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Wirtschaftspolitik und gesellschaftliche Grundwerte

Hans-Jürgen Schlösser

/ 16 Minuten zu lesen

Freiheit - neben Gerechtigkeit, Sicherheit und Fortschritt spielt dieser gesellschaftliche Grundwert eine besondere Rolle für die Wirtschaftspolitik. (Toni_V) Lizenz: cc by-sa/2.0/de

Wirtschaftspolitisch handeln heißt, eine Wahl treffen

Stellen wir uns einen Gemeinderat vor, der 250 000 Euro zur Verfügung hat und darüber beschließen muss, wofür er sie ausgibt. Soll die Schule ausgebaut oder besser ein neues Feuerwehrauto angeschafft werden? Wäre vielleicht die Erschließung eines Gewerbegebiets wichtiger? Oder die Ausweisung eines Naturschutzgebietes?

Die Geldsumme kann nur einmal ausgegeben werden, und wer auswählt, wozu die Gelder verwendet werden sollen, muss auch die Alternativen bewerten. Gegenstand der Bewertung sind nicht die verfügbaren Mittel wie Geld oder Boden, sondern Ziele: Bildung (Schule), Sicherheit (Feuerwehr), Einkommen (Gewerbegebiet) oder Umweltschutz. Wird die Feuerwehr ausgebaut, um mehr Sicherheit zu gewinnen, so können nicht gleichzeitig die Bildungsmöglichkeiten für die Kinder verbessert werden. Entscheidet man sich für das eine, so muss man auf das andere verzichten.

Ist Sicherheit wichtiger als Bildung? Die Antwort könnte davon abhängen, ob die Feuerwehr vielleicht schon gut ausgestattet ist, während sich die Schule in miserablem Zustand befindet. Dann bringt ein weiteres Feuerwehrauto keinen großen Zuwachs an Sicherheit, aber der Ausbau der maroden Schule fördert die Bildungsmöglichkeiten in der Gemeinde. Jeder Wahlentscheidung liegt demnach eine Wertung zugrunde, und die Wirtschaftspolitik orientiert sich dabei an gesellschaftlichen Grundwerten.

Grundwerte und Verfahrensregeln

In freiheitlichen und demokratischen Gesellschaften schreibt der Staat den einzelnen Bürgerinnen und Bürgern keine individuellen Werte vor: Wie ein "richtiges" und "gutes" Leben zu gestalten ist, dürfen sie jeweils für sich selbst entscheiden. Stattdessen beschränkt sich die Politik auf Regeln und Grundwerte, zu denen in der Gesellschaft allgemeine Zustimmung herrscht. Jede Gesellschaft braucht eine derartige Übereinstimmung über Grundwerte, sonst verliert sie ihre Stabilität, und ohne einen solchen "Konsens" kann Politik das gesellschaftliche Zusammenleben nicht gestalten.

Für die Wirtschaftspolitik spielen folgende gesellschaftliche Grundwerte eine besondere Rolle:

  • Freiheit,

  • Gerechtigkeit,

  • Sicherheit,

  • Fortschritt.

Rechtsstaat und Sozialstaat

Genauso wichtig sind die Prinzipien Demokratie und Rationalität. Sie geben vor, wie in der Wirtschaftspolitik verfahren wird: Entscheidungen sollen auf demokratische Weise zustande kommen und von der Vernunft geleitet sein. Es handelt sich daher um "Verfahrensnormen". Die gesellschaftlichen Grundwerte können als Oberziele jeder Politik angesehen werden. Wirtschaftspolitik und wirtschaftspolitische Ziele im engeren Sinne - wie zum Beispiel Vollbeschäftigung und Preisstabilität - dienen letztlich dazu, diese gesellschaftlichen Grundwerte zu verwirklichen.

QuellentextWerturteile in Wissenschaft und Politik

Gesellschaftliche Grundwerte finden sich zum Beispiel im Grundgesetz, in Gesetzestexten, in politischen Programmen sowie in Reden von Parlamentariern, Regierungsvertretern oder anderen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens. Grundwerte stellen Werturteile dar und unterscheiden sich damit von Sachurteilen:

  • Sachurteile sind Aussagen über Erkenntnisse und Informationen. Sie beziehen sich auf das, was ist, und wollen erklären, warum die Wirklichkeit so ist, wie sie ist, zum Beispiel, wie Arbeitslosigkeit entsteht.

  • Werturteile beziehen sich dagegen auf das, was sein soll. Sie formulieren Bekenntnisse und Appelle und beinhalten eine Stellungnahme, wie beispielsweise: "Die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit sollte das wichtigste Ziel der Wirtschaftspolitik sein".

Die Wirtschaftswissenschaftler früherer Jahrhunderte haben Sach- und Werturteile vermischt: Sie beschrieben die Realität, stellten Theorien über ökonomische Zusammenhänge auf (= Sachurteile) und gaben gleichzeitig Empfehlungen zur Gestaltung der Wirtschaft (= Werturteile). Zu Beginn des 20. Jahrhunderts erhob der deutsche Soziologe und Philosoph Max Weber (1864-1920) dagegen die Forderung, Sachurteile und Werturteile zu trennen.
Nach seiner Ansicht kann Wissenschaft nicht vorgeben, was getan werden soll, sondern nur aufzeigen, welche Mittel zur Verwirklichung welcher Ziele taugen. Werturteile bleiben der Politik vorbehalten, die entscheiden muss, welche Ziele angestrebt werden sollen. Wenn es zum Beispiel einen Konflikt zwischen den Zielen Vollbeschäftigung und Preisstabilität gibt, dann muss die Politik festlegen, welches Ziel in der gegebenen Situation als wichtiger anzusehen ist. Die Wissenschaft kann die Politik dabei auf der Grundlage der jeweils vorgenommenen Bewertung beraten.
Heute hat sich Max Webers Auffassung weitgehend durchgesetzt, wenngleich sie nie gänzlich unumstritten geblieben ist. Das liegt auch daran, dass es im konkreten Einzelfall keineswegs einfach ist, Wert- und Sachurteile auseinanderzuhalten. Dies ist aber sehr wichtig, wenn man zum Beispiel versteckte Beeinflussung, also Manipulation, erkennen will: Wer Werturteile als Sachurteile "tarnt", erweckt den Eindruck, eine Aussage sei wissenschaftlich begründet und daher "objektiv wahr", obwohl es sich tatsächlich um ein Werturteil handelt, das man teilen mag oder auch nicht. Es muss erkennbar sein, welche Aussagen Werturteile und welche Sachurteile sind. Dies ist die Forderung nach "Werttransparenz". Zum Beispiel könnte sich hinter der Aussage, der internationale Handel gefährde Arbeitsplätze in Deutschland und müsse deshalb beschränkt werden, ein Werturteil zugunsten von nationaler Autarkie verstecken, die einer modernen, arbeitsteiligen Weltwirtschaft nicht angemessen ist. Das Werturteil würde so durch eine scheinbar ökonomische Sachaussage getarnt.

Hans-Jürgen Schlösser

Freiheit

Freiheit bedeutet, dass der Einzelne sein Leben selbst gestalten, nach seinem Willen und in frei verantworteter, eigener Entscheidung nach Glück und Erfolg streben kann. Zur Freiheit gehören allerdings auch die Möglichkeit zu scheitern und die Pflicht, die Folgen des Scheiterns selbst zu tragen und zu verantworten, soweit der Einzelne dazu in der Lage ist.

Da individuelles Handeln Konsequenzen für andere haben kann, beschränkt die Ausübung der Freiheit des einen möglicherweise die Freiheit von anderen. In allen Gesellschaften, für die Freiheit ein Grundwert ist, entstehen daraus immer wieder Interessengegensätze. Artikel 2 Grundgesetz (GG) lautet daher: "Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt?"

Eine Möglichkeit, solchen Verletzungen der Rechte anderer vorzubeugen, besteht darin, Persönlichkeits- und Eigentumsrechte festzulegen und abzugrenzen. Dazu gehören zum Beispiel das Recht darauf, nicht durch Umweltverschmutzung und Lärm gefährdet oder belästigt zu werden, das Recht, andere vom Gebrauch fremden Eigentums auszuschließen, aber auch das Recht auf Sozialleistungen und auf die Teilnahme an politischen Wahlen. Eigentumsrechte eröffnen somit Handlungsmöglichkeiten und schützen vor Übergriffen. Sie werden durch Gesetze und Rechtsprechung gestützt und gesichert, aber auch durch Sitten und Gewohnheiten.

Das wichtigste Eigentumsrecht ist das Recht auf Leib und Leben. Es jemandem zu rauben, gilt als das schwerste Verbrechen überhaupt. In Artikel 2 GG heißt es daher weiter: "Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich".

Die Wirtschaftspolitik berührt dieses fundamentale Eigentumsrecht an Leib und Leben nicht, denn sie tötet und verletzt niemanden direkt. Allerdings kann beispielsweise eine Wirtschaftspolitik, die Armut erzeugt, indirekt zur Gefährdung von Leib und Leben führen. Viele wirtschaftspolitische Probleme gehen vielmehr darauf zurück, dass andere Eigentumsrechte fehlen oder fehlerhaft ausgestaltet sind. Ein Beispiel dafür ist das Verfügungsrecht über die Umwelt. Wenn keine Eigentumsrechte definiert sind, kann jeder die natürlichen Ressourcen nach Belieben (über)nutzen. Belastet ein Haushalt oder ein Unternehmen beispielsweise die Luft, die "niemandem gehört", hat das letztlich negative Konsequenzen für andere.

Weitere Beispiele lassen sich im Alltag beobachten: Jemand, der einen Balkon oder einen Garten besitzt, sollte die Freiheit, also das Eigentumsrecht, haben, ihn nach eigenem Willen zu benutzen und andere davon auszuschließen, wenn er das möchte. Aber sollte dieses Eigentumsrecht auch die Freiheit beinhalten, zu jeder Tages- und Nachtzeit zu grillen oder laute Musik zu hören?

Ein wesentlicher Bereich der Wirtschaftspolitik, die "Ordnungspolitik", befasst sich daher mit der Ausgestaltung von Eigentumsrechten und Institutionen, die entsprechende Probleme des wirtschaftlichen Zusammenlebens behandeln. Beispiele dafür sind Regelungen zum Schutz des Privateigentums und seiner sozialen Bindung, die Gewährung von Autonomierechten wie der Tarifautonomie am Arbeitsmarkt und die Wettbewerbspolitik mit ihrem Kartellverbot. In allen diesen Fällen geht es darum, die "Spielregeln" für das Wirtschaftsleben entsprechend den Grundwerten und den Zielen der Wirtschaftspolitik festzulegen.

Häufig wird Freiheit auch negativ definiert, als Abwesenheit von unangemessenen Zwängen. Wir sprechen dann von "formaler" Freiheit. Ein Beispiel ist die Reisefreiheit, die in der DDR stark beschränkt war - die Menschen durften nicht nach eigenem Willen ausreisen. Mit dem Fall der Mauer erhielten die DDR-Bürgerinnen und -Bürger dann Reisefreiheit als formale Freiheit. Diejenigen, denen die Mittel für Reisen fehlten, mussten aber trotz formaler Reisefreiheit im Land bleiben. Die Freiheit, seinen Entschluss auch umsetzen zu können, nennt sich im Gegenzug "materiale" Freiheit.

In freiheitlichen Gesellschaften ist unbestritten, dass der Staat formale Freiheit garantieren muss. Aber ist er auch verpflichtet, die materiale Freiheit zu gewährleisten? Oder anders gesagt: Ist Freiheit nur dann etwas wert, wenn man sie auch nutzen kann? Gegen das Argument, eine formale Freiheit, die man nicht wahrnehmen könne oder wolle, sei nicht viel wert, lässt sich vorbringen, dass sich eine staatliche Garantie materialer Freiheit nicht einlösen lässt. Andernfalls müsste der Staat seine Bürgerinnen und Bürger bevormunden, indem er festlegt, welche Wünsche es wert sind, verwirklicht zu werden, und welche nicht. Solche Fragen spielen in der Sozialpolitik eine wichtige Rolle, zum Beispiel bei der Bemessung der Sozialhilfe. Diese soll das Existenzminimum und die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben im Sinne materialer Freiheit gewährleisten. Dafür ist es allerdings unvermeidlich, dass der Staat bestimmt, wie sich der Warenkorb zusammensetzt, dessen Konsum den Sozialhilfeempfängern ermöglicht werden soll.

Bedeutsam für die Ausrichtung der Wirtschaftspolitik ist auch, ob Freiheit als Selbstzweck angesehen wird. Wird jemand, der gar nicht ins Ausland reisen will, durch ein Reiseverbot schlechter gestellt? Wird jemand, der sich keine Reise leisten kann, durch die Reisefreiheit besser gestellt?

Ein Urteil des Europäischen Gerichtshofes, das in Deutschland kontrovers diskutiert wurde, erlaubt, dass in Deutschland Bier angeboten werden darf, welches nicht nach dem Reinheitsgebot von 1516 gebraut worden ist. Dies war bis dahin untersagt. Nach einem entsprechenden Urteil, das in Italien für Aufregung sorgte, dürfen dort auch Spaghetti verkauft werden, die nicht aus Hartweizengries bestehen. Deutsche und Italiener, die kein ausländisches Bier oder ausländische Nudeln kaufen wollen, könnten einwenden, dass ihnen die Freiheiten, welche die Urteile eröffnen, nichts wert sind, weil sie diese gar nicht nutzen wollen. Jemand, der Freiheit als Wert an sich ansieht, wird jedoch eine zusätzliche Möglichkeit immer als Gewinn ansehen, unabhängig davon, ob er sie in Anspruch nimmt oder nicht.

Gerechtigkeit

Jeder Einzelne hat sich in seinem Leben gewiss schon einmal ungerecht behandelt gefühlt, sei es in der Schule, von Freunden, am Arbeitsplatz, von den Eltern - besonders Geschwister kennen das Gefühl. Offensichtlich gibt es eine Neigung, also eine "Präferenz" für Fairness. Und Menschen sind auch dazu bereit, Opfer zu bringen, um Gerechtigkeit zu erlangen.

Die experimentelle Wirtschaftswissenschaft hat in den letzten Jahren gezeigt, dass Menschen durchaus ein niedrigeres Einkommen einem höheren Einkommen vorziehen, wenn sie dafür das Gefühl haben, gerecht behandelt zu werden. Es konnte nachgewiesen werden, dass Versuchspersonen, denen Geldzahlungen in Aussicht gestellt wurden, zufriedener waren, wenn die Verteilung der Gelder auf die verschiedenen Teilnehmer des Experiments aus ihrer Sicht gerecht erfolgte. Versuchspersonen, die höhere Zahlungen erhielten, sich aber gegenüber anderen Personen benachteiligt fühlten, waren dagegen trotzdem unzufrieden.

Ungerechtigkeit lässt aber nicht allein persönliche Verbitterung aufkommen, sondern sie führt auch dazu, dass die Gesellschaft insgesamt ihre Stabilität und ihren Zusammenhalt verliert. Daher gehört Gerechtigkeit zu den gesellschaftlichen Grundwerten, und die Wirtschaftspolitik soll nach Gerechtigkeit streben.

Gerechtigkeit hängt zugleich eng mit Gleichheit zusammen, Ungerechtigkeit beinhaltet immer Ungleichheit; Ungleichheit muss aber umgekehrt nicht immer Ungerechtigkeit bedeuten. Wie beim Grundwert Freiheit zwischen materialer und formaler Freiheit unterschieden wird, so lässt sich auch beim Grundwert Gerechtigkeit eine Unterscheidung treffen.

Bei der Verfahrensgerechtigkeit geht es darum, dass gleiches Verhalten gleich behandelt werden muss. Die wichtigste Ausprägung der Verfahrensgerechtigkeit ist die Gleichheit vor dem Gesetz, das für ausnahmslos alle gilt. Das versteht man unter Rechtsstaatlichkeit. Niemand darf schlechter behandelt werden als ein anderer, der das Gleiche tut und anstrebt - eben dies bedeutet das Verbot von "Diskriminierung". Verhaltensgerechtigkeit meint damit auch: gleiche formale Freiheit für alle. Es geht um einen moralischen Maßstab, um eine "Norm" zur Beurteilung des Verhaltens gegenüber anderen.Ein historisches Beispiel für Verfahrensgerechtigkeit stellt Artikel 6 der 1789 von der französischen Nationalversammlung beschlossenen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte dar: "Das Gesetz ist der Ausdruck des allgemeinen Willens. Alle Bürger haben das Recht, persönlich oder durch ihre Vertreter an seiner Schaffung mitzuwirken. Es muss für alle gleich sein, mag es nun beschützen oder bestrafen. Alle Bürger sind vor seinen Augen gleich. Sie sind in der gleichen Weise zu allen Würden, Stellungen und öffentlichen Ämtern zugelassen, je nach ihrer Fähigkeit und ohne andere Unterschiede als ihre Tüchtigkeit und Begabung."

Bei der Verteilungsgerechtigkeit geht es indessen um eine Norm zur Beurteilung von gesellschaftlichen Stellungen, zum Beispiel eine gerechte Verteilung von Einkommen und Besitz zwischen Personen und Gruppen. Dahinter steht die Erkenntnis, dass die Wahrnehmung von Rechten, die für alle gleich sind, nicht für alle zu gleichen wirtschaftlichen Ergebnissen führt. Folglich steht die Verteilungsgerechtigkeit in einem Zusammenhang mit der materialen Freiheit.

So hat auch die Gerechtigkeit zwei Dimensionen: eine Verfahrensdimension und eine Verteilungsdimension. Führt Gleichbehandlung zu ungleichen wirtschaftlichen Ergebnissen, dann erfordert die Angleichung der wirtschaftlichen Ergebnisse durch die Wirtschaftspolitik ein Abweichen von der Gleichbehandlung. Ein Beispiel dafür stellt die Förderung wirtschaftlich schwacher Regionen durch die deutsche und die europäische Strukturpolitik dar. Unternehmen, die in solchen Regionen tätig sind, erhalten Beihilfen und Vergünstigungen, andere Unternehmen dagegen nicht. Die Ungleichbehandlung hat also die Angleichung der wirtschaftlichen Ergebnisse zum Ziel.

Verteilungsgerechtigkeit und Verfahrensgerechtigkeit können in Konflikt geraten, und damit auch die Grundwerte Gerechtigkeit und Freiheit. Lassen sich keine Kompromisse finden, so wird der Konflikt zum Dilemma der Wirtschaftspolitik: Sie ist dann in der Zwangslage, zwischen zwei gleichermaßen ungewollten Ergebnissen wählen zu müssen.

QuellentextNeue Diskussion um Gerechtigkeit

Würden wir Josef Ackermann, den Chef der Deutschen Bank, sympathischer finden, wenn er dieses Jahr statt 11,9 Millionen Euro nur, sagen wir, neun Millionen bekäme? Oder drei? Wäre das dann gerecht? Angemessen?
Die Leipziger Maler Neo Rauch und Matthias Weischer, derzeit Lieblinge des Kunstmarkts, bekommen für ihre Bilder bis zu 400000 beziehungsweise 300 000 Euro. Ihre Galeriekollegen freuen sich über ein Zehntel solcher Preise. Ist das gerecht?
Worüber wir uns empören, ist nicht Ungleichheit per se. Unter bestimmten Umständen wird in einer Gesellschaft selbst wachsende Ungleichheit hingenommen, wie wir aus den Anfangsjahren der Bundesrepublik wissen. Um zu verstehen, was den Glutkern der Empörung der heutigen Gerechtigkeitsdebatten ausmacht, ist es hilfreich, sich an die Theorie der Gerechtigkeit des amerikanischen Denkers John Rawls zu halten. Sein berühmtes "Differenzprinzip" erklärt, unter welchen Bedingungen soziale Ungleichheit als legitim betrachtet wird - nämlich dann, wenn sie am Ende auch den am schlechtesten Gestellten nutzt. "Diejenigen, die mehr Vorteile haben", schreibt Rawls, "müssen das vor denen, die die geringsten Vorteile haben, rechtfertigen können."
Der Frankfurter Philosoph Rainer Forst nennt das "Rechtfertigungsgleichheit". Ebendiese Gleichheit aber wird verletzt, wenn sich heute jene, die mehr beanspruchen, nicht mehr vor denen rechtfertigen können (und wollen), die weniger haben.
Solange die Ordnung der Bundesrepublik durch den "Fahrstuhleffekt" der Wachstumsraten im Ganzen auf immer höhere Niveaus gehoben wurde, war Ungleichheit kein Problem. Sie wurde in den ritualisierten Kämpfen der Sozialpartner bearbeitet, in denen dafür gesorgt wurde, dass es auch "den am schlechtesten Gestellten" kontinuierlich besser ging und die Lebensverhältnisse sich anglichen.
Das ist vorbei. [...] Welche Gruppe als die "am schlechtesten gestellte" erscheint, hängt von dem Gut ab, um dessen Verteilung es jeweils geht. In erster Linie denkt man heute natürlich an die Langzeitarbeitslosen. Aber auch Hauptschüler ohne Chance auf eine Berufsausbildung, junge Leute in prekären Zeitvertragsjobs, ewige Praktikanten ohne Aussicht auf Festanstellung, alleinerziehende Mütter, kinderreiche Familien, am Arbeitsmarkt diskriminierte Migranten, Alte, Kranke und künftige Generationen können jeweils als der benachteiligte Part der gesellschaftlichen Verteilungskämpfe erscheinen.
Dabei liegen die Interessen der neuen Ausgeschlossenen zum Teil nicht nur quer zu denen, die sich heute bei den großen Sozialkonflikten durchsetzen. Sie liegen sogar oft im Konflikt miteinander. Was dem Arbeitsplatzbesitzer nutzt, kann den Ausschluss des Arbeitssuchenden vom Jobmarkt zementieren. Was heute den Rentnern zugute kommt, wird künftigen Generationen fehlen.
An den neuen Konfliktlinien hat sich eine Fülle von neuen Gerechtigkeitsbegriffen gebildet. Die Leerformel "soziale Gerechtigkeit" wird ausdifferenziert in Chancengerechtigkeit, Bedarfsgerechtigkeit, Generationengerechtigkeit, Risikogerechtigkeit, Leistungsgerechtigkeit, Geschlechtergerechtigkeit, Familiengerechtigkeit, Bildungsgerechtigkeit und so fort. In einer komplexen Gesellschaft gibt es viele Sphären der Gerechtigkeit, die nach ihrer eigenen Logik funktionieren. So wird die zunehmende Spaltung durch neue Konflikte überlagert, die nicht mehr nach dem Schema "Ihr da oben, wir hier unten" funktionieren, sondern nach dem Muster von Einschluss und Ausschluss - Insider gegen Outsider.
Unzureichende Grundfertigkeiten, lebenslanges Lernen: Es sind kulturelle Faktoren, die aus Armut und Arbeitslosigkeit ein Leben in Ausgrenzung machen, wie die neuere Sozialforschung zeigt. Schlechte Bildung, fehlende Einbindung in soziale Netzwerke wie Familie, Gemeinde und Nachbarschaft und eine mangelhafte (Selbst-)Wertschätzung gehören zu den wichtigsten Risikofaktoren. Wem es schwer fällt, Kontakt aufzubauen, wem es schwer fällt, zu lernen und sich selbst darzustellen, der fällt dauerhaft aus dem sozialen Leben.
Man spricht daher zu Recht von "Kulturen der Armut und der Abhängigkeit, des Bildungsmangels und der Unselbstständigkeit" (Paul Nolte). Allein durch Umverteilung können die Kulturen der Armut nicht aufgebrochen werden. Sie werden durch materielle Alimentation oft erst recht verfestigt. [...]
Die Debatte darüber, was Gerechtigkeit in einer Gesellschaft der Teilhaber bedeuten kann, hat gerade erst begonnen. Auch eine Gesellschaft wie unsere, die von Verteilungs- auf Teilhabegerechtigkeit umstellt, kommt ohne eine ständige Rechtfertigung nicht aus. Am Ende kann es durchaus einen Plural von Gerechtigkeitssphären geben, nicht aber der Gerechtigkeit.

Jörg Lau, "Das Maß aller Dinge", in: Die Zeit Nr. 14 vom 30. März 2006

In der Wirtschaftspolitik stellt die Steuerpolitik einen Bereich dar, bei dem der Grundwert Gerechtigkeit eine große Rolle spielt. Was ist ein gerechtes Steuersystem? Ein sehr einfaches, das jeder verstehen kann? Dafür spricht, dass ein Steuersystem nicht gerecht ist, wenn es von einem großen Teil der Steuerpflichtigen, die keine Spezialkenntnisse haben und sich keine Steuerberatung leisten können, nicht verstanden wird. Ein einfaches Steuersystem behandelt alle gleich, denn es enthält kaum Ausnahmeregelungen. Aber dann kann es nicht auf die verschiedenen wirtschaftlichen Lagen der Einzelnen eingehen. Versucht die Steuerpolitik, die je unterschiedliche wirtschaftliche Lage der vielen Bürgerinnen und Bürger hingegen zu berücksichtigen, dann kann das Steuersystem so kompliziert werden, dass es nur noch von wenigen verstanden wird, und wer geschickt ist, findet viele Schlupflöcher und Tricks. Das Gleiche gilt auch für das Sozialsystem, zum Beispiel für die wirtschaftliche Unterstützung von in Armut geratenen Menschen. Sollen die unterschiedlichsten Notlagen, in welche Menschen geraten können, in der Sozialpolitik berücksichtigt werden, dann kann das System so kompliziert werden, dass die Betroffenen, für die es gemacht ist, es nicht mehr verstehen. Mit einem komplizierten Sozialsystem entstehen Spielräume für Missbrauch. Ein sehr einfaches Sozialsystem wiederum ist nicht in der Lage, spezielle Notlagen zu berücksichtigen.

Aber auch andere Bereiche der Wirtschaftspolitik, zum Beispiel die Bekämpfung von Arbeitslosigkeit und Inflation oder die internationale Wirtschaftspolitik, berühren den Grundwert Gerechtigkeit. Dazu zählen die Gerechtigkeit zwischen wirtschaftlichen Gruppen, zum Beispiel Arbeitnehmern und Arbeitgebern, zwischen verschiedenen Ländern, zum Beispiel Entwicklungsländern und Industrieländern, und schließlich als "Intergenerative Gerechtigkeit" zwischen den Generationen, zum Beispiel im Hinblick auf den Abbau nicht erneuerbarer Rohstoffe. Verteilungsgerechtigkeit bedeutet im letzten Beispiel, dass die gegenwärtige Generation nicht "auf Kosten" der zukünftigen leben darf. Sie tut dies jedoch, wenn sie in der Gegenwart Rohstoffe verbraucht, die deshalb in der Zukunft nicht mehr zur Verfügung stehen. Verfahrensgerechtigkeit würde bedeuten, dass gegenwärtige und zukünftige Generationen gleich behandelt werden. Die Verfahren finden aber in der Gegenwart statt, und die zukünftigen Generationen sind dabei nicht beteiligt.

Sicherheit

Sicherheit ist ein gesellschaftlicher Grundwert, denn ohne Sicherheit wäre die Gesellschaft ein "Kampf aller gegen alle". Die Gewährleistung von Sicherheit und Frieden ist daher eine vordringliche staatliche Aufgabe. Eine Bedrohung der Sicherheit geht von Konflikten aus. Extreme Beispiele sind Kriege zwischen Staaten, Bürgerkriege und Terrorismus.

In der Wirtschaftspolitik geht es indessen nicht um diese dramatischen Bedrohungen der Sicherheit, sondern um die Konflikte des wirtschaftlichen Lebens. Nicht jeder kann sich durch die Bildung von eigenem Vermögen vor den Risiken von Krankheit, Alter oder Unglücksfällen schützen. Wenn der Staat solchen Schutz bereitstellt, kann er aber auch missbraucht werden. Manch einer mag zum Beispiel denken, er könne darauf verzichten, für seine eigene Altersicherung zu sorgen, wenn andere im Notfall dafür aufkommen.

Wirtschaftliche Sicherheit bedeutet, dass der Einzelne nicht mit der Zerstörung seiner wirtschaftlichen Grundlagen rechnen muss und sicher in die Zukunft blicken kann, um sein Leben zu planen und zu gestalten.

In der Wirtschaftspolitik unterscheiden wir drei Formen von Risiken:

  • Erwerbsunfähigkeitsrisiken entstehen zum Beispiel durch Krankheiten, Unfälle oder durch das Älterwerden.

  • Beschäftigungsrisiken entwickeln sich aus kurzfristigen Konjunkturkrisen, wenn nicht genügend Güter gekauft werden, um alle Betriebe beschäftigt zu halten, oder aber aus langwierigen Strukturkrisen, wenn Branchen oder Regionen einen wirtschaftlichen Niedergang erleiden und nicht genügend neues Wirtschaftswachstum entsteht, um dies auszugleichen. In der Folge verlieren Arbeitskräfte ihre Beschäftigung und Unternehmen gehen Bankrott.

  • Einkommens- und Vermögensrisiken haben ihre Ursachen zum Beispiel in einer Inflation (Geldentwertung), die das Sparvermögen vernichtet, oder darin, dass bestimmte Güter und Berufe am Arbeitsmarkt nicht mehr nachgefragt werden.

Karikatur: Billiglohn

Zusammen führen solche Risiken über die private Vorsorge hinaus zu einem Bedarf an staatlicher Risikovorsorge. Unterschiedliche Auffassungen bestehen dabei darüber, welchen Umfang die Risikovorsorge durch den Staat haben sollte und inwieweit der Einzelne für seine wirtschaftliche Sicherheit selbst verantwortlich ist.

Vollkommene Sicherheit ließe sich nur in einer gänzlich starren, unbeweglichen Volkswirtschaft verwirklichen, denn jede neue Idee und jede Veränderung haben für irgendjemanden neue Unsicherheit zur Folge. Jedes neue Unternehmen, das in den Wettbewerb eintritt, bringt wirtschaftliche Unsicherheit für die bestehenden Unternehmen. Selbst das mittelalterliche Zunftsystem, das stark auf Sicherheit und den Ausschluss von Wettbewerbern ausgerichtet war, blieb nicht frei von wirtschaftlichen Konflikten.

Zwar kann Sicherheit erhöht werden, indem die Verhaltensspielräume für Einzelne und Gruppen eingeschränkt werden, aber dann gerät Sicherheit in Konflikt mit Freiheit. Auch die sozialistischen Volkswirtschaften, zum Beispiel die der Sowjetunion oder der DDR, die Sicherheit hoch und Freiheit niedrig bewertet haben, litten unter wirtschaftlichen Konflikten.

Fortschritt

In den vergangenen Jahrhunderten wuchs das menschliche Wissen über die Natur, die Technik, die eigene Spezies und die Gesellschaft und fand vielfältige Anwendung. Diese Vermehrung und Anwendung von Wissen bezeichnet man als Fortschritt. Er ist eine Voraussetzung für die Bekämpfung von Armut und Krankheit und hat zu mehr Freiheit, Gerechtigkeit und Sicherheit geführt. Deshalb kann Fortschritt selbst als ein gesellschaftlicher Grundwert angesehen werden, den die Wirtschaftspolitik daher anstreben sollte.

Allerdings lässt sich die Frage stellen, ob Fortschritt stets Fortschritt zum Besseren ist. Er enthält auch die Möglichkeit von unvorhergesehenen Folgen und Irrtum. Technische Entwicklungen können sich als gefährlich erweisen oder missbraucht werden. Ein Beispiel ist die Nutzung der Atomenergie.

Gewarnt sei also vor der Einschätzung, alle Probleme dieser Welt ließen sich durch Fortschritt, insbesondere technischen Fortschritt, lösen, zumal die sittliche Entwicklung der Menschen nicht mit der Wissensvermehrung gleichgezogen hat.

Wirtschaftlich schlägt sich Fortschritt in Form neuer Produkte oder neuer Produktionsverfahren nieder. Solche Neuerungen - von "Pionieren" eingeführt - werden dann von anderen imitiert. So verändert der technische und organisatorische Fortschritt schließlich die gesamte Volkswirtschaft. Allerdings gewinnen dabei Einzelne und Gruppen, während andere Einbußen erleiden.

Wirtschaftlicher Fortschritt schafft neue Möglichkeiten, Einkommen zu erwerben. Aber er gefährdet die ökonomische Sicherheit derer, die negativ betroffen sind: Neue Produkte verdrängen die alten, und deren Produzenten verlieren Marktanteile. Durch neue Produktionsverfahren werden neue Berufe geschaffen, aber bestehende berufliche Fähigkeiten und die alten Maschinen werden wertlos.

Daher ist Fortschritt auch Anlass für Konflikte. Die Herkunft des Begriffs "Sabotage" erinnert daran: In der Frühzeit der Industrialisierung warfen französische Arbeiter ihre Holzschuhe, ihre sabots, in die neuen Maschinen, durch die sie ihre Arbeitsplätze gefährdet sahen, um so die Maschinen zu stoppen und zu beschädigen. Fortschritt als Prozess der ständigen Erschaffung von Neuem und der Zerstörung von Altem kann also in Konflikt mit dem Grundwert Sicherheit geraten. Dabei sind die Chancen und Lasten einer Anpassung an den Wandel meist ungleich verteilt. Daraus resultieren mögliche Konflikte mit Gerechtigkeitszielen. Alle gesellschaftlichen Grundwerte zu verwirklichen und auch die möglichen Konflikte zwischen ihnen zu lösen, ist eine äußerst schwierige Aufgabe der Wirtschaftspolitik.

Individualismus als Methode und Norm

Methodologischer Individualismus

Ausgangspunkt für die Untersuchung des gesellschaftlichen Zusammenlebens ist in der Volkswirtschaftslehre der einzelne Mensch, nicht "die Gesellschaft als Ganzes". Nicht sie denkt, fühlt, handelt, sondern das Denken, Fühlen, Handeln ihrer einzelnen Mitglieder bestimmt, was in der Gesellschaft geschieht. Eine solche Untersuchungsmethode, die vom Individuum ausgeht, bezeichnet man als "methodologischen Individualismus". Dieser Forschungsansatz sieht also nicht Kollektive wie Gesellschaften, Parteien, Klassen und Völker als Akteure an, sondern versucht, deren Entwicklung durch die Untersuchung des Verhaltens ihrer einzelnen Mitglieder zu erklären. Diese handeln, treffen Entscheidungen, schließen oder kündigen Bündnisse und beeinflussen sich dabei gegenseitig. Oft wird das Ergebnis ihres Handelns wenig mit dem zu tun haben, was sie ursprünglich gewollt haben. Daran wird der Koordinationsbedarf menschlichen Handelns deutlich: Vernünftiges Handeln aus der Sicht des Einzelnen kann zu einem ungünstigen Ergebnis für die Gesellschaft oder Gruppe insgesamt führen, wenn das Handeln nicht koordiniert wird.

Aus der Sicht des methodologischen Individualismus wird der Mensch nicht durch die Gesellschaft, sondern in der Gesellschaft geformt. Er begegnet nicht der Gesellschaft, der Gewerkschaft, der Partei, sondern Gesellschaftsmitgliedern, Parteimitgliedern, Gewerkschaftsmitgliedern. Wirtschaftswissenschaftler versprechen sich von der Anwendung dieser Methode, dass ihre Theorien sich genauer in der Wirklichkeit überprüfen lassen.

Der Einzelne als Maß aller Dinge

Vom Individualismus als Forschungsmethode ist der Individualismus als Werthaltung zu unterscheiden. Individualismus als Norm bedeutet, dass das wirtschaftspolitische Handeln sich am einzelnen Menschen ausrichten soll. Staaten, Klassen oder Völker gelten dem Individualismus daher weder als sinnstiftend noch als Richtmaß. Allein jedes Individuum in seiner Einzigartigkeit ist für den normativen Individualismus die Autorität, die im Zusammenspiel mit anderen entscheidet, was wünschenswert ist.

Der Einzelne soll seinen eigenen Lebensentwurf konzipieren und realisieren können. Eine der schwierigsten Fragen der Wirtschaftspolitik besteht darin, unter welchen Bedingungen gegen diese Norm verstoßen wird, werden darf oder werden muss. Individualismus als Norm bedeutet, dass es keine überindividuelle Begründung für die Unterordnung eines Individuums unter ein anderes gibt. Niemand darf einen anderen als Instrument für seine eigenen Ziele missbrauchen. Stellt sich jemand in den Dienst anderer und nehmen diese den Dienst an, dann ist dies nur erlaubt, wenn es freiwillig geschieht. Erst die Entscheidungsfreiheit macht die verantwortliche Bejahung höherer Autoritäten möglich.

Ein wichtiges Problem der Wirtschaftspolitik ergibt sich daraus, dass die individuellen Interessen aufeinanderprallen, wenn jedes Individuum sich selbst das Maß aller Dinge ist. Daher verweist auch der Individualismus als Norm, genauso wie der Individualismus als Methode, auf die Notwendigkeit, das Handeln der Einzelnen zu koordinieren. Im Bereich der Wirtschaft ist dafür die Wirtschaftspolitik verantwortlich.

Schwierigkeiten der Entscheidungsfindung

Die Einzigartigkeit des Individuums ist die Grundlage für eine andere wichtige Überlegung. Einzigartigkeit des Individuums heißt auch Einzigartigkeit seiner Selbstwahrnehmung. Individuelle Entscheidungen werden immer auf der Grundlage von subjektiven Wahrnehmungen getroffen. Subjektivismus bedeutet aber, dass es nicht möglich ist, Vergleiche zwischen Personen über die Wünschbarkeit einer gesellschaftlichen Situation anzustellen. Das Glück des Einen kann nicht gegen das Leid des Anderen aufgerechnet werden. Die demokratische Beschlussfassung in Form der Abstimmung ist eine Möglichkeit, dennoch eine gesellschaftliche Entscheidung zu finden. Im Vorhinein muss darüber beratschlagt werden: Beratende, "deliberative" Demokratie bedeutet, dass Abstimmungen immer eine Phase der Diskussion über das Für und Wider verschiedener Programme voranzugehen hat.

Der Nachteil von Abstimmungen besteht darin, dass die Individuen nur Zustimmung oder Ablehnung äußern können, aber nicht die Möglichkeit besitzen, den Grad ihrer Zufriedenheit bzw. Unzufriedenheit auszudrücken. Auch könnte eine zahlenmäßige Minderheit in ihrer individuellen Befindlichkeit nicht respektiert oder unterdrückt werden. Das Handicap von Debatten und Beratungen zeigt sich darin, dass rhetorisches Talent und die Art und Weise, wie kommuniziert wird, sich unter Umständen auf die gesellschaftliche Entscheidung auswirken können. In jedem Fall wird politisches Handeln durch individuelle Entscheidungen herbeigeführt.

Wirtschaftspolitische Maßnahmen, die alle Beteiligten besser stellen, finden leicht allgemeine Zustimmung, aber in der Praxis gewinnen nur selten alle Bürgerinnen und Bürger durch eine bestimmte Wirtschaftspolitik. Wenn beispielsweise die Zentralbank die Leitzinsen erhöht, um eine Inflation zu bekämpfen, so leiden unter den steigenden Zinsen die privaten Haushalte, welche Wohneigentum abzahlen müssen, und zudem geht die Baukonjunktur zurück - zum Nachteil der Bauunternehmen. Besser gestellt werden hingegen jene, die über Kapitalvermögen verfügen, das sie zu den steigenden Zinsen anlegen können. Kapitaleigner gewinnen auch, wenn der Staat sich zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit verschuldet, da sie ihre Gelder in diesem Fall in Staatsschuldpapieren anlegen können. Wenngleich also die meisten Bürgerinnen und Bürger darin übereinstimmen werden, dass es wichtig ist, Arbeitslosigkeit und Inflation zu bekämpfen, können sie von den wirtschaftspolitischen Maßnahmen zur Erreichung dieser Ziele sehr unterschiedlich betroffen sein.

Dr. rer. pol. M. Sc. (LSE), Jahrgang 1952, ist Universitätsprofessor für Wirtschaftswissenschaft und Wirtschaftsdidaktik an der Universität Siegen und Leiter des Zentrums für ökonomische Bildung Siegen (ZöBiS). Seine Arbeitsschwerpunkte sind theoretische und empirische Forschungen zur ökonomischen Bildung, das Menschenbild der Ökonomie sowie Ordnungs- und Wettbewerbspolitik. Hans Jürgen Schlösser hat Volkswirtschaftslehre, Erziehungswissenschaft und Philosophie an der Universität Münster, dem Institut für Weltwirtschaft in Kiel und an der London School of Economics studiert. Vor seiner Berufung an die Universität Siegen hielt er Professuren an der TU Chemnitz und an der Universität Koblenz-Landau.

Kontakt: schloesser@wid.wiwi.uni-siegen.de