Geschichte der Sozialpolitik: Normen und Prinzipien
Prof. Dr. Benjamin BenzProf. Dr. Ernst-Ulrich HusterDr. Johannes D. SchütteProf. Dr. Jürgen BoeckhJürgen Boeckh / Benjamin Benz / Ernst-Ulrich Huster / Johannes D. Schütte
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Angefangen bei der Tradition des Almosengebens über die solidarische Absicherung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bis hin zur Sozialen Marktwirtschaft und zunehmender europäischer Integration werden in diesem historischen Überblick die drei sozialpolitischen Grundnormen Eigenverantwortung, Solidarität und Subsidiarität nachvollzogen.
Zahlreiche Dokumente aus frühen Hochkulturen aus unterschiedlichen Regionen und zu unterschiedlichen Zeiten berichten von Bemühungen um soziale Fürsorge bzw. einen sozialen Ausgleich – etwa bei Hungersnöten, kriegerischen Ereignissen oder schweren Erkrankungen. Beispiele dafür sind der Bau von Kornspeichern im Ägypten der Pharaonenzeit zur Abwehr einer drohenden Hungersnot oder das bei Amtsantritt geleistete Versprechen mesopotamischer Könige, sich besonders den Armen zuzuwenden. Dabei dienten soziale Aktionen schon damals häufig der Herrschaftsstabilisierung, wie es im antiken Rom mit dem Schlagwort von "Brot und Spiele" zum Ausdruck kam. Doch im Regelfall war die Versorgung von Menschen Aufgabe des jeweiligen engeren Sozialverbandes: der Sippe, dem Vorstand eines Hausverbandes wie in Griechenland oder in Rom bzw. in frühen christlichen Gemeinschaften.
Von Politik sprechen wir erst seit der Herausbildung des neuzeitlichen Staates. Dessen Entstehung ist nicht an ein konkretes Ereignis gebunden; vielmehr löst sich die feudale Herrschaftsstruktur mit dem ausgehenden Mittelalter in einem mehrere Jahrhunderte währenden Prozess auf. Ein erster Einschnitt ist im 16. Jahrhundert zu verzeichnen, als sich die Geld- und Kreditwirtschaft ausdehnte, überregionale Märkte und selbstständige regionale Territorialherrschaften entstanden. Es stellte sich die Notwendigkeit verlässlicher Grundlagen für das Zusammenleben der Menschen, für deren wirtschaftliche Wohlfahrt und wechselseitigen Handel. Im Zentrum der Bemühungen standen (und stehen bis heute) vor allem der Schutz der innerhalb einer städtischen bzw. herrschaftlichen Gemeinschaft Lebenden nach innen und nach außen. Persönliches Eigentum entstand und sollte gegen unberechtigte und willkürliche Zugriffe geschützt werden. An eine soziale Absicherung der Menschen dagegen war zunächst nicht gedacht.
Gleichwohl haben sich schon in der sozialpolitischen "Vor-Zeit" Elemente herausgebildet, die bis heute bei der sozialen Gestaltung unseres Gemeinwesens nachwirken. Von besonderer Bedeutung in diesem Zusammenhang waren zwei Kernaussagen der hebräischen Bibel – des Alten Testaments: Es vertrat die Gottesebenbildlichkeit des Menschen und sprach von der Rechtsverletzung des Menschen durch Armut. Nach dem Schöpfungsbericht der Bibel (1. Mose, 1, 27) ist der Mensch Geschöpf Gottes und nicht Eigentum eines anderen Menschen; er hat eine unaufhebbare Würde, die allem menschlich gesetztem Recht vorgelagert ist. Dieser Gedanke ist fester Bestandteil eines christlichen Menschenbildes geworden und hat seinen Niederschlag in zahlreichen sozialethischen und politischen Dokumenten gefunden. So formuliert das Grundgesetz (GG) der Bundesrepublik Deutschland aus dem Jahr 1949 in Artikel 1 Abs. 1: "Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt." Der Artikel ist – wie Artikel 20, der die Grundnormen unseres Staates zusammenfasst – unveränderbar, also letztlich die höchste staatsrechtliche Norm.
Ein Zustand, der die menschliche Würde verletzt, bedeutet schon in der hebräischen Bibel Rechtsverletzung – das heißt: Verletzung eines von Gott gegebenen Rechts. Armut beschädigt diesem Verständnis folgend die Würde jedes Einzelnen. Der Betroffene muss wieder in sein aus der Schöpfungsgeschichte herrührendes Recht eingesetzt werden: "Schaffet Recht dem Armen und der Waise und helft dem Elenden und Bedürftigen zum Recht." (Psalm 82,3) Auch diese Forderung hat Auswirkungen bis in die Gegenwart: Die aktuelle Gesetzgebung für Leistungen der Mindestsicherung verankert den Rechtsanspruch auf Fürsorge für Menschen, die sich aus eigener Kraft nicht selbst helfen können, ohne dies an Vorleistungen zu binden.
Die Tradition des Almosengebens wurde im Christentum und auch in anderen Religionen, wie etwa im Islam, aufgegriffen und weiterentwickelt. Galt schon im jüdischen Kulturraum das Gebot, den Zehnten für die Armen zu opfern, wird dieses im mittelalterlichen Christentum institutionalisiert. Nun kommt ein weiteres Element dazu: Der Arme benötigt den Reichen, um durch dessen milde Gabe (Almosen) überleben zu können; dafür segnet der Arme den Reichen und betet für ihn um dessen Seelenheil. Auch wenn dieser direkte Zusammenhang zwischen Almosen und Gegenleistung so heute nicht mehr besteht, erwartet die (gebende) Gesellschaft vom hilfebedürftigen Leistungsempfänger eine – nun weltliche – Gegenleistung. Er soll daran mitwirken, dass der Zustand der Hilfsbedürftigkeit etwa durch Erwerbstätigkeit überwunden wird (Mitwirkungspflicht).
Darüber hinaus gab es bereits im ausgehenden Mittelalter Sicherungssysteme für ausgewählte Berufe und Personengruppen, die in einem besonderen wechselseitigen Treue- und Abhängigkeitsverhältnis zu ihren Landesherren standen. Daraus hat sich ein ebenfalls heute noch anzutreffender Teil staatlicher Sozialpolitik entwickelt, nämlich die Versorgung von Personen, die sich in besonderer Weise für das Gemeinwesen eingesetzt haben. Zu verweisen ist etwa auf die Kriegsopferversorgung und auf die Beamtenversorgung im Alter.
Diese Beispiele zeigen, dass die moderne Sozialpolitik sehr alte Wurzeln hat, auch wenn sie systematisch erst im 19. Jahrhundert, und da vor allem in der zweiten Hälfte einsetzt. Zugleich wird deutlich, dass Interventionen im sozialen Bereich von drei Bedingungen abhängig sind:
Zum einen bedarf es gesellschaftlich getragener normativer Maßstäbe, um einen als negativ empfundenen sozialen Zustand zu bewerten, der durch öffentliche Einrichtungen überwunden werden soll. Was wird als gut, was als schlecht eingestuft, was als gerecht, was als ungerecht? Diese Normen können unterschiedlich begründet und abgeleitet werden, in jedem Falle sind sie in einem hohen Maße abhängig von sozialen Interessen und historischen Gegebenheiten.
Zum zweiten bedarf es eines Interessenträgers, der sich für die Umsetzung einer Zielvorstellung einsetzt. Dabei können unterschiedliche Interessenträger zusammenwirken, aber auch untereinander Konflikte austragen. Bei den Interessenträgern kann es sich um Einzelpersonen oder kleinere Gruppen (etwa Verband alleinerziehender Eltern) handeln, aber auch um soziale Bewegungen wie etwa die Arbeiterbewegung oder die Frauenbewegung.
Und drittens bedarf es institutioneller Maßgaben, wie diese öffentlichen Regelungen getroffen werden, wer diese umsetzt und welche Adressaten damit gefördert oder sanktioniert werden. Hier geht es um die Verfassungsordnung und die darin vorgesehenen Kompetenzen für die jeweiligen Gremien bzw. Institutionen.
Anfänge staatlicher Sozialpolitik
Wie bereits oben angesprochen stellte das 16. Jahrhundert eine zentrale Zäsur in der geschichtlichen Entwicklung Europas und damit auch Deutschlands dar. Mit dem Ausbau der Geldwirtschaft, international handelnden Banken und dem beginnenden Fernhandel wurden Grundlagen eines Wirtschaftens gelegt, das auf Privateigentum an Produktionsmitteln beruhte und auf größtmögliche Gewinnmaximierung der Unternehmer sowie auf qualitative und quantitative Ausweitung der Märkte ausgerichtet war. Neue Erfindungen und Entdeckungen unterstützten diese Entwicklung. Sie hatte zur Folge, dass die Naturalwirtschaft gegenüber der Geldwirtschaft an Bedeutung verlor und die wirtschaftliche Situation der Landbevölkerung sich verschlechterte. Viele Landbewohner flohen aus feudalen Abhängigkeitsverhältnissen in die Städte, wo sie sich größere Freiheit und ein auskömmlicheres Leben erhofften, und trugen damit dort zum steigenden Bevölkerungswachstum bei. Durch die Konkurrenz importierter Waren geriet jedoch gleichzeitig auch das in Zünften organisierte städtische Handwerk unter Druck. Die Zahl der Armen stieg. Noch bevor also die neue – kapitalistische – Wirtschaftsform mit der Industrialisierung voll zum Tragen kam, verloren traditionelle soziale Sicherungssysteme bereits an Bedeutung. Die wachsende Armut war mit der althergebrachten kirchlichen Armenfürsorge nicht mehr zu bewältigen.
Per Edikt von 1531 verpflichtete Kaiser Karl V (1500–1558) die Städte zum Auffangen dieser Armut. In ihren Bettelordnungen wurde zwischen würdigen und unwürdigen Armen unterschieden. Die Idee dahinter: Waren Arme ohne eigenes Verschulden in die Hilfsbedürftigkeit gefallen, so erhielten sie Hilfe, während Personen, die als fähig zur Selbsthilfe angesehen wurden, ohne Unterstützung blieben und zur Arbeit angeleitet werden sollten. Die Bettelordnungen legten hierzu sehr detaillierte Vorschriften und Regelungen fest, auch darüber, wie, wann, wo und von wem das Betteln erlaubt war. Dieser repressive Charakter städtischer Sozialpolitik wurde im Laufe des 17. Jahrhunderts zunehmend verschärft: Betroffene wurden in sogenannten Arbeitshäusern einer zumeist menschenunwürdigen Arbeitspflicht unterworfen.
Mit der Erfindung der Dampfmaschine in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, der Entdeckung neuer Rohstoffquellen und dem wachsenden Bedarf an industriell gefertigten Produkten setzten sich zunächst in England, später auf dem europäischen Kontinent industriell-kapitalistische Wirtschaftsstrukturen durch. Diese Entwicklung ging einher mit der auch rechtlichen Aufhebung feudaler Leibeigenschaft und der Freisetzung von Arbeitskräften. Parallel dazu vollzog sich der Beginn einer gesamtstaatlichen Sozialpolitik, getragen von neuen sozialen Bewegungen und der Herausbildung von drei zentralen sozialen Grundnormen.
Eigenverantwortung: Mit der Auflösung der Feudalordnung bildeten sich Anfänge einer bürgerlichen Gesellschaft heraus – in den Stadtstaaten schneller als in den Flächenstaaten. Der Genfer Philosoph und Pädagoge Jean Jacques Rousseau (1712–1778) wurde ein bedeutendes Sprachrohr des neuen Bürgertums. Seine 1763 veröffentliche Schrift: "Vom Gesellschaftsvertrag oder Prinzipien des Staatsrechtes" beginnt programmatisch: "Der Mensch ist frei geboren, überall aber liegt er in Ketten" – in den Ketten der ständischen Feudalordnung. Rousseau forderte die Aufhebung der Standesprivilegien, die Adel und kirchliche Würdenträger traditionell beanspruchten, und die Freisetzung des Einzelnen. Jeder solle Eigenverantwortung übernehmen und entsprechend seiner Leistung bewertet werden. Gerecht ist in der Sicht Rousseaus, was der individuellen Leistung entspricht. Allerdings sollten auch zu starke Ungleichheiten vermieden werden; Ziel war eher eine in etwa gleiche (durchschnittliche) Verteilung der Vermögen unter den Bürgern (état médiocre).
Solidarität: Rousseau konnte als Sprecher der bürgerlichen Emanzipation noch nicht absehen, dass mit dem Bürgertum zugleich eine neue Klasse entstand, verarmte Unterschichten, für die sich im 19. Jahrhundert der Begriff durchsetzte. In England begann diese Entwicklung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in Deutschland ab den 1820er-Jahren. Die Arbeiter und Arbeiterinnen waren – eine Formulierung des Gesellschaftstheoretikers Karl Marx (1818–1883) aufgreifend – zwar einerseits als Menschen frei, also aus dem feudalen Zwangsverhältnis der Leibeigenschaft entlassen, andererseits aber auch "frei" von Produktionsmitteln. Das heißt, sie besaßen keine Mittel zur Herstellung von Waren und waren deshalb auf den Verkauf ihres einzigen Vermögens – ihrer Arbeitskraft – angewiesen. Ihre Entlohnung, die Dauer ihrer täglichen Arbeitszeit in den neuen Fabriken, ihre Arbeitsbedingungen sowie die Frage, ob und inwieweit der Staat sich um ihre Lebensbedingungen kümmern sollte, wurden zum sozialen und politischen Konfliktfeld. Mit neuen Kampfformen – solidarischer Arbeitsverweigerung, also Streiks, und anderen demonstrativen Akten der Gegenwehr – wurden an Stelle einseitiger Festlegung von Arbeitsbedingungen durch die Fabrikherren neue kollektive Vereinbarungen etwa in Gestalt von Tarifverträgen durchgesetzt. Zugleich organisierten und finanzierten die Arbeiter selbst freiwillige Hilfskassen zur solidarischen Absicherung gegen Risiken wie Krankheit und Invalidität. Es blieb aber die Frage offen, ob lediglich die Arbeits- und Lebensbedingungen innerhalb des kapitalistischen Systems verbessert werden sollten oder aber dieses selbst überwunden werden müsste. Die Entwicklung folgte im weiteren geschichtlichen Verlauf insbesondere in Deutschland stärker den reformorientierten Vorstellungen etwa eines Ferdinand Lassalle (1825–1864), wenngleich es immer auch Rückbezüge zu den beiden Theoretikern des Marxismus – Karl Marx und Friedrich Engels (1820–1895) – gegeben hat. Der Begriff Gerechtigkeit nahm nun eine zweite Bedeutung an, nämlich die von Solidarität: Soziale Risiken betreffen zwar den Einzelnen, sind aber – so die Sichtweise der Arbeiterbewegung – durch die allgemeinen Lebens- und Arbeitsbedingungen verursacht und sollen deshalb nicht vom Einzelnen alleine bewälltigt, sondern solidarisch überwunden werden.
Subsidiarität: Schließlich wurde im 19. Jahrhundert ein drittes normatives Element entwickelt – das der voraussetzungslosen, subsidiären Gerechtigkeit. Diese Vorstellung wurde vor allem in der katholischen Soziallehre entwickelt, zunächst von Papst Leo XIII (1810–1903) in der Enzyklika Rerum novarum (1891), dann ausführlicher von Papst Pius XI (1857–1939) in der Enzyklika Quadrogesimo anno (1931). Ausgangspunkt war der oben angeführte Gedanke der hebräischen Schöpfungsgeschichte, dass der Mensch als Ebenbild Gottes eine unbedingte, von Gott abgeleitete Würde hat. Dies verpflichtet das Gemeinwesen, Menschen in Not dann zu helfen, wenn sie dazu selbst nicht in der Lage sind, aber auch nur so, dass der Einzelne wieder befähigt wird, sich selbst zu helfen. "Hilfe zur Selbsthilfe" bedeutet, dass die Hilfe der jeweils höheren Einheit voraussetzungslos zu erfolgen hat, aber auch nur so weit gehen darf, dass die Eigeninitiative dadurch nicht eingeschränkt wird.
Eigenverantwortung, Solidarität, Subsidiarität – Gerechtigkeitsvorstellungen in unserem Sozialsystem fußen auf diesen Grundnormen, die gesellschaftlich so breit anerkannt sind, dass letztlich wohl niemand eines dieser Elemente ganz aufgeben will. Allerdings besteht Uneinigkeit darüber, welches Gewicht welchem Element zukommen soll: Mehr Eigenverantwortung, mehr Solidarität oder mehr Subsidiarität? Aktuelle parteipolitische Aussagen zur Sozialpolitik lassen sich danach untersuchen, welchen Grundnormen sie näher und welchen sie ferner stehen bzw. wie sie diese in ihrer Programmatik und in ihrer praktischen Politik einsetzen.
Etappen deutscher Sozialpolitik
Das Jahr 1839 stellte eine Zäsur staatlicher Politik dar. Das preußische "Regulativ über die Beschäftigung jugendlicher Arbeiter in Fabriken" nahm sich erstmalig landesweit eines sozialen Missstandes der frühen Industrialisierung an: Es beschränkte die Kinderarbeit in den Fabriken. Einerseits hatte sich das Militär beschwert, dass die Industriearbeit die Körper der jungen Männer so stark schädige, dass der König nicht mehr genug kampffähige Soldaten bekommen werde, andererseits klagten liberale Bildungsreformer die Umsetzung ihrer Ideale in der Bildungspolitik ein. Es war ein erster Schritt, auch wenn er mangels Kontrollen weitgehend wirkungslos blieb – das Prinzip aber war nunmehr klar formuliert: Wirtschaften in kapitalistischen Betrieben ist kein ausschließlich der Vertragsfreiheit unterliegendes privates Rechtsverhältnis, in dem Arbeitgeber und Arbeitnehmer in individueller Freiheit ihre wechselseitigen Leistungen aushandeln. Vielmehr gibt es allgemeine gesellschaftliche und damit staatliche Interessen, in diesem Bereich sozialrechtliche und damit allgemeinverbindliche Regelungen vorzunehmen.
Die Grundlegung im Obrigkeitsstaat
Im Jahr 1881 verkündete der damalige Reichskanzler, Fürst Otto von Bismarck (1815–1898), die Regierung werde dem Reichstag drei sozialpolitische Gesetzentwürfe zuleiten. Schon der Preußische Landtag hat sich mehrfach mit der "sozialen Frage", also der zunehmenden Verarmung von großen Teilen der Bevölkerung als Folge der Industrialisierung, beschäftigt. Doch auch Teile der Ministerialbürokratie und angesehene Persönlichkeiten aus Wissenschaft, Kunst, aber auch Wirtschaft sahen hier einen wachsenden Regelungsbedarf. Und schließlich verfolgte der konservative Obrigkeitsstaat mit Sorge das Erstarken der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung. Der kaiserliche Staat wollte dieser neuen Bewegung die Grundlage ihrer Agitation gegen den Kapitalismus entziehen, nachdem er zuvor schon versucht hatte, durch das "Sozialistengesetz" von 1878 deren institutionelle Möglichkeiten drastisch einzuschränken. Die von Bismarck vorgeschlagene sozialpolitische Gesetzgebung knüpfte also einerseits an eine breite Diskussion an und fand Unterstützung, doch gab es auch großen Widerstand vor allem aus der Wirtschaft, der Wissenschaft und konservativen Kreisen.
In relativ kurzer Zeit wurden Gesetze verabschiedet, die wichtige Strukturmerkmale festlegten: 1883 eine gesetzliche Krankenversicherung, 1884 eine gesetzliche Unfallversicherung und 1889 eine gesetzliche Invaliden- und Altersversicherung.
Die Sozialversicherung bezog sich zunächst nur auf die Arbeiterinnen und Arbeiter sowie niedrig bezahlte Angestellte. Erst allmählich wurde ihr Wirkungskreis ausgeweitet. So kam etwa im Rahmen der Krankenversicherung die solidarische Mitversicherung von Familienangehörigen hinzu. Die höheren Angestellten wurden dann im Jahr 1911 sozialversicherungsrechtlich abgesichert.
Reformprojekte des Sozialstaates: das Experiment von Weimar
Der Umsturz nach dem Ersten Weltkrieg brachte nicht nur die Republik, sondern auch sozialreformerische Mehrheiten an die Macht (SPD, Zentrum und Sozialliberale). Frauen erhielten nun generell das Wahlrecht, Bezieherinnen und Bezieher von Armenunterstützung waren bei den Wahlen nicht länger ausgeschlossen. In den Ländern Preußen und Sachsen sowie andererorts wurde das Dreiklassenwahlrecht abgeschafft. Die erste demokratische Verfassung, die auf deutschem Boden im Jahr 1919 verabschiedet und in Kraft getreten war, sah staatliche Lenkungsmaßnahmen in der Wirtschaft und einen umfangreichen Ausbau der Sozialpolitik vor.
Zwar erschwerten die Kriegsfolgen, hohe Verluste an Menschen und Vermögen, die Auflagen der Siegermächte und innenpolitische Unruhen eine geordnete Sozialpolitik. Gleichwohl ging die Politik daran, die Reformversprechen der Verfassung umzusetzen, wenn es auch erst der Konsolidierung der Finanzen bedurfte, um dann vor allem nach 1924 wichtige Gesetze auf den Weg zu bringen. Die drei großen sozialpolitischen Maßnahmen in der Weimarer Republik sind:
das Reichsjugendwohlfahrtsgesetz (RJWG) von 1922/24: Die Jugendfürsorge wurde aus der allgemeinen Armenfürsorge herausgelöst;
die Reichsgrundsätze über Voraussetzung, Art und Maß der öffentlichen Fürsorge (RGr) von 1924/1925: Sie enthielten erste Schritte hin zu einer Vereinheitlichung der Fürsorgepolitik und regelten Fürsorgeleistungen für Menschen, die unter Kriegsfolgen litten;
das Gesetz über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (AVAVG) von 1927: Die Arbeitsvermittlung wurde von der kommunalen Ebene auf die staatliche Ebene verlagert; erstmals wurde eine Arbeitslosenversicherung eingeführt.
Konnte Bismarcks Sozialgesetzgebung noch auf einer soliden Finanzierung aufbauen, die später durch die Rüstungskonjunktur vor dem Ersten Weltkrieg verstärkt wurde, litt die Sozialpolitik in der Republik von Weimar strukturell an ökonomischer und finanzwirtschaftlicher Destabilität. Von 1922 bis 1924 herrschte Hyperinflation, und auf eine kurze Phase der Stabilisierung folgte 1929 die Weltwirtschaftskrise. Sie führte zum Zusammenbruch der sozialreformerischen Sozialpolitik. Heinrich Brüning (1885–1970), der letzte demokratisch zu nennende Reichskanzler, musste als Minderheitenkanzler und gestützt auf Notverordnungen des Reichspräsidenten regieren. Der Sozialstaat wurde in zentralen Punkten abgebaut, um die Ausgaben der Sozialversicherungen dem um 30 Prozent geschrumpften Sozialprodukt "anzupassen".
Sozialpolitik für die "Freunde" – "Ausmerze" für die "Feinde"
Das faschistische "Dritte Reich" war kein auf Teilhabe aller zielender Sozialstaat. Er betrieb zwar Sozialpolitik, diese war allerdings auf die völkische Ideologie ausgerichtet. Das bedeutete konkret: Förderung, Zucht und Erziehung der "arischen Volksgenossen" in der "Volksgemeinschaft" – Ausgrenzung, Beraubung und Vernichtung der als "Feinde" deklarierten Bevölkerungsgruppen. Aktuelle Befragungen zeigen, dass in Deutschland dem "Dritten Reich" seitens (auch junger Menschen innerhalb) der Bevölkerung immer noch positive Elemente zugeordnet werden wie die Überwindung der Arbeitslosigkeit, der Bau der Autobahnen, die Hilfen für Familien oder die Familienfreizeiten. Vergessen wird dabei, wozu und wie dieses erreicht wurde, nämlich zur Kriegsvorbereitung und durch die Aufhebung der Grund- und Menschenrechte: Politische Gegner und andere soziale Gruppen – insbesondere Menschen jüdischer Abstammung – wurden systematisch aus dem öffentlichen Dienst, später auch aus den privaten Beschäftigungsverhältnissen ausgegrenzt. Viele von ihnen wurden als Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter bei staatlichen Infrastrukturprojekten sowie in der Privatwirtschaft geradezu versklavt, sehr viele wurden verfolgt und schließlich Millionen Menschen ermordet. Eigentum bestimmter Bevölkerungsgruppen wurde beschlagnahmt und geraubt. Schließlich wurden im Krieg besetzte Gebiete ausgeplündert. Bis heute machen die Opfer und manche Staaten ihre Ansprüche auf Wiedergutmachung geltend.
Die Ressourcen der Sozialversicherung wurden für die Aufrüstungspolitik missbräuchlich verwendet. Die Sozialversicherungen wurden "gleichgeschaltet", das heißt, die im Kaiserreich eingeführte Selbstverwaltung der Sozialversicherung wurde abgeschafft. Die Sozialversicherung unterstand direkt dem Staat, sodass eine Mitbestimmung und Kontrolle durch die Versicherten in den Selbstverwaltungsparlamenten der Sozialversicherungsträger nicht mehr stattfinden konnten. Als am 8. Mai 1945 der Zweite Weltkrieg in Europa endete, war Deutschland durch Bomben und sonstige Kriegshandlungen in vielen Teilen stark zerstört, zugleich waren Millionen Menschen umgekommen oder verletzt und Millionen Vertriebene auf der Flucht. Die Grundlagen einer geordneten Sozialpolitik waren vernichtet. Es gab keine Leistungen der Renten- und der Krankenversicherung mehr, es herrschte eine Not, deren Ausmaß sich allenfalls erahnen lässt, wenn man in den Nachrichten die Folgen aktueller kriegerischer Auseinandersetzungen etwa in Nahost oder Teilen von Afrika verfolgt.
Neuanfang oder Wiederaufbau?
1945 existierte der deutsche Staat nicht mehr. Die vier Siegermächte, USA, Großbritannien, Sowjetunion und Frankreich, hatten Deutschland besetzt und in vier Besatzungszonen eingeteilt. Die deutsche Bevölkerung hungerte, Armutskrankheiten wie Tuberkulose grassierten. Hilfsprogramme der Besatzungsmächte wie Schulspeisungen und sogenannte Care-Pakete aus den USA schafften Linderung, nicht aber Abhilfe. Erst allmählich wurden deutsche Kräfte von den Siegermächten wieder in die Regelung des alltäglichen Lebens eingebunden.
Das Jahr 1946 stellte eine Wende dar: In der amerikanischen Besatzungszone wurden kommunale Selbstverwaltungsorgane zugelassen, Landesverfassungen verabschiedet und erste Landtage gewählt. Zugleich kündigte die amerikanische Besatzungsmacht einen Politikwechsel an: Deutschland sollte zusammen mit anderen Staaten wieder wirtschaftlich erstarken – mittels amerikanischer Hilfslieferungen, dem sogenannten European Recovery Program (ERP), bekannter unter dem Namen Marshall-Plan. Diese Aufbauhilfe war keineswegs bloß uneigennützig, vielmehr konnten die USA ihre Überkapazitäten bei der Umstellung der Kriegs- auf die Friedenswirtschaft nach Europa ausrichten. Die Empfängerländer waren allerdings an die Auflage gebunden, eine freie Marktwirtschaft und damit den Zugang westlicher Waren und Dienstleistungen zu garantieren. Bestrebungen, etwa in Teilen Westdeutschlands, die Wirtschaft stärker sozialistisch auszurichten, erteilten die USA und in ihrem Verbund Großbritannien eine strikte Absage. Die westdeutsche Wirtschaft, insbesondere die Schwer- und Großindustrie, stand zunächst unter Verwaltung der Besatzungsmächte; sie wurde nun in Etappen wieder an Deutsche zurück übertragen. Zugleich verfolgten die USA das Ziel, mit Deutschland als Lieferant von Investitionsgütern auch die anderen Teile der westeuropäischen Wirtschaft wieder in Gang zu setzen.
Konnte sich so einerseits (West-)Deutschland wirtschaftlich festigen, hatte dies andererseits die Spaltung Deutschlands und darüber hinaus Europas in Ost und West zur Folge. Die Hilfen sollten zwar den osteuropäischen Ländern nicht ausdrücklich vorenthalten werden, aber die Vergabe war doch strikt an marktwirtschaftliche Auflagen gebunden. Weil die osteuropäischen Staaten nach den Vereinbarungen der Siegermächte nun der sowjetischen Einflusssphäre zugeordnet waren, wurde die Übernahme der Marshall-Plan-Hilfen in Osteuropa von der Sowjetunion denn auch abgelehnt.
Nach dem Zusammenbruch des Deutschen Reiches blieb zunächst die Reichsmark das Zahlungsmittel in Deutschland. Allerdings gab es eine starke Inflation, Folge der ungehemmten Geldmengenausweitung, die der NS-Staat zur Finanzierung des Krieges betrieben hatte, sowie des Zusammenbruchs weiter Teile der Güterproduktion. Die Geldentwertung der Reichsmark nahm zwar nicht die Ausmaße wie nach dem Ersten Weltkrieg an, war aber gleichwohl beachtlich. Die Marshall-Plan-Hilfen waren aber an die Schaffung einer stabilen Währung in den Westzonen Deutschlands gebunden. Die Währungsreform vom 20. Juni 1948 löste die funktionslos gewordene Reichsmark durch die Deutsche Mark ab, begleitende Steuergesetze entlasteten die Wirtschaftsunternehmen mit dem Ziel, die Investitionstätigkeit zu fördern. Der Korea-Krieg 1950/51 schließlich verstärkte den Export, weil weltweit die Nachfrage nach deutschen Investitionsgütern und Rohstoffen stieg und im Inland die Binnennachfrage dadurch angekurbelt wurde. Das Wirtschaftswunder begann. Die Arbeitslosigkeit ging in kürzester Zeit massiv zurück, die Lohneinkommen stiegen – von einem extrem niedrigen Ausgangspunkt – allmählich an. Durch zahlreiche sozialpolitische Gesetze wurden in der ersten Legislaturperiode des Deutschen Bundestags (1949–1953) Notregelungen beschlossen, zugleich die Selbstverwaltungsstrukturen der Sozialversicherungen wieder in Kraft gesetzt. Mit dem Konzept der "Sozialen Marktwirtschaft", parteipolitisch zunächst vor allem von den Unionsparteien propagiert, später dann auch von den anderen relevanten politischen Kräften übernommen, wurde zugleich der Rahmen für eine neue anzustrebende Synthese von Wirtschaftsinteressen und sozialem Ausgleich formuliert.
Gleich zu Beginn der 1950er-Jahre setzte deshalb eine breite parteiübergreifende Diskussion ein, ob und wie denn nun diejenigen, die noch nicht bzw. nicht mehr im Erwerbsleben standen, an diesem wirtschaftlichen Aufstieg teilhaben könnten. Die Rentenreform von 1957 brachte in doppelter Hinsicht eine Dynamisierung der Renten. Das durchschnittliche Rentenniveau betrug laut einer Untersuchung von 1954 28 bis 32 Prozent der vergleichbaren Löhne und Gehälter. Altersarmut war verbreitet, denn durch den Krieg hatten viele alte Menschen keine Kinder zur Versorgung mehr, private Ersparnisse waren durch Krieg, Vertreibung, Inflation vernichtet. Mit der Dynamisierung erfolgte eine laufende Anpassung der Renten an die Lohnentwicklung, um die Rentner am wirtschaftlichen Aufschwung zu beteiligen. Die Reform brachte eine massive Erhöhung der Renten um 60 Prozent. Die Altersrente galt nicht mehr als Zuschuss zum Unterhalt, sondern als vollwertiger Lohnersatz, der zur Sicherung des Lebensstandards ausreichen sollte. Voraussetzung war allerdings, dass die arbeitenden Generationen ein ausreichendes Einkommen erwirtschafteten. Die Reform verbesserte die Lebensgrundlagen von Millionen Rentnerinnen und Rentnern erheblich und festigte das allgemeine Vertrauen in die Funktionsfähigkeit des westdeutschen Sozialstaates.
Mit der Reform der Kriegsopferversorgung im Jahr 1963 wurde das Prinzip der Dynamisierung auch bei den Kriegsopferrenten eingeführt. Und schließlich wurde 1961/62 mit dem Bundessozialhilfegesetz (BSHG) die Armenfürsorge im demokratischen Sinne neu geregelt. Es wurden erstmalig nachvollziehbare Kriterien festgeschrieben, um die Leistungshöhe festzulegen. Zugleich wurde ein Instrumentarium geschaffen, das geeignet war, unterschiedlichen individuellen Notlagen angemessene Hilfen zukommen zu lassen. Die erste Große Koalition aus CDU/CSU und SPD (1966–1969) rundete die Neuordnung der Sozialversicherung mit einer Ablösung des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (AVAVG) von 1927 durch das Arbeitsförderungsgesetz (AFG) von 1969 ab. Arbeitsmarktpolitik sollte präventiv Arbeitslosigkeit verhindern. Ein breites Set an entsprechenden Maßnahmen von der Berufsberatung bis hin zu Maßnahmen der Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt wurde gesetzlich verankert.
Politik der inneren Reformen
Diese sozialpolitische Aufbauleistung gilt es auch aus heutiger Sicht zu würdigen. Allerdings wurde deutlich, dass die großen Systeme viele Lücken gelassen hatten und insbesondere die Chancengleichheit zu wenig förderten. Die Politik der inneren Reformen, getragen von einer Regierungskoalition aus Sozialdemokratie und (sozialem) Liberalismus (FDP) (1969–1982), suchte nach neuen Lösungen. Einige wenige seien angesprochen:
Die 1957 verabschiedete Rentenreform verbesserte zwar die Lebenslage sehr vieler Rentnerinnen und Rentner, machte aber die Rentenhöhe letztlich vom tatsächlichen Lohn abhängig. Niedrige Löhne und Phasen der Nichterwerbsarbeit führten zu niedrigen Renten und umgekehrt. Über die 1972 geschaffene Rente nach Mindesteinkommen konnten Renten von (meist) Rentnerinnen, die mindestens 25 Jahre gearbeitet hatten, angehoben werden.
Für Schüler/-innen und Studierende wurde mit dem 1971 verabschiedeten Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG) ein umfassendes Fördersystem geschaffen.
Mit der Neufassung des § 1356 im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) wurde, mehr als 25 Jahre nach Verabschiedung des Artikels 3 des Grundgesetzes zur Antidiskriminierung, die Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau in der Ehe festgeschrieben.
Die in unterschiedlichen Gesetzen festgelegten sozialpolitischen Regelungen sollten in ein einheitliches Sozialgesetzbuch (SGB) überführt werden. Dieses Werk, nunmehr bestehend aus zwölf Büchern, wurde in den 1970er-Jahren begonnen, sukzessive fortgesetzt, aber erst im Jahr 2005 abgeschlossen. Die Aufnahme neuer Gesetze ins SGB war meist mit Reformen verbunden.
QuellentextVon der Hausfrauenehe zur Partnerschaft
In dem Ehegesetz von 1957 [Bürgerliches Gesetzbuch, BGB], mit dem die grundgesetzliche Gleichberechtigung von Frau und Mann verwirklicht werden sollte, hieß es:
§ 1356 (1) Die Frau führt den Haushalt in eigener Verantwortung. Sie ist berechtigt, erwerbstätig zu sein, soweit dies mit ihren Pflichten in Ehe und Familie vereinbar ist. […]
§ 1360 Die Ehegatten sind einander verpflichtet, durch ihre Arbeit und mit ihrem Vermögen die Familie angemessen zu unterhalten. Die Frau erfüllt ihre Verpflichtung, durch Arbeit zum Unterhalt der Familie beizutragen, in der Regel durch die Führung des Haushalts; zu einer Erwerbsarbeit ist sie nur verpflichtet, soweit die Arbeitskraft des Mannes und die Einkünfte der Ehegatten zum Unterhalt der Familie nicht ausreichen. […]
In dem Ehegesetz von 1977 wurden diese Paragraphen folgendermaßen abgeändert:
§ 1356 Die Ehegatten regeln die Haushaltsführung in gegenseitigem Einvernehmen. Ist die Haushaltsführung einem der Ehegatten überlassen, so leitet dieser den Haushalt in eigener Verantwortung. Beide Ehegatten sind berechtigt, erwerbstätig zu sein. Bei der Wahl und Ausübung einer Erwerbstätigkeit haben sie auf die Belange des anderen Ehegatten und der Familie die gebotene Rücksicht zu nehmen. […]
§ 1360 Die Ehegatten sind einander verpflichtet, durch ihre Arbeit und mit ihrem Vermögen die Familie angemessen zu unterhalten. Ist einem Ehegatten die Haushaltsführung überlassen, so erfüllt er seine Verpflichtung […] in der Regel durch die Führung des Haushaltes.
Susanne Asche / Anne Huschens (Hg.), Frauen – Gleichberechtigung / Gleichstellung / Emanzipation?, Frankfurt/M.: Diesterweg Verlag 1990, S. 124 f.
Diese Politik war sehr populär. Doch die Weltwirtschaftskrise, die in den 1970er-Jahren auch Deutschland erfasste, erzwang einen strukturellen Wandel, der sich auch auf die Sozialpolitik auswirkte. Auslöser war die "Ölkrise", die 1973 aus dem Lieferboykott der erdölfördernden arabischen Staaten resultierte. Sie verdeutlichte, wie abhängig die Wachstumsgesellschaft von Erdölimporten war, und führte u. a. zum Rückgang der Nachfrage nach deutschen Exporterzeugnissen, dem die Wirtschaft mit weiteren Rationalisierungsinvestitionen begegnete. Der Industriesektor verlor gleichzeitig zunehmend an Gewicht. Der Dienstleistungsbereich nahm dafür an Bedeutung zu, ohne allerdings zunächst den Arbeitsplatzverlust an anderer Stelle qualitativ und quantitativ aufzufangen. Die Folge war eine wachsende Massenarbeitslosigkeit. Sie erforderte steigende Ausgaben, um ihre sozialen Folgen abzumildern, gleichzeitig minderte sie die staatlichen Steuereinnahmen und somit auch die Einnahmen der Sozialversicherungsträger. In dieser Situation fielen bereits erste Leistungen des Sozialstaates dem Rotstift zum Opfer.
Die Politik der Kürzungen wurde nach dem Regierungswechsel 1982 hin zu einer CDU/CSU/FDP-Regierung (1982–1998) zunächst konsequent fortgesetzt, musste aber neueren gesellschaftlichen Entwicklungen Rechnung tragen. So hatte die steigende Lebenserwartung zu einer erhöhten Anzahl Pflegebedürftiger und zu einer längeren Dauer der Pflegebedürftigkeit geführt. Viele Betroffene konnten dies privat nicht mehr finanzieren und mussten Sozialhilfe beantragen. Ein langwieriger Meinungsbildungsprozess darüber wie diesem Problem begegnet werden sollte, führte schließlich zur Einführung der Gesetzlichen Pflegeversicherung im Jahr 1995.
Der andere Staat: Sozialpolitik in der DDR
Als Reaktion auf die Entwicklungen in Westdeutschland wurde in der sowjetischen Besatzungszone am 23. Juni 1948 eine eigene Währung eingeführt und am 7. Oktober 1949 ein eigenständiger Staat gegründet, der den Grundzügen des Sozialismus folgen sollte. Auch hier herrschte Not als Folge des Krieges, verstärkt durch Reparationsleistungen an die sowjetische Besatzungsmacht. Die gesellschaftlichen Umwälzungen, die die Angleichung an das Sowjetsystem mit sich brachte, hatten zur Folge, dass viele Menschen, darunter viele Fachkräfte, Akademiker und Unternehmer, aus der DDR in den Westen Deutschlands flohen. Die Sozialpolitik in der DDR unterschied sich in wesentlichen Punkten von der Sozialpolitik Westdeutschlands:
Ein Recht auf Arbeit wurde konsequent umgesetzt. Dabei ging es oftmals weniger um eine realen Notwendigkeiten entsprechende Beschäftigung, sondern eher um die Besetzung eines formalen Arbeitsplatzes.
Das gesamte Sozialsystem war stark an den Betrieben ausgerichtet. Sie unterhielten Kindertagesstätten, boten vor allem Frauen formelle und informelle Regelungen zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf und regelten Ferienaufenthalte. Sozialfürsorgerische Kräfte in den Betrieben unterstützten Familien bzw. Privathaushalte bei der Bewältigung von Problemen etwa in der Erziehung der Kinder. Diese Hilfen und Eingriffe dienten zugleich der staatlich verordneten Einbindung der Beschäftigten in das sozialistische Gesellschaftsmodell.
Es gab eine Mindestrente für alle, also auch für Personen, die nicht am Erwerbsleben teilnehmen konnten.
Der Grundbedarf an Lebensmitteln, Wohnraum, öffentlicher Beförderung u. a. wurde staatlicherseits so stark subventioniert, dass dadurch ein relativ niedriges Einkommensniveau – wie etwa die Mindestrente – sozial flankiert wurde (Preissubvention bzw. -regulation). Gleichzeitig entfernte sich diese Preispolitik allerdings stark von den Herstellungskosten und trug zum Staatsbankrott der DDR mit bei.
Hochwertige Konsum- und Luxusgüter waren erhältlich, aber oft erst nach langem Ansparen bzw. mit westlichen Devisen.
Von den sozialpolitischen Institutionen der DDR ist nach ihrem Ende wenig übrig geblieben. Dieses hängt zum einen mit den sich mitunter ausschließenden Systemlogiken zwischen Ost und West zusammen: In einem kapitalistisch-marktwirtschaftlichen System ist ein Recht auf Arbeit nicht umsetzbar. Zum anderen verbanden sich das westdeutsche Eigeninteresse auf Erhalt des dort fest verankerten Sozialsystems mit ostdeutschen Erwartungen, das bewährte Westsystem werde sehr bald eine allgemeine Wohlstandsmehrung auch in Ostdeutschland bewirken. Lediglich der ehemalige DDR-Wohlfahrtsverband – die Volkssolidarität – existiert unter dem Schirm des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes (DPWV) weiter. Und die gesamtdeutsche Sozialpolitik hat im Jahr 2002 wenn schon nicht eine Mindestrente, so doch eine Grundsicherung im Alter und bei dauerhafter Nichterwerbstätigkeit (SGB XII) eingeführt. Ansonsten wurde das ostdeutsche Sozialsystem in die westdeutschen Strukturen eingeordnet; die Rentenansprüche aus DDR-Zeiten wurden entsprechend dem westdeutschen Rentensystem neu berechnet.
Wiedervereinigung und Europäisierung
In den 1990er-Jahren und seit dem Übergang ins 21. Jahrhundert laufen in der Sozialpolitik zwei Entwicklungen parallel: die Herstellung der deutschen Einheit und die stärkere europäische Integration. Beide zusammen haben die Grundlagen der Sozialpolitik neu justiert.
Die Herstellung der deutschen Einheit war und ist bis heute mit einem hohen Mittelaufwand verbunden. Nur so konnten die Folgen des tiefgreifenden Strukturwandels in der ostdeutschen Wirtschaft sozialpolitisch abgefedert werden. Dieser im Zeitraffer stattfindende Strukturwandel in Ostdeutschland traf auf den bereits seit Mitte der 1970er-Jahre stattfindenden wirtschaftlichen Strukturwandel in Westdeutschland. Zur ohnehin hohen westdeutschen Arbeitslosenrate kamen nun die ostdeutschen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die aufgrund der zusammenbrechenden ostdeutschen Wirtschaftsbetriebe ihren Arbeitsplatz verloren. Dieser Massenarbeitslosigkeit – über vier Millionen Personen im Jahresdurchschnitt 2002 – suchte die Bundespolitik mit einer Arbeitsmarktreform entgegenzutreten. Unter dem Motto "Fördern und Fordern" wurden die Hilfeinstrumente qualitativ und quantitativ verstärkt und mit sanktionsbewehrten Auflagen verbunden. Damit sollte zum einen der Eintritt in die Arbeitslosigkeit verhindert, zumindest die Verweildauer verkürzt werden. Zum anderen sollte die Wiederaufnahme von Arbeit auch zu schlechteren Konditionen Vorrang bekommen vor dem Bezug von "passiven" Leistungen wie Arbeitslosengeld (aktivierender Sozialstaat). Ersteres wurde nur in geringem Umfange erreicht, weil es zumindest anfänglich an Arbeitsplätzen fehlte bzw. neue nicht in notwendigem Maße entstanden. Letzteres bewirkte einen drastischen Anstieg von prekärer Beschäftigung zu zum Teil extrem niedrigen Löhnen. Der Gesetzgeber hat inzwischen einige Korrekturen vorgenommen. Seit 1. Januar 2015 gelten die Regelungen für einen Mindestlohn, die das Lohnniveau nach unten begrenzen sollen. Insgesamt hat sich die Beschäftigungslage in den vergangenen Jahren deutlich entspannt, weil viele neue Jobs entstanden sind. Allerdings sind immer noch knapp drei Millionen Menschen arbeitslos, davon knapp 40 Prozent länger als ein Jahr.
Die Sozialpolitik in Deutschland sieht sich als Folge der europäischen Einigung zunehmend mit der Herausforderung konfrontiert, ihr spezifisches Sozialmodell, zu dem etwa große gemeinnützige Wohlfahrtsverbände gehören, europäisch zu legitimieren und abzustimmen. Hinzu kommt, dass im Rahmen der Arbeitnehmerfreizügigkeit vermehrt – meist qualifizierte, aber teils auch unqualifizierte – Arbeitskräfte nach Deutschland kommen, die hier arbeiten wollen. Sofern sie eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung finden, bringt dies zunächst einen finanziellen Bonus für die Sozialkassen, dem jedoch später auch Anwartschaften auf Leistungen gegenüberstehen. Aus der Tatsache allerdings, dass viele keine derartige Beschäftigung finden, ergeben sich wiederum neue Anforderungen insbesondere für die Träger von Mindestsicherungsleistungen.
Sozialpolitik im historischen Kontext
Der historische Rückblick offenbart, dass sich immer wieder von Neuem soziale Problemlagen herausgebildet haben, auf die es Antworten zu finden galt: Beim Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit, beim Wandel von der feudalen zur kapitalistischen Wirtschaft, bei der Umstellung der Kriegs- zur Friedenswirtschaft in der Weimarer Republik, vom faschistischen Kriegs- und Vernichtungsfeldzug zur demokratischen europäischen Nachkriegsordnung, von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft, von der Nachkriegsordnung zur Herstellung der deutschen Einheit, von der kommunalen Armenfürsorge hin zu Umrissen eines europäischen Sozialmodells.
Die geschichtliche Entwicklung von den Bettelordnungen der Reformationszeit bis zur dynamischen Rente und der derzeitigen Hochleistungsmedizin stellt sich – betrachtet vom Ausgangspunkt – als erheblicher Fortschritt oder in den Worten des Soziologen Detlev Zöllner als "schrittweise(r) Abbau von Defiziten" dar. Zahlreiche soziale Probleme fanden eine Lösung, und immer breitere Kreise der Bevölkerung wurden in das Sozialsystem einbezogen, sei es im Gesundheitswesen, bei der Alterssicherung und nicht zuletzt beim Umgang mit Arbeitslosigkeit oder Armut. Dieses ist die eine Seite bei der geschichtlichen Betrachtung von Sozialpolitik, die nicht gering bewertet werden darf.
Doch andererseits erweist sich, dass Sozialpolitik keine lineare Entwicklung verfolgt. Sie wird von gesellschaftlichen Entwicklungen beeinflusst, etwa starken gesellschaftlichen Umbrüchen, auf deren Hintergrund sich soziale und politische Träger für sozialpolitische Veränderungen einsetzen, während andere sich dagegen richten und den Status quo festschreiben oder die Existenz bestimmter Tatbestände nicht anerkennen wollen. Auch kann es vorkommen, dass das gleiche Ziel über unterschiedliche Wege angestrebt wird oder die zeitliche Spanne zwischen Weg und Ziel von Sozialpolitik unterschiedlich bewertet wird.
Der geschichtliche Rückgriff zeigt also beides: das Sich-Durchsetzen neuer sozialer Bewegungen wie auch das Gegeneinander unterschiedlicher sozialer Kräfte, vor allem, wenn es um die Verteilung materieller und immaterieller Ressourcen geht. Es kommen Konstellationen des Ausgleichs wie auch solche krisenhafter Zuspitzung zum Tragen. Deswegen gibt es keine Garantie, dass einmal eingeführte sozialpolitische Regelungen immer Bestand haben, sie können eingeschränkt, verändert oder gar zurückgenommen werden. Sozialpolitik hat folglich immer auch etwas Vorläufiges und Fragmentarisches.
In der Vergangenheit wurde immer wieder um die Grenzen des Sozialstaates gerungen: Auf der einen Seite stand das Argument, Sozialpolitik müsse verhindern, dass die Lebensgrundlagen breiter Bevölkerungskreise und die Bedingungen für ein friedliches Zusammenleben im Inneren in Frage gestellt werden – so letztlich die Begründung schon bei Bismarck –, auf der anderen Seite stand die Befürchtung, dass durch Sozialpolitik die Bedingungen privatkapitalistischer Wirtschaft gefährdet würden, auch dieses wiederkehrend als Argument schon bei Einführung der Sozialversicherung in den 1880er-Jahren bis in aktuelle sozialpolitische Diskussionen. Aber eine absolute Grenze gibt es weder in die Richtung sozialpolitischer Leistungen noch in Richtung wirtschaftlicher Handlungsfähigkeit: Im Zweifelsfall entscheidet der politische und/oder soziale Konflikt. Sozialpolitik ist kein soziales oder politisches Harmoniekonzept. Sie ist, so der demokratisch ausgerichtete Staatsrechtler Hermann Heller (1891–1933), notwendig, zugleich ein hartes Geschäft der sozialen Integration, bei der nicht selten auch die eigenen Interessensgrundlagen und deren Basis aus dem Blick zu geraten drohen.
Aber, und auch das macht Heller deutlich: Geschichtlich betrachtet hat es zur Sozialpolitik nie eine Alternative gegeben. Unterblieb sie, waren die Grundlagen der Demokratie in Frage gestellt oder bereits beseitigt. Deren Infragestellung bzw. Beseitigung aber war mit Krieg und damit einhergehend Not und Tod verbunden. Sozialpolitik war und ist folglich immer Teil von Friedenssicherung, "im Inneren und nach außen", wie es Willy Brandt (1913–1992) in seiner Regierungserklärung am 28. Oktober 1969 im Deutschen Bundestag formuliert hat (http:/dipbt.bundestag.de/doc/btp/06/06005.pdf).
Jg. 1973, Diplom-Sozialarbeiter (FH) / Politikwissenschaftler. 2007 bis 2011 Professor für Politikwissenschaft an der Evangelischen Hochschule Freiburg, seit 2011 in gleicher Funktion an der Evangelischen Fachhochschule Rheinland-Westfalen-Lippe, Bochum. Fachliche Schwerpunkte: Armutspolitik im politischen Mehrebenensystem und politische Interessenvertretung in der Sozialen Arbeit. Kontakt: E-Mail Link: benz@efh-bochum.de
Jg. 1945, lehrt Politikwissenschaft an der Evangelischen Fachhochschule RWL in Bochum und an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Von 2001 bis 2010 zusammen mit den anderen Autoren dieses Heftes Mitglied des EU Network of Independent Experts on Social Inclusion der Europäischen Kommission. Arbeitsschwerpunkte sind allgemeine Sozialpolitik, Verteilungspolitik – darunter Armuts- und Reichtumsforschung – und Sozialethik. Kontakt: E-Mail Link: Ernst-Ulrich.Huster@t-online.de
Jg. 1982, Diplom-Sozialpädagoge, Diplom-Sozialarbeiter (FH) / Politikwissenschaftler. Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für soziale Arbeit Münster e. V. im Landesmodellvorhaben „Kein Kind zurücklassen! Kommunen in NRW beugen vor“. Lehrbeauftragter an der Evangelischen Fachhochschule RWL in Bochum und an der Universität Osnabrück. Von 2008 bis 2010 zusammen mit den anderen Autoren dieses Heftes Mitglied des EU Network of Independent Experts on Social Inclusion der Europäischen Kommission. Fachliche Schwerpunkte: Theorie der „sozialen“ Vererbung von Armut, Inklusionsstrategien und Soziale Ausgrenzung in Deutschland. Kontakt: E-Mail Link: Johannes.D.Schuette@gmail.com
Jg. 1966, Diplom-Sozialarbeiter (FH) / Politikwissenschaftler, lehrt seit 2007 Sozialpolitik an der Ostfalia Hochschule für angewandte Wissenschaften in Wolfenbüttel an der Fakultät Soziale Arbeit. Fachliche Schwerpunkte: allgemeine Sozialpolitik, Verteilungspolitik, Armut und soziale Ausgrenzung in Deutschland und Europa, politische Interessenvertretung in der Sozialen Arbeit und Entwicklung sozialer Dienste.
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