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Rolle der Eliten in der Gesellschaft

Rainer Geißler

/ 13 Minuten zu lesen

Der kleine Kreis der Machteliten übt den größten Einfluss auf wichtige Entscheidungen aus, von den viele oder alle Mitglieder einer Gesellschaft betroffen sind. In Deutschland wurde die hierarchische Monopolelite der DDR nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Systems in pluralistische Eliten nach westlichem Muster verwandelt und personell fast vollständig ausgetauscht.

Eliten unter sich: Bundeswirtschafts-
minister Sigmar Gabriel, der DGB-Bundesvorsitzende Reiner Hoffmann, Bundeskanzlerin Angela Merkel und BDI-Präsident Ulrich Grillo im September 2014 vor Schloss Meseberg, dem Gästehaus der Bundesregierung (© picture alliance / dpa / Bernd von Jutrczenka)

Elitenpluralismus


Die Sozialwissenschaften verstehen unter Eliten in der Regel Machteliten, also die Träger gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und politischer Macht. Die Struktur dieser Machteliten zeigt in modernen Gesellschaften ein bestimmtes Gliederungsmuster. Eine moderne Gesellschaft ist in verschiedene Funktionsbereiche (Sektoren) wie zum Beispiel Politik, Wirtschaft oder Kultur ausdifferenziert. Daher ist es sinnvoll, verschiedene Funktionseliten – sie werden auch Teileliten oder sektorale Eliten genannt – zu unterscheiden, die in den jeweiligen Sektoren die wichtigsten Entscheidungsträger umfassen. In vielen Studien wird die Machtelite in 9 Funktionseliten untergliedert, die folgenden Sektoren zugehören: Politik, Verwaltung, Justiz, Wirtschaft, Gewerkschaften, Massenmedien, Kultur, Wissenschaft und Militär.

Die Elitenstruktur einer hochdifferenzierten Gesellschaft ist in zweifacher Hinsicht pluralistisch. Zum einen sind die verschiedenen Sektoren und Funktionseliten hoch spezialisiert und relativ autonom (funktionaler Pluralismus), zum anderen entwickelt sich unter einem gemeinsamen Dach politischer Überzeugungen – dem Konsens über die demokratischen Grundregeln – ein politisch-weltanschaulicher Pluralismus. Dem Elitenpluralismus sind jedoch Grenzen gesetzt: Die regelmäßige Zusammenarbeit der Eliten über die Sektoren und politisch-weltanschaulichen Gruppierungen hinweg ist nötig, um Entscheidungen aufeinander abzustimmen und um die optimale Beteiligung aller gesellschaftlichen Bereiche und Organisationen an wichtigen Entscheidungen zu ermöglichen.
Die Mannheimer Elitestudien zur Bonner Republik (1968, 1972 und 1981) und die Potsdamer Elitestudie zum vereinten Deutschland (1995) liefern repräsentative empirische Befunde zum Wandel der Gesamtstruktur der Eliten in diesen Jahrzehnten. Da bisher entsprechende Folgestudien fehlen, sind empirisch abgesicherte Aussagen zum Elitenwandel im letzten Jahrzehnt nur sehr punktuell möglich.

Einflussstruktur


Das politische Institutionensystem in Deutschland sichert einen gewissen Pluralismus der Führungsgruppen. Die Konkurrenz der Parteien, Verbände und Interessengruppen, eine föderalistische Verfassung, eine unabhängige Justiz und die relative Autonomie der Massenmedien, der Wissenschaft und der Kultur schaffen Raum für ein Gegeneinander verschiedener Teileliten beim Ringen um Einfluss.

Aber in diesem pluralistischen Mit- und Gegeneinander gibt es bestimmte Einflussstrukturen; nicht alle Funktionseliten und Interessengruppen sind mit gleicher Machtfülle ausgestattet. Im Zentrum der Machtstruktur stehen die politischen Eliten im engeren Sinn, deren Position durch die Weiterentwicklung des liberalen Rechtsstaats zum sozialen Wohlfahrtsstaat erheblich gestärkt wurde. Ihre Entscheidungen beschränken sich heute nicht nur auf die traditionellen staatlichen Aufgaben der inneren Ordnung und äußeren Sicherheit, sondern greifen planend und steuernd in viele Bereiche des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens ein.

Großen Einfluss üben auch die Wirtschaftseliten aus, deren Struktur weiterhin vom Gegensatz zwischen den Tarifparteien geprägt ist. Durch die zunehmenden internationalen Wirtschaftsverflechtungen (Globalisierung) haben die multinationalen Großunternehmen ihre Stellung weiter stärken können.

Das politisch-wirtschaftliche Machtzentrum wird durch einflussreiche Verwaltungs- und Medieneliten ergänzt. So haben 35 Expertinnen und Experten im Jahr 2004 aus einer Liste von über 4000 Personen die Top 100 ausgewählt, die über die größte gesellschaftlich relevante Macht verfügten, das heißt über die Möglichkeit, "Entscheidungen von öffentlicher Bedeutung zu beeinflussen, in Gang zu setzen oder zu blockieren". Unter den 100 Mächtigsten waren 41 Politiker, 32 Unternehmer und Manager sowie 17 Medienvertreter.

Der Soziologe Karl Ulrich Mayer wies 2006 darauf hin, dass in den beiden vergangenen Jahrzehnten "eine neue Qualität der Medienpräsenz und Medienabhängigkeit beobachtet" werden kann. Die häufige Anwesenheit insbesondere von Politikerinnen und Politikern in populären Talkshows, nach der ersten Sendung dieser Art auch "Modell Christiansen" genannt, ist zu einem beachtlichen Faktor gesellschaftlichen Einflusses geworden. Andere Funktionseliten – insbesondere das früher einflussreiche Militär – sind heute eher an der Peripherie der Machtstruktur angesiedelt.

Ämterkumulation (eine Person besetzt mehrere Führungspositionen gleichzeitig) und Elitenzirkulation (der Wechsel von Personen zwischen verschiedenen Teileliten) kommen relativ selten vor. Von zwei Ausnahmen abgesehen haben zum Beispiel die Vorstandsvorsitzenden der 100 größten deutschen Unternehmen nie eine berufliche Position außerhalb der Wirtschaft eingenommen, so der Eliteforscher Michael Hartmann (2007).

Die Rotation des Führungspersonals ist dagegen hoch. Die Machtträger verweilen in der Regel nur vier bis acht Jahre in den Spitzenpositionen – in der Wirtschaft, in den Verbänden und in den Massenmedien dauert die Zugehörigkeit zur Positionselite länger als im zentralen politischen Bereich, wo Wahlen für eine beschleunigte Rotation sorgen. Auch die Verwaltungselite ist dieser politischen Dynamik ausgesetzt. So scheiden die Spitzenbeamten der Bundesregierung im Durchschnitt bereits nach wenigen Jahren wieder aus ihren Ämtern aus.

Während das System der Weimarer Republik bei weiten Teilen der Machteliten auf große Distanz oder Ablehnung stieß, verbindet die Führungsschichten der Bundesrepublik heute eine breite grundsätzliche Zustimmung zur bestehenden politischen, wirtschaftlichen und sozialen Ordnung. Die Bereitschaft zu Kompromissen und die Anerkennung von Mitbestimmung und Reformen in gewissen Grenzen haben einen hohen Stellenwert in ihren politischen Grundüberzeugungen. Auf der Basis dieses Grundkonsenses existiert innerhalb der Machteliten ein Pluralismus von politischen Einstellungen.

Die politischen Orientierungen der Eliten sind kein genaues Spiegelbild der Einstellungs- und Meinungsvielfalt in der Gesamtgesellschaft. Im Vergleich zur Bevölkerung sind die Machteliten liberaler eingestellt, während sozialdemokratische Positionen bei ihnen schwächer ausgeprägt sind.

Die verschiedenen Funktionseliten weichen in ihren Parteineigungen erheblich voneinander ab. Außer in den Gewerkschaften sind FDP-Anhänger in allen Eliten deutlich stärker vertreten als in der Wählerschaft. Genau umgekehrt verhält es sich mit den SPD-Anhängern: Mit Ausnahme der SPD-Bastion der Gewerkschaften sind sie in allen Teileliten mehr oder weniger stark unterrepräsentiert. CDU/CSU-Anhänger dominieren im relativ unbedeutenden Militär, aber auch in der mächtigen Wirtschaftselite. Die Grünen konnten ihren Erfolg in der Wählergunst auf die Eliten übertragen: Der Anteil ihrer Anhängerschaft unter diesen entspricht in etwa dem Umfang ihres Wählerpotenzials.

Herkunft und Ausbildung

Sozialprofil und Ausbildung der Eliten (© Datenquellen: Mannheimer Elitestudie 1981; Potsdamer Elitestudie 1995 (Berechnungen von Kai-Uwe Schnapp und Hilke Rebenstorf))

Die deutschen Machteliten sind weder eine in sich geschlossene Kaste noch ein einigermaßen repräsentatives Spiegelbild der Gesamtbevölkerung. Nur wenige Elitepositionen – der genaue Prozentwert ist nicht bekannt – wurden und werden vererbt, das heißt, ihre Inhaber stammen aus Familien von Eliteangehörigen. Die Eliten sind im Wesentlichen Aufsteigereliten. Allerdings wird das Vordringen ganz nach oben umso schwieriger, je tiefer die Herkunftsgruppe in der Schichtungshierarchie angesiedelt ist. 1995 stammte ein Drittel der Inhaber von Elitepositionen aus dem kleinen Kreis der gesellschaftlichen Führungsgruppen (Unternehmer mit mehr als zehn Mitarbeitern, höhere Beamte, Angestellte in Spitzenpositionen), die nur 6 Prozent der vergleichbaren Gruppe in der Gesamtbevölkerung ausmachen.
An der Dominanz der oberen Schichten, die bereits für die Eliten der Weimarer Republik und der Nachkriegszeit kennzeichnend war, hat sich nur wenig verändert. Weitere 49 Prozent der Inhaber von Elitepositionen stammen nämlich aus der oberen Mitte bzw. der Mitte der Gesellschaft. Dabei sind die gehobenen und mittleren Dienstleistungsschichten deutlich überproportional, der Mittelstand der Selbstständigen ist unterproportional vertreten. Der Arbeiterschaft ist der Zugang zur Spitze zwar nicht verschlossen, aber sie ist krass unterrepräsentiert. Arbeiter machen 41 Prozent der Vergleichsgruppe aus, aber nur 18 Prozent der Inhaber von Führungspositionen stammen aus dieser Gruppe.

Eine Gegenüberstellung der sozialen Herkunft der Eliten von 1981 und 1995 fördert eine geringfügige Öffnung zur Mitte hin und nach unten zutage, wenn man gleichzeitig die Verschiebungen im Sozialprofil der Vergleichsgruppe beachtet. Obwohl der Umfang der gesellschaftlichen Führungsgruppen deutlich zugenommen hat, sind sie unter den Eliten etwas schwächer vertreten. Genau umgekehrt vollzieht sich die Entwicklung bei der Arbeiterschaft: Sie ist zwar kleiner geworden, hat aber ihren Anteil unter den Eliten minimal ausbauen können.

Zwischen 1981 und 1995 hat sich an der sozialen Auslese beim Aufstieg in die Eliten insgesamt so gut wie nichts verändert. Bei einigen Teileliten – insbesondere bei den Parteieliten – lassen sich dagegen durchaus interessante Verschiebungen in der sozialen Rekrutierung beobachten.

Die Gewerkschaften sind weiterhin mit Abstand der wichtigste Aufstiegskanal für Kinder aus Familien von Arbeitern und aus der gesellschaftlichen Mitte. Nur 9 Prozent der Gewerkschaftsführer stammen aus den Führungsgruppen, aber fast die Hälfte aus der Arbeiterschaft und Arbeiterelite (Meister, Poliere). Bei den beiden großen "Volksparteien" CDU/CSU und SPD ist dagegen der Zugang aus der Mitte und von unten in Führungspositionen deutlich seltener geworden. Der Anteil der Arbeiterkinder an der SPD-Elite hat sich von 31 Prozent im Jahr 1981 auf 16 Prozent im Jahr 1995 halbiert, die SPD-Führung rekrutiert sich inzwischen mit 33 Prozent sogar etwas häufiger aus den gesellschaftlichen Führungsgruppen als die CDU/CSU-Elite mit 30 Prozent. Die Führung von Bündnis 90/Die Grünen und mehr noch die der PDS sind sozial offener als diejenigen der beiden großen Parteien. Die FDP-Elite – 1981 von ausgeprägt großbürgerlichem Zuschnitt – hat sich etwas geöffnet. Erwähnenswert ist des Weiteren, dass sich die Aufstiegsmöglichkeiten für Arbeiterkinder in einigen Bereichen außerhalb der Politik etwas verbessert haben – in die militärische Elite, in die Medienelite und auch in die Wirtschaftselite.

Die wichtigste Ursache dafür, dass so wenig Angehörige aus den unteren Schichten in die Entscheidungszentren der Gesellschaft vordringen können, liegt an den schichttypisch ungleichen Bildungskarrieren. Der Weg an die Spitze führt in der Regel über die Universität. Immer seltener gelingt Menschen ohne Hochschulabschluss ein Aufstieg in die obersten Führungspositionen: 1968 waren es noch 40 Prozent, 1981 noch 31 Prozent und 1995 nur noch 23 Prozent der Elitenangehörigen.

Für Frauen ist der Aufstieg in die Machteliten ähnlich schwierig wie für Angehörige der unteren Schichten – wenn auch aus anderen Gründen. Der Frauenanteil ist zwischen 1981 und 1995 von 3,4 auf 12,5 Prozent gestiegen, wobei die politischen Eliten – und dort wiederum die damaligen Neulinge im Parteiensystem, Bündnis 90/Die Grünen und PDS – besonders hohe Zuwächse bzw. Anteile verzeichnen. Vor allem den ostdeutschen Frauen, für die in der DDR der Zugang zum Zentrum der Macht verriegelt war, wurden durch die Vereinigung die Türen zu einigen Teileliten quasi über Nacht aufgestoßen. Mit 30 Prozent ist der Frauenanteil bei der neuen Ostelite fast dreimal so hoch wie bei der Westelite mit 11 Prozent.

QuellentextWas dem "Geldadel" wichtig ist

"Die reichen Deutschen bilden eine ähnlich bunte Truppe wie der Rest der Gesellschaft", sagt der Sozialforscher Thomas Perry, "aber es gibt auch Dinge, die nahezu alle deutschen Millionäre gemeinsam haben." Da ist zum Beispiel die Angst, ausgenutzt zu werden. Nahezu alle Reichen plagt, ob bewusst oder unterschwellig, die Sorge, andere Menschen könnten nur um des Geldes willen ihre Nähe suchen.
Aus dieser Furcht resultiert die auffällige Neigung von Reichen, sich vor allem in Netzwerken mit ihresgleichen zusammenzutun. Sei es die Behausung im Villenviertel, die Freizeit auf dem Golfplatz oder der eigenen Yacht, der Urlaub in Kampen auf Sylt, die Geldanlage bei der inhabergeführten Privatbank und das Ehrenamt im Freundeskreis der Staatsoper: So klischeeträchtig es klingt, ihr ganzes Leben organisieren Reiche am liebsten in Netzwerken, in denen sie unter sich sind. Neben dem Schutz vor Schnorrern lassen sich in solch informellen Zirkeln des Vertrauens vortrefflich Geschäfte anbahnen. […]
Woher das ganze Geld stammt, lässt sich ebenfalls klar beantworten: Rund die Hälfte der deutschen Millionäre haben den Großteil ihres Reichtums als Unternehmer oder Freiberufler verdient, rund ein Drittel hat vor allem reich geerbt.
Der typische deutsche Millionär ist also ein Unternehmer. Und zwar sehr häufig einer, der seine von den (Schwieger-)Eltern übernommene Firma weiterführt. Dieser biografische Hintergrund dürfte mitverantwortlich sein für eine weitere Gemeinsamkeit nahezu aller Reichen: die ausgeprägte Familienorientierung.
Den selbst erworbenen oder zumindest gemehrten Reichtum eines Tages an die nächste Generation weiterzugeben, gehört zu ihren größten Wünschen. Dementsprechend bilden möglichst viele wohlgeratene Kinder das wahre Statussymbol der Oberschicht.
Das dynastische Denken bewirkt wiederum den hohen Stellenwert, den Bildung für nahezu alle reichen Menschen genießt – und zwar eine ganz bestimmte Art von Bildung.
Es gehört zu den zählebigsten Mythen der deutschen Debatte um Chancengerechtigkeit im Bildungssystem, dass Millionäre ihre Kinder am liebsten auf teure Privatschulen schicken, mit Englischunterricht ab Klasse eins, Mandarin ab Klasse drei und einer Zulassung für Oxford oder Harvard als großem Ziel nach dem Abitur.
Doch bei diesem Streben um akademische Meriten handelt es sich in Wahrheit um den Herzenswunsch jener gehobenen Angestelltenkreise, in denen man sich sorgt, dass das eigene Kind das richtige Rüstzeug für den harten Daseinskampf erhält – weil für dieses Dasein eben noch nicht von Geburt an gesorgt ist.
Das Bildungsideal der Oberschicht hingegen lässt sich eher an einem Internat […] bei Schleswig besichtigen. […] Der Abiturschnitt pendelt hier um die 2,5 und entspricht damit ziemlich genau dem schleswig-holsteinischen Landesschnitt.
[…] Doch der Schwerpunkt liegt […] eben nicht auf akademischen Leistungen, sondern in der Charakterbildung: Die Schüler lernen, ihre Meinung zu sagen im Debattierklub, Kommandos zu geben beim Kuttersegeln auf der Ostsee, Mut zu zeigen in der freiwilligen Feuerwehr, Verantwortung zu übernehmen als Mentor für jüngere Schüler.
Ganz im Sinne der Oberschichteltern, die wissen: Fürs Führen einer Kaffeerösterei, einer Privatbank oder einer Werbeagentur zählt die richtige Persönlichkeit weit mehr als die Durchschnittsnote im zweiten juristischen Staatsexamen.
Sicher, das Abitur und irgendein akademischer Abschluss sollten im Zuge der Oberschicht-Bildungskarriere schon abfallen – der Junge muss ja später verstehen, was Prokurist und Justitiar ihm sagen wollen. Aber er soll bitte nicht so ein Zahlen- beziehungsweise Paragrafenhuber werden wie die beiden!

Christian Rickens, "Mythen über den Geldadel: Wie die deutschen Millionäre wirklich ticken", in: Spiegel Online, Externer Link: www.spiegel.de/wirtschaft/unternehmen/mythen-ueber-den-geldadel-wie-die-deutschen-millionaere-wirklich-ticken-a-753228.html (Abruf am 3.9.2014)

Eliten in den neuen Bundesländern

Das kommunistische Herrschaftssystem der DDR hatte eine völlig andere Elitenstruktur hervorgebracht. Nicht pluralistische Funktionseliten, sondern eine hierarchisch strukturierte Monopolelite mit einer enormen Machtfülle bei einem kleinen Führungskern hatte sich herausgebildet. Diese zentralistische Monopolelite steuerte alle wichtigen Bereiche des politischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Lebens. Lediglich die Kirchenelite konnte sich dem Monopolanspruch teilweise entziehen, sie wurde allerdings durch eine politisch forcierte Entfremdung der Bevölkerung von der kirchlichen Tradition (Säkularisierung) zunehmend um ihren Einfluss gebracht.

Eine doktrinäre Parteischulung, eine zentral gesteuerte, politisierte Kooptation (Aufstieg über Parteikarrieren, insbesondere innerhalb der SED) und die strikte Kontrolle durch den Staatssicherheitsdienst vereinigten Menschen unterschiedlicher sozialer Herkunft zu einer ideologisch relativ homogenen Gruppe, die sich treffend mit dem Begriff "herrschende Klasse" bezeichnen lässt. Interne Differenzierungen nach Funktionsbereichen, Generationen oder Parteizugehörigkeiten waren nebenrangig. Ämterhäufung, überlange Verweildauer in den Spitzenpositionen und eine dadurch bedingte zunehmende Überalterung ("Vergreisung") waren weitere Merkmale der SED-Führung.

Die Überkonzentration der Macht widersprach nicht nur den Normen einer pluralistischen Demokratie, sondern auch den Prinzipien sozioökonomischer Effizienz: Sie produzierte an der Spitze Inkompetenz und Unbeweglichkeit; die übermäßig zusammengeballte Macht war gleichzeitig gelähmt.

Mit dem Systemwechsel nach dem Zusammenbruch der DDR gingen ein grundlegender Strukturwandel bei den Eliten und ein radikaler Austausch der Führungsschichten einher. Die wesentlichen Linien dieses Strukturwandels lassen sich idealtypisch als die Transformation einer Monopolelite in pluralistische Eliten nach westlichem Muster beschreiben. Die zentralistisch-hierarchisch strukturierte und politisch-ideologisch relativ homogene Machtelite löste sich auf, und es entstanden teilautonome und pluralistische Funktionseliten mit einer größeren Bandbreite politischer und weltanschaulicher Orientierungen. Der Strukturwandel der Elite geht einher mit der stärkeren Ausdifferenzierung der Sozialstruktur in verschiedene teilautonome Sektoren. Die zentrale Steuerung der gesellschaftlichen Teilbereiche durch das politische Machtzentrum wurde beseitigt. Wirtschaft, Massenmedien, Wissenschaft, Kultur und Justiz erlangten relative Unabhängigkeit, wurden neu geordnet, dezentralisiert und pluralisiert.

Der Strukturwandel wurde begleitet von einem fast vollständigen Austausch der Führungsschicht. Die DDR-Elite verlor – von wenigen Ausnahmen abgesehen – Ämter und Einfluss. Lediglich die politisch kaum kompromittierte Kirchenelite überstand den Umbruch nahezu unbeschadet. Von den 410 Spitzenpositionen außerhalb der Kirche, die in die Potsdamer Elitestudie einbezogen wurden, waren lediglich 11 (2,7 Prozent) von "Altkadern" aus der DDR-Elite besetzt. Ausnahmen dieser Art fanden sich insbesondere in den Massenmedien.

Elitentransfer

Westdeutsche in den Eliten der neuen Bundesländer (© Datenquellen: Potsdamer Elitestudie 1995; Daten für 2004 aus: P. Pasternak, Wissenschaftsumbau. Der Austausch der Deutungseliten, in: H. Bahrmann/C. Links (Hg.): Am Ziel vorbei, Berl. 2005, S. 224 f. u. R. Kollmorgen, Ostdeutschland, Wiesb. 2005, S. 207)

Die Eliten in Ostdeutschland wurden erheblich tiefgreifender ausgetauscht als die westdeutschen Eliten nach dem Zusammenbruch des NS-Systems – unter anderem, weil in den alten Bundesländern Personen mit Sachkompetenz, Führungsfähigkeit und Führungserfahrung bereitstanden, um in die neuen Führungspositionen einzurücken. Ein wichtiges Charakteristikum der Eliten in den neuen Ländern ist ihre "Durchmischung" mit Westdeutschen: 40 Prozent der Spitzenpositionen waren laut Potsdamer Studie 1995 von "Westimporten" besetzt. Elitentransfer von West nach Ost fand vor allem beim Militär, in Verwaltung und Justiz sowie in den Großunternehmen der Wirtschaft statt – Sektoren, in denen Ostdeutsche mit einer spezifischen Sachkompetenz kaum zur Verfügung standen oder, wie bei Militär und Justiz, politisch belastet waren.

An dieser Situation hat sich zwischen 1995 und 2004 nichts Wesentliches verändert: Alle ostdeutschen Soldaten unterstanden weiterhin dem Kommando von Westgeneralen. Die an der Frankfurter Börse notierten ostdeutschen Großunternehmen wurden von Westdeutschen gelenkt, und auch die Vorsitzenden Richter in Ostdeutschland kamen mit wenigen Ausnahmen aus dem Westen. Unter den Staatssekretären der ostdeutschen Landesregierungen war der Anteil der Westdeutschen etwas zurückgegangen, betrug aber immer noch 74 Prozent. Der Westanteil bei den Gewerkschaftsführern lässt sich in den beiden Jahren nicht miteinander vergleichen, weil sich die Zahlen von 1995 nur auf 10 Spitzenfunktionäre, 2004 aber auf alle 25 Landes- und Bezirksvorsitzenden beziehen. Von diesen kam etwa die Hälfte aus den neuen Ländern. Im wissenschaftlichen Bereich vollzog sich sogar eine weitere "Verwestlichung": 1995 war die Hälfte der Universitätsrektoren aus den alten Ländern zugewandert, dieser Anteil ist im folgenden Jahrzehnt auf vier Fünftel angestiegen. Im Mediensektor gab es weiterhin deutliche Unterschiede zwischen Funkmedien und Presse. Die neu aufgebauten öffentlich-rechtlichen Rundfunk- und Fernsehanstalten wurden von westdeutschen Intendanten geleitet, und auch unter den neuen Fernsehdirektoren, Hörfunkdirektoren und Chefredakteuren gab es nur zwei Ostdeutsche.

Lediglich im zentralen politischen Bereich wird die ostdeutsche Bevölkerung hauptsächlich durch Ostdeutsche vertreten. Seit der friedlichen Revolution stammt eine deutliche Mehrheit der Ministerpräsidenten, Ministerinnen und Minister aus den neuen Bundesländern. Wenn bei der Potsdamer Elitestudie der Anteil der Westdeutschen im Jahr 1995 niedriger liegt als im Jahr 2004, dann hat das methodische Ursachen: 1995 wurden erheblich mehr, nämlich 171 Politikerinnen und Politiker zur Elite gezählt, während 2004 nur die 57 Spitzenpositionen in den Landesregierungen erfasst wurden. Im Führungspersonal auf niedrigeren Leitungsebenen sind Westdeutsche aber nicht so stark vertreten wie unter den Eliten.

Die neuen Bundesländer dürften von der Sachkompetenz und Erfahrung der Westdeutschen profitiert haben; vermutlich hat der Transfer die effiziente Modernisierung der ostdeutschen Sozialstruktur gefördert. So haben zum Beispiel erfahrene westdeutsche Spitzenpolitiker als demokratisch gewählte Ministerpräsidenten erfolgreich in den neuen Ländern regiert – Kurt Biedenkopf in Sachsen (1990-2002) und Bernhard Vogel in Thüringen (1992-2003). Andererseits wird der Umbau durch das Vorrücken von Westdeutschen in die Osteliten von Konflikten zwischen Ostdeutschen und "Westlern" belastet, weil damit das in den neuen Ländern weitverbreitete Gefühl der "Überfremdung" und "Kolonialisierung" weiter genährt wird. Zusätzlich wird dieses Gefühl noch dadurch verstärkt, dass Ostdeutsche in den Spitzenpositionen auf Bundesebene nur schwach vertreten sind. Den Wahlen von Wolfgang Thierse (SPD) zum Präsidenten des Deutschen Bundestages (1998-2005), von Angela Merkel zunächst zur Vorsitzenden der CDU (2000) und dann zur ersten deutschen Bundeskanzlerin (2005) sowie von Joachim Gauck zum Bundespräsidenten (2012) kommt daher in diesem Zusammenhang hohe symbolische Bedeutung zu. Denn das Vorrücken der Ostdeutschen in die Eliten mit dem Ziel einer angemessenen proportionalen Vertretung ist offensichtlich ein langer Marsch, der noch einige Zeit in Anspruch nehmen wird – möglicherweise bis die im vereinten Deutschland aufgewachsene Generation das Eliteneintrittsalter erreicht hat.

Genuin ostdeutsche Eliten


Die neuen, aus Ostdeutschland selbst stammenden Eliten sind überwiegend akademisch qualifizierte Aufsteiger aus Gruppen, deren Karriere in der DDR wegen einer mehr oder weniger starken Distanz zum sozialistischen System blockiert war. Gut die Hälfte von ihnen hatte vor dem Sprung an die Spitze keine Leitungsfunktion inne. Ein weiteres Drittel stammt aus den "unteren Subeliten", also aus niedrigen und daher auch wenig exponierten Leitungspositionen.

Knapp die Hälfte war zu DDR-Zeiten einer Partei beigetreten – 28 Prozent der SED und 18 Prozent einer Blockpartei; 68 Prozent von ihnen hatte jedoch in den Parteien keine Funktion übernommen. Immerhin 24 Prozent der neuen Führungsschicht hatten sich einer oppositionellen regimekritischen Bürgerrechtsbewegung angeschlossen. Die frühere Distanz von großen Teilen der neuen Elite zum DDR-System wird auch daran erkennbar, dass 58 Prozent religiös erzogen worden waren und nur 30 Prozent sozialistisch.

Unter den aus Westdeutschland stammenden Eliten dominieren die Juristen (39 Prozent) und Wirtschaftswissenschaftler (20 Prozent). Da die Ausbildung zu diesen Berufen in der DDR ideologiebefrachtet war und daher heute diskreditiert ist, stammen die neuen ostdeutschen Eliten aus anderen Studienrichtungen: 45 Prozent haben ein ideologieneutrales naturwissenschaftliches oder technisches Studium absolviert (westdeutsche Eliten: 16 Prozent), und 8 Prozent von ihnen gehören zu den wenigen in der DDR ausgebildeten Theologinnen und Theologen (westdeutsche Eliten: 2 Prozent).

Weitere vom Westen abweichende Merkmale sind der Potsdamer Elitestudie zufolge das geringere Alter und der hohe Anteil von Frauen. Mit einem Altersdurchschnitt von 47 Jahren ist die ostdeutsche Elite 7 Jahre jünger als die westdeutsche, und mit 30 Prozent sind die Frauen fast dreimal so hoch repräsentiert wie in den alten Ländern (11 Prozent). Die Parteizugehörigkeit und die politischen Einstellungen der neuen ostdeutschen Eliten zeigen, dass diese politisch deutlich weiter links stehen als die westdeutschen: CDU/CSU- und FDP-Anhänger sind unter ihnen erheblich seltener, Anhänger von Bündnis 90/Die Grünen dagegen doppelt so stark vertreten; dazu kommen noch 12 Prozent PDS-Anhänger.

Die unterschiedlichen Einstellungen der Ost- und Westdeutschen zu Grundproblemen des politischen Systems, die aus Meinungsumfragen bekannt sind, finden sich auch bei den Eliten der Potsdamer Studie wieder. Ostdeutsche Eliten plädieren häufiger für die Einführung plebiszitärer Elemente (Volksbegehren und Volksentscheid) und für ein Mehr an Staat, verbunden mit höheren Erwartungen an staatliche Sozialleistungen. Sie sind also gleichzeitig basisdemokratischer und weniger liberal orientiert, fordern eine stärkere Beteiligung aller Bürgerinnen und Bürger an den politischen Entscheidungen und erwarten zudem vom Staat mehr regulierende Eingriffe, insbesondere zugunsten der sozial Schwachen.

Die meisten Besonderheiten der neuen ostdeutschen Eliten – Durchmischung mit Westdeutschen, größere Häufigkeit steiler Aufstiege, geringeres Alter – können als Übergangsphänomene angesehen werden. Sie dürften sich langfristig abbauen. Von größerer Beständigkeit dürfte dagegen der hohe Frauenanteil sein. Er liegt im historischen Trend und kann als Indikator einer modernen Sozialstruktur gelten. Es kommt nicht von ungefähr, dass die erste deutsche Bundeskanzlerin in der DDR aufgewachsen ist.

Prof. em. Dr. Rainer Geißler ist Soziologe an der Fakultät I – Seminar für Sozialwissenschaften der Universität Siegen. Seine Schwerpunkte in Forschung und Lehre sind Sozialstrukturanalyse und soziale Ungleichheit; Bildungssoziologie und Sozialisationsforschung; Migration und Integration; die Gesellschaft Kanadas; Soziologie der Massenkommunikation sowie Soziologie des abweichenden Verhaltens.
Seine Anschrift lautet: Universität Siegen / Fakultät I / Adolf-Reichwein-Straße 2 / 57068 Siegen / E-Mail: E-Mail Link: geissler@soziologie.uni-siegen.de