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Fazit | (Spät-)Aussiedler in der Migrationsgesellschaft | bpb.de

(Spät-)Aussiedler in der Migrationsgesellschaft Editorial Historischer Kontext: Deutsche in und aus Osteuropa Migrationsgesellschaft Deutschland (Spät-)Aussiedler aus den postsowjetischen Staaten (Spät-)Aussiedler aus Polen (Spät-)Aussiedler aus Rumänien Fazit Glossar Karten Literaturhinweise

Fazit

Jannis Panagiotidis

/ 6 Minuten zu lesen

Die Position der Spätaussiedler in der deutschen Migrationsgesellschaft lässt sich unter verschiedenen Perspektiven beleuchten, auch und besonders unter dem Konzept der kulturellen, strukturellen und sozialen Integration einschließlich der Beziehungen über Ländergrenzen hinweg. Es ergibt sich ein Bild heterogener Identitäten in einer heterogenen Gesellschaft.

Empfang nach der Fußball WM 2014 in der Berliner Fanmeile mit Helene Fischer, Lukas Podolski und Bastian Schweinsteiger. (© picture-alliance, augenklick/firo Sportphoto/firo Sportphoto)

Dieses Heft hat verschiedene Perspektiven auf (Spät-)Aussiedler in der Migrationsgesellschaft zusammengetragen. Die Ursprünge der Zuwanderung dieser Menschen, die vor allem aus der ehemaligen Sowjetunion, Polen und Rumänien in die Bundesrepublik Deutschland kamen, sind in der Geschichte deutschsprachiger Gruppen im östlichen Europa zu suchen. Dies war eine Migrationsgeschichte über viele Jahrhunderte, in der Menschen aus dem deutschsprachigen Mitteleuropa, die verschiedene Dialekte sprachen und unterschiedlichen Konfessionen angehörten, im Osten Europas siedelten. Durch das Zusammenspiel von Fremd- und Selbstwahrnehmungen wurden sie dort im Laufe der Zeit zu "Deutschen" im Sinne einer nationalen Zugehörigkeit. Dies geschah verstärkt unter dem Einfluss der völkischen Bewegung nach der Gründung des Deutschen Reiches 1871 und besonders aggressiv in der Zeit des Nationalsozialismus. Flucht- und Vertreibung der Deutschen aus dem östlichen Europa zu Kriegsende waren die Folge der NS-Volkstums- und Expansionspolitik. Die (Spät-)Aussiedler der Nachkriegsjahrzehnte waren dann die "Nachzügler" der massenhaften Vertreibung und wurden von der Bundesrepublik als "Vertriebene nach der Vertreibung" aufgenommen.

Im Laufe der Zeit wurde die (Spät-)Aussiedlermigration aber auch Bestandteil einer umfassenderen Zuwanderung in die Bundesrepublik Deutschland. Nachdem lange Zeit kategorisch zwischen deutschen (Spät-)Aussiedlern einerseits und ausländischen Arbeitsmigranten und Flüchtlingen andererseits unterschieden wurde, zeigte sich vor allem seit den 1990er-Jahren deutlich, dass alle diese Menschen zusammen die deutsche Gesellschaft in einer Art und Weise veränderten, dass nun von einer "Migrationsgesellschaft" gesprochen werden kann.

Die vorliegende Darstellung interessierte sich für die Position der (Spät-)Aussiedler in dieser Migrationsgesellschaft. Sie wurde unter verschiedenen Perspektiven beleuchtet und mithilfe spezifischer Konzepte zu analysieren gesucht. Ein wichtiges, wenn auch stets umstrittenes Konzept ist dabei "Integration" (sowie, noch umstrittener, "Assimilation"). Unter dieser Maßgabe bieten die einzelnen Beiträge ein breites Spektrum von Aspekten, an denen die Integration der verschiedenen Untergruppen von (Spät-)Aussiedlern festgemacht werden kann.

Nimmt man etwa die Kenntnis der deutschen Sprache als Aspekt der kulturellen Integration, so lässt sich feststellen, dass diese weit fortgeschritten ist. Dies gilt insbesondere für die Deutschen aus Rumänien, die schon gute Sprachkenntnisse mitbrachten, sowie für die Aussiedler aus Polen, die im Durchschnitt bereits recht lange in Deutschland ansässig sind und sich die Sprache kurz nach der Aussiedlung aktiv aneigneten. Bei den Russlanddeutschen, die großenteils erst im Laufe der 1990er-Jahre zuwanderten, ist hingegen die russische Sprache noch stärker präsent. Nur gut zwei Drittel sprechen nach eigener Einschätzung fließend oder muttersprachlich Deutsch. Neben ihrem kürzeren Aufenthalt im Land mag die im Vergleich zu den Aussiedlern früherer Generationen reduzierte Sprachförderung bei dieser Gruppe dabei auch eine Rolle spielen.

Zur strukturellen Integration vermitteln Sozialindikatoren wie Arbeitslosigkeit und Einkommen ebenfalls das Bild eines fortgeschrittenen Integrationsprozesses. Die russlanddeutschen (Spät-)Aussiedler stehen dabei im Schnitt etwas weniger gut da als die (Spät-)Aussiedler insgesamt. Zurückzuführen ist dies möglicherweise auf die kürzere Zeit des Ansässigseins, aber auch auf die reduzierten Starthilfen im Vergleich zu früheren Aussiedlern. Ein deutlicher struktureller Unterschied zur "einheimischen" Bevölkerung zeigt sich in der Art der Arbeit, die (Spät-)Aussiedler verrichten. Insbesondere die Männer arbeiten sehr viel häufiger im produzierenden Gewerbe oder im Bau als die "Einheimischen". Die Frauen sind überdurchschnittlich oft geringfügig beschäftigt. Entsprechend liegt das Pro-Kopf-Einkommen ihrer Haushalte deutlich niedriger als das der Bevölkerung ohne Migrationshintergrund. Strukturelle Integration beinhaltet zudem, dass die (Spät-)Aussiedler über verschiedene Einkommensgruppen verteilt sind, genau wie die "einheimische" Bevölkerung: Viele sind in der Mittelschicht angekommen, viele andere befinden sich aber auch in prekären Einkommens- und Arbeitsverhältnissen.

Für die soziale Integration ist es sehr viel schwieriger, allgemeingültige Aussagen zu treffen. Die oben erwähnten Fälle von polenstämmigen Aussiedlern legen zum Beispiel nahe, dass selbst bei diesen schon lange in Deutschland ansässigen Migranten die wichtigsten sozialen Netzwerke in der Eigengruppe existieren. Es besteht weiterhin eine gefühlte soziale Distanz zu den "Einheimischen". Dies ist aber nicht als totale Isolation vom bundesdeutschen Umfeld zu verstehen und erst recht nicht als Anzeichen einer "gescheiterten" Integration. Gerade im Falle der Sozialintegration ist es wichtig, über schematische Vorstellungen von "Integration" und "Nicht-Integration" hinauszugehen. Das dargelegte Integrationsschema von Hartmut Esser sieht zum Beispiel die Möglichkeit vor, dass Personen zwar in ihrer ethnischen Gruppe, aber nicht in der Aufnahmegesellschaft integriert und somit "individuell segmentiert" sind. Dabei handelt es sich freilich bloß um ein wissenschaftliches Modell. In der Realität gibt es eine solch absolute Trennung – die viel zitierte "Parallelgesellschaft" – nicht. Außerdem ist so ein Modell nicht statisch zu betrachten: Die "segmentierte Integration" innerhalb der Gruppe kann die Grundlage dafür bilden, sich auch stärker in gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge einzubringen. Die religiösen Gemeinschaften von Russlanddeutschen liefern hierfür Anhaltspunkte.

Für ein besseres Verständnis von Integrationsprozessen gilt es aber auch, die Perspektive um transnationale Aspekte zu erweitern. Bei migrierten Individuen greift es zu kurz, soziale Netzwerke nur innerhalb eines Staates zu betrachten. Gerade die Beziehungen über Grenzen hinweg, ins Herkunftsland oder auch in andere Länder, wo Angehörige und Freunde leben, sind hier wichtig. Dies gilt besonders für die Aussiedler aus Polen, die spätestens seit dem EU-Beitritt Polens intensiven Kontakt mit ihren Herkunftsregionen pflegen können. Bei den fast vollständig ausgesiedelten Deutschen aus Rumänien ist dies weniger relevant. Die Russlanddeutschen kann man "dazwischen" verorten: Besonders die früher ausgesiedelten haben kaum noch Kontakte ins Herkunftsland, weil sie oft im Familienverband ausreisten. Bei denjenigen, die später nach Deutschland kamen, sind die Kontakte in die "alte Heimat" meist noch stärker, sowohl auf persönlicher Ebene als auch etwa hinsichtlich des Medienkonsums. Transnationale Lebensweisen hängen in hohem Maße von technischen Kommunikationsmöglichkeiten ab, weswegen die Verbreitung von sozialen Onlinenetzwerken, Satellitenfernsehen und inzwischen auch Internetfernsehen verstärkte grenzüberschreitende Kontakte ermöglicht, die früher nicht gegeben waren.

Es wäre ein Fehlschluss, von solchen transnationalen Kontakten auf eine mangelnde emotionale Integration zu schließen. Vielmehr kann das "Dazwischen-Sein" zu einer eigenen Identifikation werden, die sich eindeutigen Zuordnungen als "deutsch", "polnisch", "russisch" oder "rumänisch" entzieht. Dies zeigen die Beispiele von Aussiedlern aus Polen genauso wie Untersuchungen zu (Spät-)Aussiedlern aus der ehemaligen Sowjetunion, aus denen hervorgeht, dass die hybride Selbstbezeichnung als "Russlanddeutsche" eine kollektive Identitätsstrategie darstellen kann, um die eigene Fremdheitserfahrung in Deutschland zu bewältigen.

Solche Identifikationen sind aber keinesfalls statisch, sondern verändern sich über die Zeit und unter dem Eindruck wandelnder Selbst- und Fremdwahrnehmungen. So kann es durchaus sein, dass sich gerade Angehörige der jüngeren Generation stärker als "Russen" identifizieren, eben weil sie von ihrem Umfeld so bezeichnet werden. Genauso kann aber auch der Bezug auf die Herkunft aus der ehemaligen Sowjetunion weitgehend verschwinden, besonders dann, wenn keine russischen Sprachkenntnisse vermittelt werden. Vor allem können solche Identifikationen aber auch gleichzeitig existieren: Dieselbe Person kann sich beispielsweise mal als "russlanddeutsch", mal als "deutsch" und mal auch als "russisch" identifizieren, je nach Situation und Umfeld. In der Forschung wird so etwas als "situative Identität" oder auch "situative Ethnizität" bezeichnet.

Insgesamt ist hinsichtlich der Frage von Identität grundsätzlich vor Generalisierungen zu warnen. Allgemein sind verschiedene äußere und innere Faktoren relevant, die die Selbstidentifikation beeinflussen können, besonders im Fall der nächsten Generation: Wächst eine Person in einem stark durch die eigene Gruppe geprägten Umfeld auf, oder findet die Sozialisierung in einem stärker gemischten Umfeld statt? Erlebt die Person stereotype Fremdzuschreibungen, beispielsweise aufgrund der Herkunft aus einem bestimmten Stadtteil ("Russenghetto")? Werden in der Familie das Gedächtnis an die eigene Herkunft und Geschichte und/oder bestimmte kulturelle Praktiken gepflegt, die ein Bewusstsein um eine besondere eigene Identität wachhalten? Entwickelt sich möglicherweise eine "symbolische Ethnizität" (so der US-Soziologe Herbert J. Gans), die unabhängig von kulturellen Praktiken oder ethnischen Netzwerken existiert? Auch dürfte die Reproduktion von ethnischem Eigenbewusstsein zum Beispiel in stark religiös geprägten Milieus von russlanddeutschen (Spät-)Aussiedlern ganz anders verlaufen, auch in der zweiten Generation. Hier bietet die gemeinsame Religion eine Identitätsressource, die auch jenseits der zeitlich immer weiter in den Hintergrund rückenden Herkunft aus der ehemaligen Sowjetunion Gemeinschaft stiftet.

"Heterogenität" ist schließlich das zentrale Stichwort zur Verortung der (Spät-)Aussiedler in der "postmigrantischen" Gesellschaft. Hier ist die "besondere" Herkunft nur ein Aspekt individueller Identität und Positionierung in der Gesellschaft, neben neuen Aspekten, die hinzukommen: Dies kann der Beruf sein, die soziale Schicht, der Wohnort und vieles mehr. Durch das Zusammenleben, die Kontakte, die Interaktionen und den nicht notwendigerweise immer konfliktfreien Interessenausgleich heterogener Individuen unterschiedlicher Herkunft und mit überlappenden Gruppenzugehörigkeiten wird Gesellschaft ausgehandelt – eine Gesellschaft, zu der (Spät-)Aussiedler auf jeden Fall als zentraler Bestandteil dazugehören.

Prof. Dr. Jannis Panagiotidis ist Historiker und Juniorprofessor für Migration und Integration der Russlanddeutschen am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) der Universität Osnabrück. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen in der transnationalen und vergleichenden Geschichte Deutschlands und Israels, der Globalgeschichte der Deutschen aus dem östlichen Europa, sowie im Themenfeld der postsowjetischen Migration.