Um die Sozialstruktur einer modernen Gesellschaft zu analysieren, gibt es vier Ansätze: das Modell der sozialen Schichten und Klassen, das Modell der sozialen Lagen, das Modell der sozialen Milieus und das Modell der Exklusion und Inklusion. Die Kontroverse um das Schichten-Klassen-Modell, die insbesondere in Deutschland geführt wurde, ist im vergangenen Jahrzehnt wieder abgeflaut.
Soziale Schichten und Klassen
Die Begriffe Klasse und Schicht werden in den Sozialwissenschaften sehr unterschiedlich verwendet, allgemeingültige Definitionen gibt es nicht. In der Regel fassen die beiden Begriffe Menschen zu einer Klasse oder Schicht zusammen, die sich in einer ähnlichen sozioökonomischen Lage befinden. Mit dieser Lage sind aufgrund ähnlicher Lebenserfahrungen ähnliche Persönlichkeitsmerkmale wie Einstellungen, Wertorientierungen, Bedürfnisse, Interessen oder Mentalitäten sowie ähnliche Lebenschancen und Lebensrisiken verbunden. Klassenanalysen sind meist durch vier Merkmale gekennzeichnet:
eine starke ökonomische Orientierung an den Markt- und Erwerbschancen der Klassenangehörigen,
die Analyse von Konflikten und Machtbeziehungen zwischen den Klassen,
die historische Orientierung – Klassen werden in ihrer Entwicklung erfasst,
durch die theoretische Orientierung: Klassenanalysen beschreiben nicht nur, sondern analysieren die Ursachen von Ungleichheiten, Konflikten, Machtbeziehungen und Entwicklungen.
Auch Schichtanalysen können eines oder mehrere dieser Merkmale aufweisen. Die Schichtungsanalyse kann auf eine lange Tradition zurückblicken. Sie wurde von Theodor Geiger – einem von den Nationalsozialisten nach Skandinavien vertriebenen Klassiker der deutschen Soziologie – in Auseinandersetzung mit der offiziellen, das heißt von den kommunistischen Parteien vertretenen Marx’schen Klassentheorie in den 1930er-Jahren entwickelt und wird heute noch in modernisierten Varianten eingesetzt.
Das Klassenkonzept war in Deutschland wegen seiner Anklänge an die Marx’sche Revolutionstheorie lange Zeit verpönt, obwohl es auch in modernen nicht marxistischen Versionen – zum Beispiel von dem französischen Klassiker Pierre Bourdieu – vorliegt. Im vergangenen Jahrzehnt haben es die PISA-Studien der OECD wieder salonfähig gemacht, denn sie arbeiten mit dem sogenannten EGP-Klassenschema des englisch-schwedischen Teams Robert Erikson, John H. Goldthorpe und Lucienne Portocarero.
Die Schicht- und Klassenanalytiker gliedern die Bevölkerung nach "Schichten" bzw. "Klassen" und beachten dabei Unterschiede in zwei Bereichen: Zu einer Schicht oder Klasse werden Menschen mit ähnlichen "äußeren" Lebensbedingungen sowie ähnlichen "inneren" Persönlichkeitsmerkmalen zusammengefasst. Zu den äußeren Lebensbedingungen – sie werden auch als sozioökonomische Lage bezeichnet – gehören insbesondere die Berufsposition, Einkommen und Besitz, das Qualifikationsniveau sowie Einfluss und Sozialprestige. Häufig orientieren sich Schicht- und Klasseneinteilungen an der Berufsposition, weil damit die anderen Schicht- und Klassenkriterien tendenziell verknüpft sind. So setzen hohe Berufspositionen in der Regel eine gute Qualifikation voraus und ermöglichen vergleichsweise hohe Einkommen, hohes Sozialprestige und großen Einfluss.
Schicht- und Klassenanalysen gehen davon aus, dass Menschen in ähnlichen Lebensbedingungen ähnliche Lebenserfahrungen machen und die "äußere" sozioökonomische Lage daher einen gewissen Einfluss auf die Persönlichkeitsentwicklung und das Verhalten der Menschen ausübt. Man nimmt an, dass sich schicht- und klassentypische Mentalitäten und Lebensstile – ein sogenannter schicht- und klassentypischer Habitus – herausbilden. Sie entstehen durch komplexe Sozialisationsprozesse in Familien, Gleichaltrigengruppen, weiteren sozialen Netzwerken und Milieus. Diese Sozialisationsannahme unterstellt im Gegensatz zum Marxismus nicht, dass das Sein das Bewusstsein bestimmt bzw. dass die "äußeren" Lebensbedingungen die "inneren" Merkmale und Verhaltensweisen festlegen. Aber es wird empirisch überprüft, in welchen Bereichen und wie stark innere und äußere Strukturen zusammenhängen.
Eine weitere wichtige Grundannahme ist, dass das Zusammenwirken von schicht- und klassentypischen Lebensbedingungen sowie entsprechenden Mentalitäten und Verhaltensweisen schicht- und klassentypische Lebenschancen zur Folge hat: Schichten und Klassen unterscheiden sich auch durch typische Privilegien und Benachteiligungen.
Schichtmodelle
Die Versuche in den 1950er- und 1960er-Jahren, die komplexen realen Strukturen zu wesentlichen Grundmustern zu vereinfachen, haben zu unterschiedlichen Schicht- und Klassenmodellen und zu widersprüchlichen Vorstellungen über die Sozialstruktur geführt. Das Konzept der "nivellierten Mittelstandsgesellschaft" des Soziologen Helmut Schelsky ging davon aus, dass die kollektiven Auf- und Abstiegsprozesse in einer Gesellschaft mit hoher sozialer Mobilität die Klassen und Schichten aufgelöst und zu einer sozialen Nivellierung in der gesellschaftlichen Mitte geführt haben. Ralf Dahrendorf wies dagegen auf die nach wie vor bestehenden Mobilitätsbarrieren hin und setzte der Nivellierungsthese sein "Hausmodell" der sozialen Schichtung entgegen, in dem er sieben Klassen und Schichten unterschied.
Dahrendorf verglich die Gesellschaft mit einem Haus: An der Spitze stehen wie immer die Eliten. Im Obergeschoss residieren nebeneinander die bürokratischen Helfer der Eliten, die Dienstklasse, "insbesondere nichttechnische Verwaltungsangestellte aller Ränge", sowie der "alte Mittelstand" der Selbstständigen. Im Hauptgeschoss wohnen die große Arbeiterschicht und der "falsche Mittelstand" der einfachen Dienstleistungsberufe. Dessen soziale Stellung unterscheidet sich nicht von derjenigen der Arbeiter, er zählt sich jedoch seinem Selbstverständnis nach "fälschlicherweise" zur Mittelschicht. Die Arbeiterelite (hier Meister und Vorarbeiter) hat sich dagegen nach oben hin vom Rest der Arbeiterschaft abgesetzt. Der Keller des Hauses ist bevölkert von der Unterschicht der "Dauererwerbslosen, Unsteten, Rückfallkriminellen, Halbanalphabeten u. a.", die mitunter auch als "Bodensatz der Gesellschaft", "sozial Verachtete" oder "Lumpenproletariat" bezeichnet wurden.
Ein modernisiertes Hausmodell für die soziale Schichtung der Bevölkerung Deutschlands im Jahr 2009 orientiert sich an dem von Dahrendorf erkannten Grundmuster, zieht jedoch einige weitere Differenzierungslinien ein und macht die massiven Umschichtungen im vergangenem halben Jahrhundert deutlich.
Die Dienstklassen und Dienstleister haben sich mit der Entwicklung zur industriellen Dienstleistungsgesellschaft enorm ausgedehnt – auf Kosten des Mittelstands im oberen Bereich und in der Mitte der Gesellschaft, aber auch auf Kosten der Arbeiterklassen in der unteren Mitte und insbesondere im Untergeschoss. Innerhalb der beiden oberen Etagen machen die beiden Dienstklassen inzwischen fünf Sechstel der Bewohner aus, während der früher dominierende Mittelstand der Selbstständigen auf gut ein Sechstel zusammengedrückt wurde. Auch in den beiden unteren Etagen, wo einst die Arbeiterschicht vorherrschte, gibt es inzwischen mehr Dienstleister als Arbeiter. Der Umfang der un- und angelernten Dienstleister ist inzwischen größer als derjenige der un- und angelernten Arbeiter. Ein Teil des Mittelstands ist ebenfalls in der unteren Hälfte platziert. Im Kellergeschoss der Unterschicht leben Erwerbsunfähige und Langzeitarbeitslose, die ihren Lebensunterhalt überwiegend durch "Hartz IV" (Arbeitslosengeld II, Sozialgeld) oder Sozialhilfe finanzieren.
Deutlich erkennbar sind auch die Entwicklung Deutschlands zu einem Einwanderungsland und die tendenzielle Unterschichtung durch Ausländer – hinzugekommen ist ein "Anbau" für die ausländischen Schichten. Die Unterbringung der Ausländer neben dem Haus der Deutschen signalisiert, dass diese neuen Schichten sozioökonomisch und soziokulturell nicht voll in die Kerngesellschaft integriert sind. Seit den 1980er-Jahren haben sich über den beiden ausländischen Arbeiter- und Dienstleisterschichten auch ein kleiner ausländischer Mittelstand sowie kleine ausländische Dienstklassen entwickelt.
Eine wichtige qualitative Veränderungen wird im Schaubild nicht sichtbar: Das vergleichsweise einfache Wohnhaus der 1960er-Jahre hat sich inzwischen in eine ansehnliche Residenz mit Appartements verwandelt, deren Komfort nach oben hin zunimmt; selbst im Kellergeschoss ist es – von einigen Ecken abgesehen – inzwischen etwas wohnlicher geworden. Um Missverständnissen bei der Interpretation von Schichtmodellen vorzubeugen, müssen vier Besonderheiten der Schichten in modernen Sozialstrukturen beachtet werden:
Die eingezeichneten Linien im Modell bedeuten nicht, dass Schichten scharf voneinander abgegrenzt sind. Scharfe Abstufungen dieser Art existieren in ständischen Gesellschaften oder im Kastensystem; in modernen Sozialstrukturen dagegen weisen Schichten keine klaren Grenzen auf, sie gehen vielmehr ineinander über und überlappen sich zunehmend.
Es gibt eine langfristige historische Tendenz zur Differenzierung und Auflockerung der Schichtstruktur: Die Zusammenhänge zwischen äußeren Lebensbedingungen einerseits und Mentalitäten und Verhaltensweisen andererseits lockern sich in einigen Bereichen auf; schichttypische und schichtunspezifische Verhaltensweisen existieren nebeneinander. So sind zum Beispiel die Minimalformen politischer Teilhabe wie die Beteiligung an Bundestagswahlen weitgehend unabhängig von der Schichtzugehörigkeit, während das Engagement in Parteien oder Bürgerinitiativen in höheren Schichten erheblich stärker ausgeprägt ist als in unteren Schichten.
Schichttypische Unterschiede sind im Zeitalter des Massenkonsums manchmal nicht auf den ersten Blick an der lebensweltlichen Oberfläche zu beobachten, sie müssen erst durch sozialwissenschaftliche Studien sichtbar gemacht werden. So steht zum Beispiel heute in den Wohnungen aller Schichten das sofort wahrnehmbare Farbfernsehgerät, aber die Art, wie es genutzt wird und welche Sendungen geschaut werden, ist nach wie vor schichttypisch unterschiedlich.
Schließlich sind die Schichten durch soziale Mobilität durchlässiger geworden. Menschen wechseln häufiger von einer Schicht in eine andere; auch die Chancen, sozial aufzusteigen, haben zugenommen. Die Etagen und Räume im modernen Haus der sozialen Schichtung sind nicht streng gegeneinander abgeschottet, sondern Durch- und Übergänge ermöglichen häufiger als früher "offenes Wohnen".
Ein einfaches Vier-Schichten-Modell, das lediglich die subjektive Schichteinstufung als Kriterium heranzieht, macht erhebliche stabile Ost-West-Unterschiede deutlich. Diese haben sich im ersten Jahrzehnt nach der Vereinigung kaum verändert. Während sich Westdeutschland schon seit Langem als "Mittelschichtengesellschaft" versteht, war Ostdeutschland in den 1990er-Jahren in seinem Selbstverständnis eine "Arbeitergesellschaft" geblieben. Erst um die Jahrtausendwende wandelte sich das ostdeutsche Selbstverständnis in Richtung "Mittelschichtengesellschaft". Es dauerte dann weitere zehn Jahre, bis sich im Jahr 2010 erstmals nach der Vereinigung eine Mehrheit der Ostdeutschen (57 Prozent) in die Mittelschichten einstufte. 2012 sahen sich 53 Prozent der Ostdeutschen den Mittelschichten zugehörig, im Vergleich zu 64 Prozent der Westdeutschen. 39 Prozent der Ostdeutschen (Westdeutsche 22 Prozent) stuften sich in die Arbeiterschicht ein. Vermutlich wirkt in den neuen Ländern noch die sozialistische Arbeiterideologie nach; eventuell spielt bei der niedrigeren Selbsteinstufung der Ostdeutschen auch das verminderte, aber weiterhin bestehende Lebensstandarddefizit gegenüber dem Westen eine Rolle.
Soziale Lagen
Schichtmodelle berücksichtigen im Wesentlichen "vertikale" Ungleichheiten zwischen oben und unten. Sie sind weitgehend blind für "horizontale" Ungleichheiten zwischen Männern und Frauen, alt und jung, verschiedenen Generationen oder auch Regionen, Verheirateten und Ledigen, Kinderreichen und Kinderlosen. Um die Vielgestaltigkeit und Vieldimensionalität der Ungleichheitsstruktur besser zu erfassen, wurden gegen Ende der 1980er-Jahre Modelle der "sozialen Lagen" entwickelt. Sie berücksichtigen neben den vertikalen zugleich auch horizontale Ungleichheiten.
Die Wohlfahrtsforschung untersucht, wie materielle Ressourcen ("objektive Wohlfahrt") und "Lebenszufriedenheit" ("subjektive Wohlfahrt") über die Bevölkerung verteilt sind und verwendet dazu auch das feine Raster des Lagenmodells. So werden zum Beispiel für ein am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) benutztes Modell neben dem "vertikalen" Kriterium Berufsposition die "horizontalen" Kriterien Geschlecht, Alter (unter/über 60 Jahre) und Region (Ost/West) herangezogen. Aus der Kombination dieser vier Merkmale entstehen 64 Soziallagen, die einen relativ differenzierten Einblick in die Verteilung der materiellen Ressourcen und die Unterschiede im subjektiven Wohlbefinden der Bevölkerung vermitteln.
So lassen sich etwa Arbeitslose sowie Un- und Angelernte als Problemgruppen mit geringen Ressourcen, niedriger Selbsteinstufung, vielen Sorgen und einem hohen Grad an Unzufriedenheit identifizieren. Die Defizite der Un- und Angelernten sind in den neuen Bundesländern gravierender als in den alten. Den Gegenpol dazu bilden die leitenden Angestellten und höheren Beamten in Westdeutschland: Mit guten materiellen Ressourcen können sie ein relativ sorgenfreies und zufriedenes Leben führen, und sie stufen sich auf der Oben-unten-Skala mit Abstand am höchsten ein.
Das beispielhaft angeführte Lagenmodell macht aber auch deutlich, dass der Versuch, die Vielgestaltigkeit der Ungleichheitsstruktur gesamthaft in einem Modell einzufangen, schnell an Grenzen stößt. Obwohl in den 64 Soziallagen wichtige Ungleichheitskriterien wie Unterschiede zwischen Stadt und Land, Nationalität, Familienstand und Generation unberücksichtigt bleiben, mutet es bereits recht unübersichtlich an.
Soziale Milieus
Neben dem Soziallagenansatz gehört die Milieuforschung zu den wichtigen neueren Ansätzen der deutschen Sozialstrukturanalyse. Sie wurde in den 1980er-Jahren vom Sinus-Institut für die Markt- und Wahlforschung entwickelt und dort seitdem sehr erfolgreich eingesetzt. Man kann sie als "subjektivistischen" oder "kulturalistischen" Ansatz der Sozialstrukturanalyse bezeichnen: Während die Schichtanalyse eine Bevölkerung zunächst nach ähnlichen "objektiven Lebensbedingungen" oder "objektiven Soziallagen" untergliedert und dann untersucht, welche Mentalitäten, Einstellungen, Verhaltensweisen und Lebenschancen mit diesen unterschiedlichen Lebensumständen typischerweise verknüpft sind, gruppiert der Milieuansatz die Menschen zunächst nach "subkulturellen Einheiten", nach Unterschieden in ihren Wertorientierungen und Lebensstilen.
Das Sinus-Institut definiert den zentralen Milieu-Begriff wie folgt: "Soziale Milieus fassen, um es vereinfacht auszudrücken, Menschen zusammen, die sich in Lebensauffassung und Lebensweise ähneln, die also gleichsam ,subkulturelle‘ Einheiten innerhalb der Gesellschaften bilden." Die Bevölkerung wird nach ihren Wertorientierungen und Lebenszielen, ihren Einstellungen zu Arbeit, Freizeit und Konsum, Familie und Partnerschaft, ihren Zukunftsperspektiven, politischen Grundüberzeugungen und Lebensstilen befragt und dann nach diesen Merkmalen zu "sozialen Milieus" bzw. ",subkulturellen‘ Einheiten" zusammengefasst. Die Abgrenzungen zwischen den sozialen Milieus ähneln den Grenzlinien in den Schichtmodellen: Sie markieren keine scharfen "realen" Grenzen; Milieus sind wie Schichten keine klar voneinander abgrenzbaren Gruppen, sondern es gibt fließende Übergänge, Zwischenformen und Überschneidungen.
Sinus gruppiert die deutsche Bevölkerung 2012 zu zehn Milieus, die auf einer waagerechten Achse nach ihren Grundorientierungen drei verschiedenen Modernisierungsphasen zugeteilt sind. Die senkrechte Achse stellt den Zusammenhang der Milieustruktur mit einer dreistufigen Schichtstruktur her und zeigt, in welchen Schichten die verschiedenen Milieus verankert sind. Dabei wird dreierlei deutlich:
Im oberen Bereich der Schichtungshierarchie haben sich andere Milieus herausgebildet als in der Mitte und in der Mitte andere als in der unteren Ebene.
Die meisten Milieus sind in zwei Schichten verankert.
Auf denselben Ebenen des Schichtgefüges haben sich unterschiedliche Milieus entwickelt, wobei die "kulturelle Pluralisierung" in der gesellschaftlichen Mitte deutlich weiter vorangeschritten ist als oben und unten – ein Phänomen, das Theodor Geiger bereits in der deutschen Sozialstruktur der 1920er-Jahre diagnostizierte.
Die Größe und die inhaltliche Ausprägung der Milieus sind ständigen Veränderungen unterworfen. Ein Vergleich der heutigen Situation mit der Milieustruktur von 1982 zeigt den Bedeutungsverlust traditioneller zugunsten moderner Orientierungen sowie eine weitere Differenzierung der Milieustruktur in der Mitte. So haben sich die traditionellen Milieus des Kleinbürgertums und der Arbeiterschaft vom Umfang her mehr als halbiert und sind heute zu den "Traditionellen" zusammengefasst. Seit 1991 ist zu den acht Milieus der 1980er-Jahre das "Neue Arbeitermilieu" als neuntes Milieu hinzugekommen, heute umbenannt in "Adaptiv-Pragmatische". Bei der Aktualisierung im Jahr 2000 entstand am modernen Rand der gesellschaftlichen Mitte eine zehnte Gruppierung, das "postmoderne Milieu"; heute wird dieses mit der Bezeichnung "Performer" den "sozial gehobenen Milieus" zugeordnet. Einen interessanten Ansatz der Milieuanalyse hat die Hannoveraner Arbeitsgruppe Interdisziplinäre Sozialstrukturforschung (agis) in Anlehnung an das klassische Werk des französischen Soziologen Pierre Bourdieu (1979) entwickelt. Dieser hatte Lebensstilforschung und Klassentheorie eng miteinander verzahnt.
Michael Vester u. a. (2001) verknüpfen die Sinus-Milieus mit der Klassenanalyse und den sozialkritischen Fragestellungen der traditionellen Ungleichheitsforschung. Milieus werden als "Nachfahren der früheren Stände, Klassen und Schichten" angesehen. Im Zentrum der Analyse stehen sowohl horizontale Differenzierungen als auch vertikale Ungleichheiten. Horizontal werden die Klassen nach der beruflichen Spezialisierung in "Klassenfraktionen" untergliedert, die unterschiedliche Mentalitäten entwickelt haben. Sie verdeutlichen die fortschreitende Dynamik der gesellschaftlichen Arbeitsteilung. Die vertikale Einteilung arbeitet vertikale Ungleichheiten zwischen den verschiedenen Milieus heraus – Herrschaftsbeziehungen, Distinktion (Ab- und Ausgrenzung), soziale Benachteiligungen und Ungerechtigkeiten. Vertikal wird die Grobstruktur der Gesellschaft dreigeteilt: Etwa ein Fünftel der Bevölkerung gehört zu den fünf "oberen bürgerlichen Milieus" mit Privilegien bei Macht, Besitz und Bildung. Die "Trennlinie der Distinktion" grenzt sie von der großen Mehrheit (ca. 70 Prozent) der sechs "respektablen Volks- und Arbeitnehmermilieus" ab. Deren soziale Stellung ist durch Statussicherheit ("Respektabilität") gekennzeichnet, die in den modernen Milieus stärker ausgeprägt ist als in den traditionellen. Abgedrängt nach unten und jenseits der "Trennlinie der Respektabilität" leben die "unterprivilegierten Volksmilieus". Es sind "traditionslose Arbeitnehmer" mit in der Regel niedrigen Qualifikationen. Zu ihnen gehören "Resignierte" und "Unangepasste", aber auch "Statusorientierte" ohne Erfolg. Sie umfassen gut ein Zehntel der Bevölkerung.
Exklusion/Inklusion
Das Modell von Exklusion und Inklusion ist das jüngste der vier Modelle. Sein zentrales Konzept der Exklusion – auf Deutsch am besten mit "soziale Ausgrenzung" wiedergegeben – begann seine Karriere in den 1990er-Jahren in Frankreich bei der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der sogenannten neuen Armut, der Arbeitslosigkeit und der räumlichen Segregation. Wichtige Impulse für die weitere Ausbreitung in Europa kamen aus dem politischen Raum: Seit den 1990er-Jahren kämpft die Kommission der Europäischen Union gegen die "social exclusion". Diese fortdauernden Bemühungen wurden unter anderem daran sichtbar, dass das Jahr 2010 zum "Europäischen Jahr gegen Armut und Ausgrenzung" ausgerufen wurde. Die deutsche Sozialforschung reagierte mit einiger Verzögerung, aber seit Ende der 1990er-Jahre greift auch sie das Konzept der Exklusion häufiger auf (z. B. Martin Kronauer 2010) und verwendet es in zahlreichen, zum Teil umstrittenen Varianten. Vom Klassen-Schichten-Modell unterscheidet sich das Exklusion-Inklusion-Modell in drei wesentlichen Punkten:
Im Zentrum steht nicht die vertikale Aufteilung der Gesellschaft in oben, Mitte und unten, sondern die beiden Pole drinnen und draußen. Es geht nicht darum, wer wo in der Gesellschaft steht, sondern darum, wer "drinnen" oder "draußen" ist.
Soziale Ungleichheit wird nicht – wie im vertikalen Modell und im Modell der sozialen Lagen – als graduell abgestufte Ungleichheit zwischen verschiedenen Schichten, Geschlechtern, Altersgruppen oder anderen Gruppen erfasst, sondern im Zentrum der Analyse steht ein gesellschaftlicher Bruch, eine Spaltung der Gesellschaft in Zugehörige und Ausgeschlossene, "Überzählige" (Marx), an den Rand Gedrängte. Im Fokus stehen die extrem Benachteiligten, denen ein Platz im anerkannten gesellschaftlichen Gefüge verweigert wird. Exklusion wird dabei mehrdimensional begriffen: Wichtige Dimensionen sind die Arbeitslosigkeit als Ausschluss vom Erwerbsleben, Armut sowie räumliche Ausgrenzung durch Wohnen und Leben in Armutsvierteln oder sozialen Brennpunkten. In den Blick genommen werden auch die Auflösung der sozialen Netzwerke, der Ausschluss von einer angemessenen politischen und kulturellen Teilhabe sowie psychische Folgen wie ein geschädigtes Selbstbild, lähmende Gefühle der Erniedrigung und Missachtung, der Chancen- und Perspektivlosigkeit. Es geht aber nicht nur um den Blick auf die verschiedenen Dimensionen von Exklusion, sondern auch um die Erforschung der Zusammenhänge zwischen diesen Dimensionen, ihre wechselseitige sich steigernde Verstärkung.
Das bipolare Modell wird häufig zu einem Drei-Zonen-Konzept erweitert, wie es der französische Soziologe Robert Castel (2000) entwickelt hat. Dieser platziert zwischen den beiden Polen Exklusion und Inklusion eine Zwischenzone und nennt sie die "Zone der sozialen Verwundbarkeit", in Deutschland in der Regel "Zone der Prekarität" genannt. Diese Zone verbindet das Drinnen mit dem Draußen. Sie lenkt den Blick auf Zonen der prekären Unsicherheit im Drinnen, auf Gruppen, deren Inklusion instabil geworden ist und die daher Gefahr laufen, ins Draußen zu rutschen und ausgegrenzt zu werden. So wird zum Beispiel in der vertikalen Struktur eine "verunsicherte Mitte" (Martin Kronauer) ausgemacht mit versperrten Aufstiegschancen, schwindender Arbeitsplatzsicherheit, zunehmenden Schwierigkeiten bei der Aufrechterhaltung des Lebensstandards und unsicheren Zukunftsaussichten der Kinder.
Im Vergleich zu den anderen Modellen hat das Exklusion-Inklusion-Modell einen stark eingeschränkten Blickwinkel. Es ist fokussiert auf eine kleine Gruppe von extrem Benachteiligten sowie auf die gesellschaftlichen Gefahrenzonen, auf Gruppen, deren Position im Drinnen prekär geworden ist. Dabei muss hervorgehoben werden, dass dieser Fokus auf extreme Benachteiligung und Prekarität von besonderer gesellschaftspolitischer Bedeutung ist.
Ein analytischer Vorteil des Modells besteht darin, dass es ermöglicht, Exklusionsprozesse und -risiken in vielen Bereichen der Sozialstruktur, in verschiedenen Schichten, Soziallagen und Milieus ausfindig zu machen. Das Modell kann Ausgrenzungsprozesse und -risiken erfassen, die zum Teil "quer" zur vertikalen Ungleichheitsstruktur und zur Milieustruktur liegen. Der französische Soziologe Pierre Bourdieu (1998) hat diese Sichtweise auf die Formel gebracht: "Prekarität ist überall". Exklusion passiert – wie Heinz Bude (2008) zeigt – in den Milieus der Unterprivilegierten genauso wie unter Pfarrern, Rechtsanwälten und Professoren oder unter Managern und Bankern.
Allerdings suggerieren diese Einzelbeobachtungen ein falsches Bild vom Umfang der Zonen von Exklusion und Prekarität auf den verschiedenen Ebenen des Gefüges der sozialen Ungleichheit. Die verarmten, in einem sozialen Brennpunkt lebenden Professoren und Banker dürften Ausnahmefälle sein, aber es gibt Zigtausende von armen, arbeitslosen Ungelernten. Quantitative Analysen belegen, dass Ausgrenzung und Prekarität sehr deutlich schichttypisch ungleich verteilt sind. Das Exklusion-Inklusion-Modell erfasst soziale Realität daher am besten, wenn es in Kombination mit dem Klassen-Schichten-Modell eingesetzt wird.
Jenseits von Klasse und Schicht?
In der deutschen Sozialstrukturforschung wird seit den 1980er-Jahren kontrovers darüber diskutiert, ob sich die Klassen und Schichten im Zuge der Modernisierung der Gesellschaft auflösen oder bereits aufgelöst haben. Anhänger der Auflösungsthese – in der wissenschaftlichen Literatur wird sie häufig "Entstrukturierungsthese" genannt – sind unter anderem Ulrich Beck ("Risikogesellschaft", 1986) und Gerhard Schulze ("Die Erlebnisgesellschaft", 1993). Zu ihren Kritikern gehören zum Beispiel Michael Vester ("Soziale Milieus im gesellschaftlichen Strukturwandel", 1993/2001) und Rainer Geißler ("Die Sozialstruktur Deutschlands", 1992/2014).
Die Auflösungstheoretiker dominierten den Mainstream der deutschen Sozialstrukturforschung seit den ausgehenden 1980er-Jahren fast zwei Jahrzehnte lang. Sie heben insbesondere die folgenden sozialstrukturellen Entwicklungstendenzen hervor:
Steigender Wohlstand und Massenkonsum lassen – begünstigt durch staatliche Umverteilung – auch die unteren Schichten zunehmend an den Privilegien der mittleren und oberen Schichten teilhaben (komfortable Wohnungen, Autos, Farbfernseher, Urlaubsreisen etc.). Frühere Statussymbole haben ihre unterscheidende Kraft verloren, weil sie heute allen zugänglich sind.
Auch die neuen Risiken der "Risikogesellschaft", wie sie Ulrich Beck nennt, kennen keine Schichtgrenzen, sie sind "demokratisiert": Von Massenarbeitslosigkeit, Umweltgefährdungen oder atomarer Bedrohung sind alle Gruppen der Gesellschaft bedroht.
Schichttypische Milieus mit entsprechenden schichttypischen Mentalitäten, Einstellungen und Verhaltensweisen haben sich nach und nach aufgelöst. Dieser Entwicklung liegen zwei zentrale Ursachen zugrunde: Zum einen werden die Lebensbedingungen und Soziallagen immer differenzierter und vielfältiger (Differenzierung und Diversifizierung der Sozialstruktur); zum anderen hat der ökonomische, soziale und kulturelle Wandel einen starken Individualisierungsschub ausgelöst, der die Menschen aus ihren bisherigen Bindungen löst und ihre Verhaltensspielräume erheblich erweitert. Steigender Wohlstand lockert die materiellen Bindungen, der moderne Sozialstaat löst traditionelle Solidaritäten auf, zunehmende Freizeit lockert die zeitlichen Bindungen, zunehmende Mobilität die sozialen und räumlichen Bindungen und das höhere Bildungsniveau schließlich die psychosozialen Bindungen, da es mehr Nachdenklichkeit und Selbstfindung ermöglicht und fordert.
Die Schichten werden im Alltag immer weniger wahrgenommen und bestimmen immer weniger die alltäglichen Handlungen und Beziehungen. Menschen identifizieren sich nicht mehr mit bestimmten Schichten.
Die zunehmende soziale Mobilität wirbelt die Lebenswege und Lebenslagen der Individuen durcheinander und verhindert die Herausbildung schichttypischer Milieus.
Auch die Gegner der Auflösungsthese sehen den Anstieg des Lebensstandards, die zunehmende Vielfalt der Lebensbedingungen, den Individualisierungsschub und die zunehmende Mobilität als wichtige Entwicklungstendenzen in der modernen Sozialstruktur an. Aber sie halten die entstrukturierenden Auswirkungen dieses Wandels auf das Schichtungssystem, wie sie die Auflösungstheoretiker beschreiben, für stark überzeichnet. Die Schichtstruktur der modernen Gesellschaft – so ihre These – ist nicht verschwunden, sondern sie ist dynamischer, mobiler und pluraler geworden. Kennzeichen einer modernen Gesellschaft ist nicht die Auflösung der sozialen Schichtung, sondern ein dynamisches, pluralisiertes Schichtgefüge, das wegen seiner Vielfalt auch unübersichtlicher und auf den ersten Blick schwerer erkennbar geworden ist. Die Schichtungstheoretiker führen die folgenden, empirisch belegten Argumente ins Feld:
Wichtige Lebenschancen – wie Bildungs- und Aufstiegschancen, Chancen auf eine hohe Erbschaft, auf politische Teilhabe, auf angenehme und qualifizierte Arbeit – und wichtige Lebensrisiken – wie Arbeitslosigkeit, Armut, Krankheit, Kriminalisierung – sind auch heute noch "schichttypisch" verteilt.
Auch viele Wertorientierungen, Lebensstile und Verhaltensweisen – einige davon mit abgrenzendem (distinktivem) Charakter – variieren weiterhin von Schicht zu Schicht. Dazu gehören unter anderem die Erziehungsziele, die Nutzung der Massenmedien, der hochkulturellen Angebote (Theater, Opern, Konzerte, Museen) und des Internets, die sportlichen Aktivitäten oder die Partnerwahl. So sind zum Beispiel nur 1,5 Prozent der Frauen mit Hauptschulabschluss mit einem Akademiker verheiratet, und von den Männern mit Hauptschulabschluss hat nur jeder dreihundertste eine Ehepartnerin mit Universitätsabschluss. Mehrere Studien belegen, dass sich die Heiratskreise über die Generationen hinweg nicht sozial geöffnet, sondern weiter sozial geschlossen haben. Auch die zu sozialen Milieus zusammengefassten Lebensauffassungen und Lebensweisen sind im oberen Bereich des Schichtgefüges anders ausgeprägt als in der Mitte und dort wiederum anders als in den unteren Ebenen. Und auch für die soziale Selbsteinstufung spielt die Schichtungshierarchie weiterhin eine wichtige Rolle.
Die oft erwähnten Individualisierungs- und Pluralisierungsprozesse erfassen nicht alle gesellschaftlichen Gruppen gleichmäßig, sondern vollziehen sich in höheren Schichten intensiver; denn mit höherem Wohlstand ist auch eine Befreiung aus materiellen Zwängen und mit höherem Bildungsniveau ein höheres Maß an Selbstreflexion und eine weitgehendere Lösung aus traditionellen Bindungen verknüpft.
Auch im Alltagsbewusstsein sind die Schichten weiterhin präsent. Umfragen unter Studierenden und unter Arbeitern und Angestellten von Industriebetrieben belegen, dass fast alle von einer fortbestehenden Schichtstruktur (einige auch von einer fortbestehenden Klassenstruktur) ausgehen. Nach einer empirischen Studie von Rainer Geißler und Sonja Weber-Menges sind lediglich 3 Prozent der Studierenden und 6 Prozent der industriellen Arbeitnehmer (von den Ungelernten bis zu den leitenden Angestellten) der Ansicht, dass es heute keine Schichten oder Klassen mehr gibt.
Schließlich spiegelt sich der traditionelle "Klassengegensatz" zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern auch heute noch in der Wahrnehmung von Konflikten durch die Bevölkerung wider, wie eine Repräsentativumfrage im Jahr 2010 zutage gefördert hat. Zusammen mit den Konflikten zwischen Arm und Reich sowie zwischen Deutschen und Ausländern wird der Gegensatz zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern als dominante Konfliktlinie wahrgenommen, während der "Generationenkonflikt" zwischen jung und alt oder der "Geschlechterkampf" lediglich als zweit- bzw. drittrangig eingestuft werden.
Seit einigen Jahren ist es um die Auflösungsthese stiller geworden; die Schichten-Klassen-Gesellschaft kehrt in die Köpfe des Mainstreams der deutschen Sozialstrukturforscher zurück – in der sozialen Wirklichkeit und in den Köpfen der Bevölkerung war sie nie verschwunden. Für dieses Umdenken lassen sich mehrere Ursachen ausmachen: die öffentlichen Diskussionen um die zunehmende Polarisierung des Wohlstands, um die Ausbreitung von Armut und Prekarität und um die schrumpfende Mittelschicht sowie nicht zuletzt die durch PISA wiederbelebte Debatte um die deutsche Altlast der schichttypischen Bildungsungleichheit.
Prof. em. Dr. Rainer Geißler ist Soziologe an der Fakultät I – Seminar für Sozialwissenschaften der Universität Siegen. Seine Schwerpunkte in Forschung und Lehre sind Sozialstrukturanalyse und soziale Ungleichheit; Bildungssoziologie und Sozialisationsforschung; Migration und Integration; die Gesellschaft Kanadas; Soziologie der Massenkommunikation sowie Soziologie des abweichenden Verhaltens. Seine Anschrift lautet: Universität Siegen / Fakultät I / Adolf-Reichwein-Straße 2 / 57068 Siegen / E-Mail: E-Mail Link: geissler@soziologie.uni-siegen.de
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