Prof. Dr. Benjamin BenzProf. Dr. Ernst-Ulrich HusterDr. Johannes D. SchütteProf. Dr. Jürgen BoeckhJürgen Boeckh / Benjamin Benz / Ernst-Ulrich Huster / Johannes D. Schütte
/ 10 Minuten zu lesen
Link kopieren
Welche Herausforderungen kommen auf die Sozialpolitik in Zukunft zu? Sind diese Probleme lösbar, oder wird die Sozialpolitik, wird der Sozialstaat damit überfordert? Viele, gerade junge Menschen, stellen sich diese Fragen. Dieses Kapitel widmet sich daher drei verschiedenen sozialpolitischen Herausforderungen und Trends.
Im Folgenden werden Einschätzungen zu diesen sozialpolitischen Entwicklungen gegeben: Wandel der Erwerbsgesellschaft hin zu prekäreren Arbeitsplätzen und größeren Brüchen in Erwerbsbiografien, damit einhergehende Zweifel an der Tragfähigkeit des Generationenvertrages sowie neue Herausforderungen auf EU- und internationaler Ebene.
Wandel der Erwerbsgesellschaft
Betrachtet man das System der sozialen Sicherung aus einem systematischen Blickwinkel, fallen folgende Besonderheiten auf:
Die soziale Sicherung schützt vor allem das sogenannte Normalarbeitsverhältnis. Menschen, die keine kontinuierliche sozialversicherungspflichtige Beschäftigung haben und/oder sich dauerhaft im Niedriglohnsektor bewegen, können keinen ausreichenden Schutz bei Verlust des Arbeitsplatzes aufbauen.
Die soziale Sicherung ist stark auf die Gewährung von materiellen Transfers wie Renten, Arbeitslosengeld oder Pflegegeldstufen ausgerichtet. Viele Zielgruppen benötigen aber einen besseren Zugang zu sozialen Dienstleistungen, um soziale Mobilität "nach oben" zu ermöglichen.
Die soziale Sicherung verlängert die Einkommenssituation vom Arbeitsmarkt in den Sozialleistungsbezug. Aufgrund des dominierenden Äquivalenzprinzips ist der Umverteilungseffekt zwischen einkommensstarken und -schwachen Versicherten eher gering.
Die Arbeitsgesellschaft und mit ihr die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung wurden schon oft totgesagt. Fakt ist aber, dass die Mehrheit der Bevölkerung jetzt und wohl auch künftig ihren Lebensunterhalt unmittelbar oder mittelbar – abgeleitet etwa über Ansprüche gegenüber anderen Personen – durch Erwerbsarbeit bestreitet und sozialversicherungspflichtige Beschäftigung die vorherrschende Art der Erwerbstätigkeit bleiben wird. Aktuelle Zahlen der Bundesagentur für Arbeit (Externer Link: www.arbeitsagentur.de) belegen, dass 70 Prozent der Erwerbstätigen in sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen arbeiten. So ist auch die Frauenerwerbsquote in den letzten Jahrzehnten deutlich angestiegen.
Zum Gesamtbild gehört aber auch, dass zur Gruppe der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten eine stetig wachsende Anzahl teils freiwilliger, teils unfreiwilliger Teilzeitbeschäftigter gehört. Es sind in der Mehrheit Frauen. Darüber hinaus werden immer mehr Arbeitsverträge befristet, und 15 Prozent aller Erwerbstätigen sind ausschließlich geringfügig beschäftigt.
Das bedeutet insgesamt größere Brüche in den individuellen Erwerbsbiografien und geringere Beiträge für das Sozialversicherungssystem. Ein Teil der Beschäftigten erwirbt keine oder nur noch geringe Rentenanwartschaften, laut dem Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung und der Bundesagentur für Arbeit 2014. Daraus folgt, dass die Lohn-, Einkommens- und Vermögensspreizung weiter zunimmt. Altersarmut konnte zwar bislang noch begrenzt werden, könnte aber in Zukunft ein größeres Problem werden.
Die Ursachen für diesen Wandel der Erwerbsgesellschaft liegen in der Entwicklung von der Industrie- über die Dienstleistungs- hin zu einer Wissensgesellschaft und in einzelnen beschäftigungs- und sozialpolitischen Entscheidungen. Dazu gehören beispielsweise die systematische Ausweitung des Niedriglohnsektors und erst dann die Einführung eines Mindestlohns. In Deutschland sind zunehmend Arbeitsplätze entstanden, die mit hohen Qualifikationsanforderungen verknüpft sind: Heute wird immer mehr mit dem Kopf anstatt mit der Hand gearbeitet. Geringqualifizierte und Personen, die eine Ausbildung in einem heute weniger nachgefragten Bereich absolviert haben, finden nur mühsam eine Arbeit. Auch die Nachfrage nach Fähigkeiten wie Sozialkompetenzen und Kreativität steigt. Außerdem verändern sich Qualifikationsanforderungen sehr rasch, viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer müss(t)en sich immer wieder nach- und weiterqualifizieren. Was aber geschieht mit denen, die nicht mithalten können oder ab einem bestimmten Lebensalter nicht mehr wollen? Dies betrifft keineswegs bloß Gering-, sondern auch Hochqualifizierte. Droht ihnen der Ausschluss aus der Arbeitswelt? Insgesamt ist zu erkennen, dass sowohl für Personen in einem "Normalarbeitsverhältnis" als auch für solche in prekärer Beschäftigung der ökonomische Druck zunimmt. Es wird ein immer größeres Maß an Flexibilität und Arbeitsverdichtung gefordert. Auf die Beschäftigten wird mehr Verantwortung übertragen. Diese Tendenzen schlagen sich in der zunehmenden Anzahl an arbeitsbedingten Stresserkrankungen nieder.
Für die Zukunft bleibt es eine der zentralen sozialpolitischen Herausforderungen, angemessene Lösungen für diese Problemlagen zu suchen, die sich aus den nach Wirtschaftssektor, Qualifikation und Geschlecht ausdifferenzierten Arbeitsbedingungen ergeben. Dabei wird es um eine Vielzahl von Einzelregelungen gehen, wobei jeweils abzuwägen ist zwischen den Interessen einer immer globaler orientierten Wirtschaft und den Interessen der Arbeitenden – übrigens auch der leitenden Angestellten und Selbstständigen. Als Beispiel kann ein Ausgleich zwischen den Interesse der Arbeitnehmer nach mehr Sicherheit und dem von Arbeitgebern nach stärkerer Flexibilisierung des Arbeitsverhältnisses angeführt werden. Unter dem Stichwort "Flexicurity" soll hier nach einem Kompromiss gesucht werden. Zugleich geht es um Entlohnungsfragen und dem davon abhängigen Sicherungsniveau bei Nichterwerbstätigkeit. Die Einführung des Mindestlohnes von zunächst 8,50 Euro (seit 1. Januar 2015) stellt einen ersten Schritt dar, um die Zahl der working poor (gemeint sind [in Vollzeit] beschäftigte Personen mit einem Einkommen unterhalb der Armutsrisikogrenze) zu beschränken. Er wird aber das Problem der Altersarmut nicht lösen können und kann die strukturellen Probleme, die sich vor allem bei längeren Phasen der Erwerbslosigkeit bzw. des Niedriglohnbezugs zeigen, nicht abmildern. Dazu wäre ein deutlich höheres Niveau des Mindestlohns vonnöten. Da gleichzeitig weder die Festlegung der Höhe der Soziallleistungen noch die Tarifpartner bei der Aushandlung der Löhne an das Niveau der Armutsrisikogrenze gebunden sind, die die Bundesregierung in ihrer Armuts- und Reichtumsberichterstattung (Externer Link: www.bmas.de) regelmäßig ausweist, kommt es aus systematischen Gründen dazu, dass in einem reichen Land wie Deutschland Menschen leben und arbeiten und dennoch keine Chance haben, der materiellen Armut zu entfliehen.
Wettbewerb um den Aus-, Um- oder Abbau solidarischer Sicherungssysteme
Unterhält man sich mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen über die Zukunft der sozialen Sicherung, so kommt häufig die lakonische Antwort, man habe wenig Vertrauen in die Leistungsfähigkeit dieser Systeme. Politische Kreise, Medien und Anbieter von Kapitaldienstleistungen schüren diese Unsicherheit. Die Politik hat in den letzten Jahrzehnten Teile der sozialen Risiken vom öffentlich-rechtlichen Sozialschutz ausgenommen und private Zuzahlungen, privat zu tragende Kosten für zusätzliche Leistungen sowie schließlich die ergänzende private Vorsorge fürs Alter gefordert und durchgesetzt.
Zugleich gerät der solidarische Ausgleich innerhalb der Gesellschaft in Misskredit, sei es, dass Singles nicht mehr für die Ehepartner und die Kinder anderer aufkommen wollen, sei es, dass Zugewanderten das Recht auf solidarische Absicherung mit der Begründung abgesprochen wird, sie hätten "nicht eingezahlt". Zugleich wird eine stärkere Beachtung der Generationengerechtigkeit angemahnt, um die Solidarität zwischen den Generationen in einer wie auch immer modifizierten Form aufrecht erhalten zu können. Diese Entwicklung beschränkt sich nicht auf sozialpolitische Bereiche. So nimmt bspw. die Tarifbindung etwa von Wirtschaftsunternehmen nachweislich ab.
Der Soziologe Ulrich Beck (1944–2015) hat in seinem Buch "Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne", 1986 auf eine zunehmende Individualisierung und Pluralisierung von Lebensstilen verwiesen. Richtig ist, dass Lebenszusammenhänge zunehmend aus traditionellen Mustern gelöst werden. Soziale Kontrollen im engeren sozialen Umfeld, festgelegte Rollenmuster etwa von Geschlechtern, überlieferte Verhaltensanforderungen und -zumutungen konnten zum Teil überwunden werden. Ulrich Beck meinte erkennen zu können, die gesamte Gesellschaft sei – gleichsam wie im Fahrstuhl – nach oben befördert worden.
Betrachtet man hingegen die empirischen Ergebnisse, so haben sich die sozialen Verhältnisse in Deutschland sehr ungleich entwickelt. Dieses betrifft über die Einkommens- und Vermögensverteilung hinaus insbesondere auch die Alterssicherung. Im Gesundheitswesen gibt es Stimmen, die inzwischen von einer Zwei-Klassen-Medizin sprechen. Und erst recht im Bildungswesen zeigen sich – wie internationale Vergleichsstudien belegen – erhebliche soziale Benachteiligungen, die keinesfalls nur bestimmte Kinder mit Migrationshintergrund, sondern insgesamt Kinder aus sozialen Unterschichten betreffen. Insofern ist nicht nur der Hinweis auf den allgemeinen Fahrstuhleffekt zumindest zu relativieren, sondern auch schon der auf eine verstärkte Pluralisierung von Lebensstilen: Soziale Lebenslagen werden, folgt man dem Soziologen Pierre F. Bourdieu (1912–1989), weiterhin "sozial vererbt".
Und genau hier liegt das Problem: Solidarisch finanzierte soziale Mindestsicherungs-, Lebensstandardsicherungs-, Gesundheits- und Bildungssysteme setzen auf den Ausgleich sozialer Lebensgrundlagen. Dieses war und ist nicht erfolglos, wenn man beispielsweise die Anwendung neuerer medizinischer Erkenntnisse und Heilmethoden, die Anhebung des Bildungsniveaus und Verbesserungen etwa von Wohnbedingungen betrachtet. Die zunehmende soziale Polarisierung in der Gesellschaft aber stellt genau dieses für die Zukunft in Frage. Dabei geht es weniger um einen Generationenkonflikt zwischen Alten und Jungen, sondern mehr um einen intragenerativen Konflikt zwischen denen, die in einem solidarischen System abgeben müssten, und denen, für die diese Wohlhabenden nicht mehr im bisherigen Umfange zu zahlen bereit sind. Es geht letztlich um Verteilung des nach wie vor vorhandenen beachtlichen Wohlstands. Verfolgt man die aktuelle Migrationsdebatte, hat es den Anschein, dass Teile der Gesellschaft nicht einmal mehr die Aufwendungen in die zukünftige Arbeitnehmerschaft tragen wollen, der zunehmend Menschen anderer ethnischer Herkunft angehören werden, also Sozialinvestitionen im Sinne Anthony Giddens’ für Menschen mit Migrationshintergrund verweigern.
Wie löst sich diese Spannung zwischen sozialer Polarisierung mit zunehmender Armut, auch Altersarmut, auf der einen Seite und enormer Anhäufung von Finanzkapital auf der anderen Seite, das nicht mehr real, also im regulären Wirtschaftskreislauf investiert werden kann und von Finanzkrisen bedroht ist? Hier geht es um Fragen zukünftiger Verteilungsgerechtigkeit, und letztlich um die Bildung politischer Mehrheitsmeinungen: Wie viel Eigenverantwortung soll der bzw. die Einzelne zukünftig übernehmen bzw. tragen? Wie viel Solidarität soll aufrechterhalten bzw. weiterentwickelt werden? Und was soll mit denen geschehen, die weder zur Übernahme von Eigenverantwortung in der Lage sind, noch einem Solidarverbund, etwa im Rahmen der Sozialversicherung, angehören?
Der Sozialraum Europa im globalen Dorf
Doch diese Verteilungsfragen führen über den nationalen Rahmen hinaus. Die Europäische Union, der Euro, aber auch die Globalisierung zumindest wichtiger Märkte haben Fakten geschaffen. Damit leben die Menschen, viele Beschäftigte und Unternehmen in Deutschland leben und profitieren auch davon. Wir haben uns daran gewöhnt, ohne direkte Zollkontrollen, Visabeschaffung und Geldumtausch ins europäische Ausland zu fahren und ausländische Waren zu konsumieren – sofern wir es uns finanziell leisten können. An den schwankenden Benzinpreisen merken wir die Einbindung in weltweite Wirtschaftsbeziehungen. Über Chancen und Risiken dieser Entwicklung gehen die Meinungen auseinander.
Die Gründung der Europäischen Union als politische, ökonomische und soziale Ebene zwischen Nationalstaat und Weltgemeinschaft war von Anfang an darauf ausgerichtet, mögliche Konflikte durch politische Zusammenarbeit und ökonomische Wohlstandsmehrung friedlich zu lösen. Doch diese Perspektive hat heute zumindest bei Teilen der Bevölkerung an Zugkraft verloren.
In einigen Mitgliedstaaten werden die erreichten Integrationsschritte der Europäischen Union bereits als zu weitgehend empfunden, wobei dem unterschiedliche Motive zugrunde liegen. Manche Länder haben die Sorge, ihre eigenen hohen Sozialschutzstandards könnten gesenkt werden. Andere sehen im Gegensatz dazu in der EU eher einen Hemmschuh für die Absenkung ihrer Sozialstandards, die ihre Chancen auf dem Weltmarkt verbessern würde. In welche Richtung wird sich zukünftig die soziale Qualität der Gesellschaften innerhalb der Europäischen Union entwickeln?
Aktuellen Niederschlag findet diese Frage auch angesichts der Verhandlungen über internationale Freihandelsabkommen zwischen der EU und Kanada (CETA), der EU und den USA (TTIP) sowie im Rahmen der Welthandelsorganisation (WTO) bzw. in bilateralen Verhandlungen zwischen 50 Staaten (Trade in Services Agreement TISA). In diesen Verhandlungsrunden um die Ausgestaltung internationaler Handelsbeziehungen geht es immer auch um den künftigen Stellenwert sozialpolitischer Aus- und Umgestaltungen. Verstärkt sich zukünftig ein Wettlauf bei der Absenkung von Sozialstandards, um die Wettbewerbsfähigkeit der eigenen Wirtschaft zu erhöhen, oder soll der Wohlstand gerechter verteilt werden – und wenn ja: Wie? Nach Leistung, solidarisch oder subsidiär?
Gerechtigkeitsüberlegungen können nicht an den nationalen Grenzen bzw. denen der Europäischen Union enden. Ein Blick in die eigene Kleidung, auf den Herstellungsort des Handys, die Herkunft seiner Grundstoffe und Bauteile reicht, um festzustellen, wie vernetzt inzwischen der internationale Handel ist und wie sehr damit auch jeder Konsument bzw. jede Konsumentin in die Problematik nach menschen(un-)würdigen und (nicht-)ökologischen Produktionsbedingungen verstrickt ist. Dabei besteht bereits in Europa ein Wettbewerb um Produktionsbedingungen und damit die Frage nach sozialpolitischen Flankierungen. Deutschland hat in den vergangenen Jahren versucht, Einbußen an Konkurrenzfähigkeit nachholend wettzumachen, durch eine gemäßigte Lohnpolitik in Zeiten der Globalisierung und die Senkung von Lohnnebenkosten, insbesondere von Arbeitgeberbeiträgen zu den Sozialversicherungen im Zeichen der Standortsicherung. Deutschland fungiert dabei aber durchaus auch als vorangehender Schrittmacher des Wettbewerbs. Damit wächst der Druck auf andere europäische Länder (insbesondere auf die "Euro-Krisenländer"), ähnliche Schritte zu unternehmen.
Infolge der globalen Verflechtung der internationalen Wirtschaftsbeziehungen beeinflussen die führenden Wirtschaftsnationen in (Nord-)Amerika, Europa und Asien über ihre Wirtschaftsmacht die Wohlfahrtsbedingungen in weiten Teilen der Welt. Verschärfen sie dabei die Lebensbedingungen vor Ort, können daraus soziale Probleme erwachsen, die letztlich auch auf sie zurückschlagen, sei es in Gestalt von Flüchtlingen oder in Form von Wettbewerbsdruck und Sozialdumping. Aus dem Kauf von Produkten, die in anderen Teilen der Welt mitunter zu schlechten Umwelt-, Arbeits- und Entlohnungsbedingungen hergestellt werden (Export der Sozialen Frage), erwächst die Frage, ob diese Basis unseres Wohlfahrtsmodells tatsächlich Vorstellungen von Gerechtigkeit entspricht (s. hierzu etwa Basu 2011). Verteilungsgerechtigkeit endet eben nicht an den Grenzen der nationalen Sozialpolitik. Eine Verdrängung dieser Zusammenhänge ist langfristig wohl keine geeignete Strategie zur Befriedung innerstaatlicher und internationaler Verteilungskonflikte und zur Sicherung des inneren (sozialen) und äußeren Friedens.
QuellentextIm Takt der Nadel
[…] Sonja Lara […] musste täglich zwölf Stunden und am Wochenende oft 24 Stunden am Stück arbeiten – da reichte es ihr: Sie beschloss, sich gewerkschaftlich zu organisieren, trotz aller Warnungen von Kollegen. Als die Vorgesetzten Wind davon bekamen, feuerten sie Sonja Lara […]. […]
Von den 6,3 Millionen Bewohnern El Salvadors arbeiten allein 70.000 in Nähbetrieben. Hergestellt werden [in den sogenannten Maquilas – Anm. d. Red] aber auch andere Produkte wie Elektronikbauteile oder Medikamente. Die ersten Betriebe entstanden Anfang der 1980er-Jahre in neu gegründeten freien Produktionszonen, wo Firmen keine Steuern zahlen, wenn sie für den Export produzieren. "Want to cut your Labour Costs?", hieß es in einer der ersten Werbungen für US-Firmen, in denen von dem Fleiß und Können der Frauen in El Salvador die Rede war, deren Stundenlohn nur bei 33 US-Cent liege. […]
Sonja Lara hat sich einige Male in Fabriken anstellen lassen, um herauszufinden, wie die Arbeitsbedingungen dort sind. Meist gesellt sie sich aber außerhalb der Fabriken unter die Näherinnen, wenn diese in ihrer Mittagspause an den Straßenständen vor den Fabriken stehen. "Ich kaufe mir etwas zu essen, rede mit ihnen, diskret", sagt sie. Wenn sich ein beidseitiges Vertrauensverhältnis ergebe, erzähle sie, dass sie Fakten über die Fabrik sammle. Solche Fakten bilden die Basis für die Arbeit vieler Organisationen. […]
Gibt es Erfolge? "Ja", sagt Sonja Lara, […]. […]. Dank des internationalen Drucks habe sich generell einiges verbessert: Nur noch selten werde jemand verprügelt, der die Vorgaben verfehle, Kinderarbeit sei fast verschwunden, und viele Fabrikanten verzichteten bei der Einstellung auf den früher obligatorischen Schwangerschaftstest. Drei zentrale Probleme seien jedoch ungelöst: Niedrige Löhne, unbezahlte Überstunden – und die brutale Behinderung der Gewerkschaftsarbeit. […]
Bis heute werden Beschäftigte bedroht, die sich organisieren.
Dabei schrecken manche Fabrikbesitzer nicht einmal davor zurück, mit den gefährlichen Banden zu kooperieren. Einige Fälle haben Wissenschaftler von der Penn State University gemeinsam mit der […] Arbeitsrechtsorganisation Workers Rights Consortium in der Studie "Unholy Alliance" dokumentiert.
Die unheilige Allianz: Hier wurden organisierte Beschäftigte von Bandenmitgliedern vor der Fabrik oder auf dem Heimweg mit Pistolen bedroht und aufgefordert, endlich mit der Gewerkschaftsarbeit Schluss zu machen. Andere erhielten Anrufe, in denen gedroht wurde, ihnen oder ihren Kinder etwas anzutun.
Wie schwierig es ist, eine unabhängige Gewerkschaft zu gründen, berichten junge Arbeiter bei einem Treffen im Büro der Gewerkschaft "FEASIES": Man hält die gewerkschaftliche Tätigkeit zunächst geheim, nicht einmal die Gewerkschaftsmitglieder in einem Betrieb erfahren, welche Kollegen dabei sind. Um eine verhandlungsfähige Gewerkschaft zu gründen, braucht man 35 Mitglieder.
Klingt wenig angesichts der häufig mehrere Tausend Arbeiter umfassenden Belegschaften einer Textilfabrik. Aber es ist trotzdem schwierig, sie zu finden, denn die Angst, den Job zu verlieren, ist bei den Angestellten enorm. Häufig sind die Aktiven schon froh, wenn sie sieben Leute beisammen haben. Dann können sie nämlich als Mitarbeitervertretung auftreten. Allerdings hat diese nur wenig Rechte und die Aktiven können sich beispielsweise kaum wehren, wenn das Unternehmen sie freistellt, um die Bildung einer Gewerkschaft in dieser frühen Phase zu unterbinden.
"Solche Vorwürfe kenne ich", sagt Mauricio Rodriguez, Präsident von CAMTEX, der Interessenvertretung von 108 Unternehmen aus den freien Produktionszonen. Natürlich gebe es überall schwarze Schafe, sagt er, aber die Mitgliedsunternehmen hielten sich an die Gesetze. Etwa die Hälfte der Firmen in den freien Produktionszonen seien jedoch keine Mitglieder, da könne er nichts machen. […]
Fraglos stehen auch die Unternehmer selbst unter Druck. Anders als in den Anfangstagen des Maquila-Booms müssen sie heute gegen die gigantische Konkurrenz aus Asien halten, wo die Löhne noch geringer sind und es ein noch viel größeres Heer an Arbeitswilligen gibt.
[…] Für die meisten Frauen sei spätestens mit 40 Jahren Schluss in der Textil-Maquila, sagt Sonja Lara. Sie können das hohe Arbeitstempo nicht mehr mithalten. […]
Casper Dohmen, "Im Takt der Nadel", in: Süddeutsche Zeitung vom 14. März 2015
Es wird deutlich: Sozialpolitik bewegt sich in vielen Spannungsfeldern. Weitere Themen lassen sich ohne Mühe ergänzen und mit Querschnittsfragen wie denen nach Geschlechtergerechtigkeit und Inklusion von Menschen mit Behinderungen (Gender und Diversity) verbinden. Es ist nicht einfach, hier Orientierung zu finden, die (eigenen) Interessenlagen zu erkennen, konträre Interessenlagen anderer zur Kenntnis zu nehmen und nach tragfähigen Kompromisslösungen zu suchen.
Ein Blick auf Stand und Entwicklung der Sozialpolitik in den vergangenen 70 Jahren soll bei allen Infragestellungen nicht übersehen, dass sich das deutsche Sozialmodell einerseits als verlässlich und wirksam, anderseits als erstaunlich flexibel und anpassungsfähig erwiesen hat. Diese Stabilität ist nicht zuletzt seinem charakteristischen Mischungsverhältnis der drei Grundnormen Eigenverantwortung, Solidarität und Subsidiarität geschuldet. Die Wirksamkeit dieser Grundnormen und ihre Akzeptanz quer durch alle demokratischen Parteien halten die sozialpolitischen Reformbewegungen insgesamt in der Balance – ein Wegdriften in sozialstaatliche Extreme ist auf absehbare Zeit kaum zu erwarten. In einer Gesellschaft, die Eigeninteresse und Eigenverantwortung betont und die Genuss zum vorrangigen Lebenssinn erklärt (Hedonismus), sind allerdings auch Einstellungen möglich, die (vermeintliche) Leistungsgerechtigkeit absolut setzen und rein auf Gewinnsteigerung orientiert, soziale und materielle Ungleichheit als Ergebnis gerechter Marktverteilung ansehen.
Damit liegt auf der Hand: Soziale Verhältnisse sind prinzipiell in alle Richtungen verhandel- und wandelbar. Eine Sozialpolitik, die möglichst vielen Menschen gerecht werden will, ist deshalb untrennbar mit dem demokratischen und sozialen Rechtsstaat verbunden. Sie allein kann seinen Bestand aber nicht garantieren. Die Bewahrung des sozialen Friedens erfordert eigenes Engagement – unterbleibt dieses, stellen andere die Regeln auf. Demokratie ist keine Dienstleistung, bei der man zu einem anderen Anbieter wechselt, wenn das Angebot nicht mehr stimmt, sie ist eine permanente Aufforderung sich zu beteiligen, sich einzumischen und dabei auch unbequem zu sein.
Jg. 1973, Diplom-Sozialarbeiter (FH) / Politikwissenschaftler. 2007 bis 2011 Professor für Politikwissenschaft an der Evangelischen Hochschule Freiburg, seit 2011 in gleicher Funktion an der Evangelischen Fachhochschule Rheinland-Westfalen-Lippe, Bochum. Fachliche Schwerpunkte: Armutspolitik im politischen Mehrebenensystem und politische Interessenvertretung in der Sozialen Arbeit. Kontakt: E-Mail Link: benz@efh-bochum.de
Jg. 1945, lehrt Politikwissenschaft an der Evangelischen Fachhochschule RWL in Bochum und an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Von 2001 bis 2010 zusammen mit den anderen Autoren dieses Heftes Mitglied des EU Network of Independent Experts on Social Inclusion der Europäischen Kommission. Arbeitsschwerpunkte sind allgemeine Sozialpolitik, Verteilungspolitik – darunter Armuts- und Reichtumsforschung – und Sozialethik. Kontakt: E-Mail Link: Ernst-Ulrich.Huster@t-online.de
Jg. 1982, Diplom-Sozialpädagoge, Diplom-Sozialarbeiter (FH) / Politikwissenschaftler. Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für soziale Arbeit Münster e. V. im Landesmodellvorhaben „Kein Kind zurücklassen! Kommunen in NRW beugen vor“. Lehrbeauftragter an der Evangelischen Fachhochschule RWL in Bochum und an der Universität Osnabrück. Von 2008 bis 2010 zusammen mit den anderen Autoren dieses Heftes Mitglied des EU Network of Independent Experts on Social Inclusion der Europäischen Kommission. Fachliche Schwerpunkte: Theorie der „sozialen“ Vererbung von Armut, Inklusionsstrategien und Soziale Ausgrenzung in Deutschland. Kontakt: E-Mail Link: Johannes.D.Schuette@gmail.com
Jg. 1966, Diplom-Sozialarbeiter (FH) / Politikwissenschaftler, lehrt seit 2007 Sozialpolitik an der Ostfalia Hochschule für angewandte Wissenschaften in Wolfenbüttel an der Fakultät Soziale Arbeit. Fachliche Schwerpunkte: allgemeine Sozialpolitik, Verteilungspolitik, Armut und soziale Ausgrenzung in Deutschland und Europa, politische Interessenvertretung in der Sozialen Arbeit und Entwicklung sozialer Dienste.
Helfen Sie mit, unser Angebot zu verbessern!
Ihre Meinung zählt: Wie nutzen und beurteilen Sie die Angebote der bpb? Das Marktforschungsinstitut Info GmbH führt im Auftrag der bpb eine Umfrage zur Qualität unserer Produkte durch – natürlich vollkommen anonym (Befragungsdauer ca. 20-25 Minuten).