt für die Besteuerung von Immobiliengewinnen, die allzu häufig in Deutschland komplett steuerfrei sind. Eine Vermögensteuer oder einmalige Vermögensabgabe, also auf Finanzvermögen, wie von manchen bevorzugt, ist eine Alternative. Sie hat jedoch viele Nachteile, da die notwendigen Informationen erst erhoben werden müssten und Ausweichreaktionen hervorrufen könnten.
[…] Manche Politiker fordern vehement eine Kürzung sozialer Leistungen, vor allem bei Bürgergeld und Rente – und die Bundesregierung will in der Tat mindestens 1,5 Milliarden Euro an Sozialausgaben kürzen. Sicherlich gibt es vereinzelt Missbrauch bei der Inanspruchnahme von Sozialleistungen, auch wenn es wichtig ist zu betonen: Die überwältigende Mehrheit der Empfängerinnen und Empfängern ist ehrlich und verlässlich. Die Kosten davon belaufen sich nach sehr groben Schätzungen auf knapp 60 Millionen Euro im Jahr, das mag viel erscheinen, ist aber verglichen mit anderen Summen sehr wenig. Denn Schätzungen zeigen, dass dem deutschen Staat jedes Jahr knapp 100 Milliarden Euro an Steuereinnahmen durch Steuervermeidung vor allem von Hochvermögenden entgehen. […]
Marcel Fratzscher, „Superreiche könnten leicht die Haushaltslücke schließen“, in: ZEIT ONLINE vom 22. Dezember 2023. Online: Externer Link: https://www.zeit.de/wirtschaft/2023-12/steuern-superreiche-haushaltskrise-finanzierung