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Materielle Lebensbedingungen | Sozialer Wandel in Deutschland | bpb.de

Sozialer Wandel in Deutschland Editorial Struktur und Entwicklung der Bevölkerung Materielle Lebensbedingungen Rolle der Eliten in der Gesellschaft Armut und Prekarität Migration und Integration Bildungsexpansion und Bildungschancen Ungleichheiten zwischen Frauen und Männern Facetten der modernen Sozialstruktur Literaturhinweise Impressum

Materielle Lebensbedingungen

Rainer Geißler

/ 23 Minuten zu lesen

Der Lebensstandard stieg nach dem Zweiten Weltkrieg in der Bundesrepublik erheblich schneller an als in der DDR – eine West-Ost-Lücke, die auch zwei Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung noch nicht völlig verschwunden ist. Vom enormen Anstieg des Wohlstands haben verschiedene gesellschaftliche Gruppen in unterschiedlichem Maße profitiert. Nach einem Rückgang der sozialen Ungleichheit in den 1960er- und 1970er-Jahren zeichnet sich seit den 1990er-Jahren eine erneute Polarisierung ab.

In der Nachkriegszeit nehmen Wohlstand und Massenkonsum in Westdeutschland kontinuierlich zu, und bald zählt es zu den 20 reichsten Ländern der Erde. Passanten in der Ladenpassage "Hofstatt" in der Münchner Innenstadt 2014 (© Peljak, Florian / SZ Photo)

"Wirtschaftswunder" und Stagnation auf hohem Niveau

Reales Nettoäquivalenzeinkommen in West und Ost (© Zusammengestellt nach Daten, die Markus M. Grabka (DIW) zur Verfügung gestellt hat.)

In Westdeutschland setzte, nachdem die schlimmsten Kriegsfolgen überwunden waren, eine beispiellose Aufwärtsentwicklung ein. Das "Wirtschaftswunder" ließ die Wirtschaftsleistung, die Einkommen und in ihrem Gefolge den Lebensstandard steil in die Höhe schnellen. Das Volkseinkommen – wie die Wirtschaftswissenschaftler die Gesamtheit aller produzierten Güter und Dienstleistungen nennen – "explodierte" zwischen 1950 und 1989 von gut 4400 auf fast 18.400 Euro pro Kopf der Bevölkerung (gerechnet in Preisen von 1989).

Das ungeheure Tempo dieses Wachstums wird durch den historischen Vergleich deutlich. Der Sozialwissenschaftler Meinhard Miegel hat 1983 errechnet, dass sich das Volkseinkommen in den eineinhalb Jahrhunderten von 1800 bis 1950 in etwa verdreifachte, während es in den vier Jahrzehnten nach 1950 gleich um mehr als das Vierfache zulegte. Wenn man den Reichtum eines Landes am Bruttoinlandsprodukt pro Einwohner misst, gehört Westdeutschland seit Langem zu den 20 reichsten Ländern der Erde. Die Steigerung des Volkseinkommens spiegelt sich in einem entsprechenden, nahezu kontinuierlichen Wachstum der westdeutschen Reallöhne und Haushaltseinkommen wider. Das – nach Abzug der direkten Steuern und Sozialabgaben – real verfügbare Einkommen pro Kopf lag nach den Berechnungen des Sozialökonomen Richard Hauser im Jahr 1991 um das 2,3-Fache über dem Niveau von 1960.
Das Wohlstandsniveau einer Bevölkerung lässt sich am besten mit dem bedarfsgewichteten verfügbaren Haushaltseinkommen pro Kopf erfassen, weil dieses die Einsparungen durch das gemeinsame Wirtschaften mehrerer Personen in einer Familie bzw. einem Haushalt berücksichtigt. Es wird Nettoäquivalenzeinkommen genannt und international zunehmend eingesetzt. In Westdeutschland erreichte es 1992 einen vorläufigen Gipfel, blieb dann aber bis 1998 unter diesem Niveau.

Die Rückwärtsentwicklung ist insbesondere den Lasten der deutschen Vereinigung geschuldet, die den Westdeutschen erstmals in der Nachkriegsgeschichte eine längere Phase mit realen Einkommenseinbußen beschert hat. Erst 1999 geht es den Westdeutschen wieder etwas besser als 1992, allerdings stagniert die Einkommenssituation mit leichten Auf- und Ab-Bewegungen bis 2008. Trotz der europäischen Wirtschaftskrise sind 2009 und 2010 wieder Gewinne von insgesamt 3 Prozent zu verbuchen. In den 18 Jahren von 1992 bis 2010 ist der durchschnittliche Wohlstand, den der Median der Nettoäquivalenzeinkommen misst, in Westdeutschland nur um 4,8 Prozent gestiegen.

Erheblich rasanter als die Einkommen schnellten die westdeutschen Vermögen in die Höhe. So stieg das Nettovermögen der Privathaushalte (Geldvermögen, Immobilien, Betriebsvermögen) zwischen 1950 und 1970 um das 7,8-Fache und zwischen 1973 und 1983 nochmals um das 2,3-Fache an. Nach dem Vierten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung (2013) verfügte ein durchschnittlicher Haushalt 2008 über Geld- und Immobilienvermögen in Höhe von 132.000 Euro. Hinter diesen Durchschnittswerten verbergen sich allerdings sehr krasse Ungleichheiten in der Verteilung zwischen Arm und Reich.

Haushaltsausstattung mit Konsumgütern in West und Ost (© Datenquellen: Datenreport 1987 (West 1962); Wirtschaft und Statistik 1988 (West 1988); Statistisches Jahrbuch der DDR (Ost 1960 und 1988); Statistisches Bundesamt (West und Ost 2013).)

Die "Wohlstandsexplosion" in den Nachkriegsjahrzehnten lässt sich beispielhaft auch an den Wohnverhältnissen und an der Ausstattung der Haushalte mit hochwertigen Konsumgütern illustrieren. Die Wohnungen und Eigenheime – ein zentraler Faktor für die Qualität des Familienlebens und ein wichtiges Refugium für die wachsende Freizeit – wurden geräumiger und komfortabler. Die Wohnfläche, die jeder Person im Durchschnitt zur Verfügung stand, hat sich zwischen 1950 und 2013 von 15 qm auf 48 qm mehr als verdreifacht; während es 1950 in 80 Prozent der Wohnungen noch kein Bad gegeben hatte, waren 1998 93 Prozent aller Wohnungen mit Bad, Innen-WC und Zentralheizung ausgestattet. Auch die technischen Konsumgüter, die das Leben leichter und angenehmer machen, wie Autos, moderne Haushaltsgeräte und Kommunikationsmedien gehören heute zur Normalausstattung.
Im internationalen Vergleich ist die Entstehung von Wohlstand und Massenkonsum nichts Außergewöhnliches, sondern eine normale Entwicklung, die sich in allen Gesellschaften Westeuropas und Nordamerikas in ähnlicher Form vollzogen hat. Die deutsche Besonderheit besteht eher in der spezifischen Ausgangslage der Deutschen. Für die Kriegsgeneration war der schnelle und steile Aufstieg aus den Verwüstungen und dem Elend der Nachkriegszeit besonders dramatisch und nahm Züge eines "Wunders" an.

Rückstand in der DDR


Die Entwicklung in der DDR konnte mit dem westdeutschen Tempo nicht Schritt halten. Obwohl auch dort die Verdienste kontinuierlich zunahmen, öffnete sich die West-Ost-Wohlstandsschere immer weiter. 1960 lag das reale, das heißt um die Kaufkraft bereinigte durchschnittliche Haushaltsnettoeinkommen in der DDR nach den Berechnungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin 1985) um 30 Prozent hinter dem westdeutschen zurück, 1970 um mehr als 40 Prozent und in den 1980er-Jahren bereits um mehr als 50 Prozent. 1988, ein Jahr vor der Wende, lagen die Bruttoverdienste der ostdeutschen Arbeitnehmer bei nur 31 Prozent der westdeutschen Durchschnittseinkommen – das entspricht in etwa dem Produktionsniveau der DDR-Wirtschaft, das für die 1980er-Jahren auf circa ein Drittel des westdeutschen geschätzt wird. Wegen der vielen Doppelverdiener war der Abstand zum Westen bei den Haushaltseinkommen nicht ganz so drastisch: 1988 erzielten die DDR-Privathaushalte ein Nettoeinkommen (Kaufkraft) von 47 Prozent des Westniveaus.

Der Rückstand im Lebensstandard lässt sich auch beim Wohnen und bei der Ausstattung mit Konsumgütern quantifizieren. Ostdeutsche wohnten enger (1989: 28 qm pro Person, West 35 qm), einfacher (1989: 49 Prozent der Wohnungen mit Bad, Innen-WC und Zentralheizung, West 79 Prozent) und in älteren Häusern (1989: mehr als die Hälfte in Vorkriegsbauten, West circa ein Viertel). Bei der Ausstattung mit Pkws (1988: 52 Prozent aller Haushalte) und Haushaltsgeräten hinkte die DDR um mindestens 15 Jahre, bei den Telefonen (1988: 16 Prozent aller Haushalte) sogar um drei Jahrzehnte hinter der Bundesrepublik her. Dürre Zahlen dieser Art machen das Wohlstandsdefizit nur sehr unzureichend deutlich. Weitere Stichworte dazu sind die schmerzlich empfundenen gravierenden Mängel im Angebot von Waren und Dienstleistungen sowie qualitative Unterschiede wie zum Beispiel "Trabbi" statt Golf.
Auch in der Vermögensbildung blieb die DDR erheblich hinter der Bundesrepublik zurück. 1988 betrug das private Geldvermögen pro Einwohner 8103 Mark (2302 Euro) im Vergleich zu 40.747 D-Mark (20.834 Euro) im Westen.

Die Ursachen für das Wohlstands- und Produktivitätsdefizit lagen in erster Linie in der Leistungs-, Innovations- und Wachstumsschwäche der zentralen Planwirtschaft. Es darf jedoch nicht übersehen werden, dass auch die Ausgangslage in Ost und West nach dem Krieg sehr ungleich war. Der Historiker Rainer Karlsch hat 1993 ermittelt, dass die Ostdeutschen durch Reparationszahlungen nach dem Zweiten Weltkrieg pro Kopf um fast das Sechzigfache höher belastet waren als die Westdeutschen. Dazu kamen zusätzliche Hemmnisse durch die erzwungene Einbindung in den osteuropäischen Wirtschafts- und Handelsraum sowie der Verlust leistungsfähiger Arbeitskräfte aufgrund der ständigen Westwanderung, die erst 1961 durch den Bau der Berliner Mauer und die Absperrung der Grenze mit Gewalt unterbunden wurde.

Die sich öffnende Wohlstandsschere wurde der DDR-Bevölkerung wegen des Westreiseverbots lange Zeit nicht in ihrem ganzen Ausmaß bewusst. Neben den Defiziten an Freiheit, politischer Teilhabe und Arbeitsqualität war sie jedoch eine – wenn nicht sogar die – zentrale Ursache für die wachsende Unzufriedenheit in den 1980er-Jahren, für die Massenflucht im Jahre 1989 und schließlich für den Zusammenbruch der DDR, der möglich wurde, nachdem der außenpolitische Druck zur Erhaltung des Systems gewichen war.

Annäherung seit der Einheit

Annäherung der Arbeitnehmerverdienste (© Datenquelle: Institut der deutschen Wirtschaft Köln)

Die Angleichung der Lebensverhältnisse in den neuen und alten Ländern stellt seit der Wende die größte Herausforderung für die deutsche Gesellschaft und ihre Machteliten dar und bildet gleichzeitig einen zentralen Konfliktherd im Verhältnis von Ost- und Westdeutschen. Der verständliche Wunsch der Ostdeutschen nach einer möglichst raschen Anhebung ihres Lebensstandards auf das westdeutsche Niveau kollidiert mit der ökonomischen Gesetzmäßigkeit, dass Wohlstandsverbesserungen an Produktivitätsfortschritte gebunden sind und dass sich ein enormer Produktivitätsrückstand nicht kurzfristig aufholen lässt.
Die West-Ost-Produktivitätslücke wurde zwar inzwischen etwas mehr als halbiert, aber der weitere Aufholprozess hat nach den Berechnungen der Statistischen Ämter von Bund und Ländern seit 1996 an Tempo verloren: Das ostdeutsche Bruttoinlandsprodukt je Einwohner ist seitdem nur noch geringfügig von 62 auf 67 Prozent des Westniveaus im Jahr 2012 angestiegen, und auch die Arbeitsproduktivität je Erwerbstätigen hat sich in diesen eineinhalb Jahrzehnten nur um 11 Prozentpunkte von 65 auf 76 Prozent des Westniveaus erhöht.

Durch Hilfen aus den alten Bundesländern im Zuge von Solidaritätsvereinbarungen wurde dafür gesorgt, dass sich die Wohlstandsschere schneller und weiter schloss als die Produktivitätsschere, wenn auch nicht alle Blütenträume, die in der Anfangseuphorie nach dem Zusammenbruch der DDR reiften, in Erfüllung gingen.

Nach den Berechnungen des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln verdienten die ostdeutschen Arbeitnehmer 2001 im Durchschnitt 1206 Euro netto pro Monat im Vergleich zu den durchschnittlich 1449 Euro ihrer westdeutschen Kolleginnen und Kollegen. Die einst weit auseinanderklaffende Verdienstlücke – 1991 machte sie noch 43 Prozent aus – ist innerhalb von vier Jahren um mehr als die Hälfte auf 20 Prozent zusammengedrückt worden, danach schrumpfte sie nur noch sehr langsam auf nominal (d. h. ohne Beachtung der Kaufkraftunterschiede) 17 Prozent im Jahr 2001. Real dürfte der Abstand – unter anderem wegen der etwas niedrigeren Mieten – ein wenig kleiner gewesen sein. Nimmt man nicht die individuellen Löhne und Gehälter als Maßstab, sondern das Nettoäquivalenzeinkommen, dann betrug die Wohlstandslücke 2001 noch 13,4 Prozent.

So entwickeln sich die Renten (© picture-alliance / dpa-infografik, Globus 6605; Quelle: BMAS, Dt. Rentenversicherung)

Besonders rasant vollzog sich die Erhöhung der Renten. Die produktionsorientierte Sozialpolitik der DDR hatte die aus dem Arbeitsleben ausgeschiedenen Menschen stark vernachlässigt. Große Teile der Rentner und insbesondere der Rentnerinnen mussten mit Minimaleinkommen ein Dasein am Rande der Gesellschaft fristen. Durch die Übernahme des westdeutschen Systems der Alterssicherung wurden die meisten älteren Menschen quasi über Nacht aus dieser Randlage befreit. Die ostdeutschen Rentnerinnen und Rentner gehören in der Regel zu den materiellen Gewinnern der Einheit. Das mit dem Nettoäquivalenzeinkommen gemessene Wohlstandsniveau ist in den ostdeutschen Rentnerhaushalten 2008 genauso hoch wie in den Nichtrentnerhaushalten – im Gegensatz zu Westdeutschland, wo den Rentnerhaushalten etwas weniger (95 Prozent) zur Verfügung steht als den Nichtrentnerhaushalten (Berechnungen des Instituts für Wirtschaftsforschung Halle). Eine Ursache sind die günstigeren Erwerbsbiografien der ostdeutschen Frauen, die längere Beitragszeiten haben als westdeutsche.

Die "nachholende Einkommensexplosion" in den neuen Ländern – sie stellte das Tempo der Lebensstandardsteigerungen in den goldenen Jahren des westdeutschen Wirtschaftswunders in den Schatten – schlug sich auch in der deutlichen Verbesserung der Wohnverhältnisse und in der Ausstattung der Haushalte nieder.
Die Wohnfläche pro Person stieg von 28 qm 1989 auf 43 qm 2013 (West 2013: 48 qm), etwa zwei Drittel der ostdeutschen Wohnungen wurden renoviert und modernisiert. Bei der Zufriedenheit mit den Wohnungen gibt es zwischen Ost und West so gut wie keine Unterschiede mehr. Ostdeutsche Haushalte sind 2013 genauso oder ähnlich gut mit Pkws, Farbfernsehern, Waschautomaten, Gefrierschränken, Mikrowellengeräten, Netz- und Mobiltelefonen, PCs und Internetzugang, DVD-Rekordern und digitalen Fotoapparaten versorgt wie westdeutsche.

Zahlen dieser Art erfassen nur unzureichend oder auch gar nicht die Entstehung einer Konsumwelt nach dem Muster westlicher Wohlstandsgesellschaften, den Qualitätssprung im Dienstleistungsangebot, die Sanierung der Umwelt, die Verbesserung der Verkehrsnetze und der Gesundheitsversorgung oder den Reiseboom.

Weiterhin Ost-West-Lücke


Die Ost-West-Lücke in den Verdiensten, Wohnbedingungen und anderen Aspekten des Lebensstandards wurde erheblich reduziert, besteht aber weiterhin. Die Entwicklung des Nettoäquivalenzeinkommens zeigt sogar an, dass sich die Ost-West-Wohlstandsschere wieder geöffnet hat. 2001 hatten die Ostdeutschen mit 86,6 Prozent des Westniveaus den bisherigen Gipfel der Annäherung erreicht. Bis 2005 fielen sie dann wieder auf 82,5 Prozent zurück, 2010 liegen sie bei 84,3 Prozent. Real dürfte die Wohlstandslücke allerdings nur etwa halb so groß sein, denn Berechnungen kommen 2009 auf Kaufkraftvorteile in Ostdeutschland im Umfang von 8 Prozent.

Besonders augenfällig wird der fortbestehende West-Ost-Abstand bei den Vermögensverhältnissen. Vier Jahrzehnte DDR ohne wesentliche Vermögensbildung sowie die fortbestehenden Einkommensdefizite und die hohe Arbeitslosigkeit nach der Vereinigung fordern ihren Tribut. Im Vierten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung (2013) ist die Entwicklung der Nettovermögen (Geld- und Immobilienvermögen abzüglich Schulden) in West und Ost zwischen 1993 und 2008 registriert. Im früheren Bundesgebiet nahm das durchschnittliche Nettovermögen eines Haushalts in diesem Zeitraum von 125.000 auf 132.000 Euro zu, in den neuen Ländern von 36.000 auf 55.000 Euro. Die ostdeutschen Haushalte haben in diesen 15 Jahren etwas aufgeholt, verfügen aber 2008 erst über 42 Prozent des Vermögens der westdeutschen Haushalte. So sind auch Erbschaften in Ostdeutschland seltener als im Westen, und die vererbten Beträge von durchschnittlich 15.000 Euro liegen sehr deutlich unter dem West-Durchschnitt von 70.000 Euro.

Weiterer Nachholbedarf besteht bei der Sanierung verfallener Stadtviertel und Dörfer sowie beim Zustand öffentlicher Gebäude und Einrichtungen wie Schulen, Krankenhäusern und Altersheimen. Defizite dieser Art wurden zwar gemildert, aber es wird noch einige Zeit in Anspruch nehmen, um sie endgültig zu beseitigen.
Der soziale Umbruch hat für die Ostdeutschen nicht nur neuen Wohlstand, sondern auch eine Fülle von schmerzlichen Erfahrungen mit sich gebracht. Die größten Verunsicherungen hat die lang anhaltende Massenarbeitslosigkeit ausgelöst; etwa ein Drittel der Arbeitsplätze ist nach dem Zusammenbruch der DDR verloren gegangen. "Das Leiden aller Leiden ist die Arbeitslosigkeit." Dieser Satz von Martin Walser gilt für Ostdeutsche in besonderer Weise, war doch die DDR in stärkerem Maße eine "Arbeitsgesellschaft" mit Arbeitsplatzgarantie geblieben als die Bundesrepublik.

Das Tempo der Annäherung wäre ohne Leistungstransfers von West nach Ost in weltweit einmaliger Größenordnung nicht möglich gewesen. Nach den Berechnungen des Instituts für Wirtschaftsforschung Halle belaufen sich die Nettotransfers (abzüglich zurückfließender Steuereinnahmen und Sozialversicherungsbeiträge) für die Jahre 1991 bis 2011 auf etwa 1400 Milliarden Euro, das heißt pro Einwohner der alten Länder (einschließlich Ausländer) über zwei Jahrzehnte hinweg etwa 1000 Euro jährlich. Die Bundesbank hat errechnet, dass ein lediger westdeutscher Durchschnittsverdiener zwischen 1990 und 1996 Einkommensverluste von 6 Prozent durch zusätzliche Steuern und Sozialabgaben für den Aufbau Ost hinnehmen musste.

Trotz dieser Anstrengungen ist das vereinte Deutschland von einer Angleichung der Lebensbedingungen in Ost und West noch ein erhebliches Stück entfernt, und es ist absehbar, dass die soziale Einheit im Sinne der Herstellung gleicher Lebensverhältnisse ein langwieriger Prozess ist. Die Folgen von fast einem halben Jahrhundert ungleicher Entwicklungen sind nicht innerhalb weniger Jahre zu beseitigen. Die Deutschen – insbesondere ihre wichtigen Entscheidungsträger und Meinungsführer – stehen dabei vor der Aufgabe, beim Abbau der West-Ost-Kluft ein mittleres "goldenes Tempo" zu finden, das weder die Geduld der Ostdeutschen noch die Solidaritätsbereitschaft der Westdeutschen überfordert.

Einkommensungleichheiten und Polarisierung

Personelle Verteilung der Nettoäquivalenzeinkommen (© Rainer Geißler: Die Sozialstruktur Deutschlands)

Vom enormen Anstieg des Wohlstands haben verschiedene Gruppen der Gesellschaft in unterschiedlichem Maße profitiert. Die Steigerung des Lebensstandards hat die sozialen Ungleichheiten nicht beseitigt. Alle Wohlstandsgesellschaften der Gegenwart zeichnen sich durch erhebliche Unterschiede im Einkommen und Besitz und den damit verbundenen Lebenschancen aus, alle kennen sie Reichtum und Armut.

Die Kluft zwischen Arm und Reich wird dem sozial sensiblen Beobachter immer wieder in drastischer Form vor Augen geführt: In großstädtischen Ladenpassagen finden Pelzmäntel für 12.000 Euro oder brillantbesetzte Uhren für 34.000 Euro ihre Käufer, während vor den Schaufenstern derselben exklusiven Boutiquen Menschen neben leeren Weinflaschen und Plastiktüten schlafen, in denen sie ihr ganzes Hab und Gut mit sich führen.
Der Wohlstand – gemessen am Nettoäquivalenzeinkommen – ist sehr unterschiedlich verteilt. 1,5 Prozent der Menschen in Deutschland fristen ihr Dasein mit weniger als 500 Euro und weitere 17 Prozent mit weniger als 1000 Euro in armen oder armutsnahen Lebensverhältnissen. Gut die Hälfte (52 Prozent) bewegt sich im Bereich zwischen 1000 und 2000 Euro und ein weiteres gutes Fünftel (21 Prozent) zwischen 2000 und 3000 Euro. Eine Minderheit von 8,6 Prozent gehört zu den Wohlhabenden und Reichen, die mit mehr als 3000 Euro pro Monat einen großzügigen, zum Teil auch luxuriösen Lebensstil pflegen können. Das Schaubild zeigt, dass aus dem "Durchschnittsbauch" der Normalverdiener eine Pyramide von Menschen mit überdurchschnittlichem Einkommen herausragt, die sich nach oben hin zunehmend verjüngt und schließlich bei den Spitzeneinkommen die Form einer spitzen Antenne annimmt.

Den Inbegriff des Reichtums stellen nach allgemeinem Verständnis die "Millionäre" dar. Als Folge der kontinuierlichen Geldentwertung dürfte man heutzutage mit den Superreichen eher die Einkommensmillionäre als die inzwischen sehr zahlreichen Vermögensmillionäre assoziieren. Die Zahl der DM-Einkommensmillionäre ist in Westdeutschland zwischen 1983 und 2001 um mehr als das 3-Fache gestiegen: 1983 deklarierten gut 10.000 westdeutsche Steuerzahler bei den Finanzämtern ein jährliches Einkommen von mindestens einer Million D-Mark, 2001 gaben gut 34.000 Steuerzahler über 500.000 Euro an, darunter 11.830 über eine Million Euro. Auch im vergangenen Jahrzehnt hat die Zahl der Euro-Einkommensmillionäre weiter zugenommen – bis 2008 auf 18.600. Nicht enthalten in diesen Zahlen sind die kriminellen Steuerflüchtlinge sowie reiche Deutsche, die ihren Wohnsitz in ausländische "Steuerparadiese" verlegt haben und sich damit "legal" ihrer staatsbürgerlichen Steuerpflicht in Deutschland entziehen.

Bildungs- und Berufsgruppen

Einkommen nach Bildungsabschluss (© Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2012. Bildung in Deutschland 2012, S. 205)

Einen soziologisch etwas konkreteren Einblick in die Einkommensverteilung vermitteln die Unterschiede zwischen Bildungs- und Berufsgruppen. Eine gute Ausbildung zahlt sich finanziell nach wie vor aus. Hochschulabsolventen verdienen mehr als das Doppelte von Erwerbstätigen, die das Bildungssystem ohne Schulabschluss verlassen haben. Und die Abstände zwischen den Bildungsgruppen haben sich im Zuge der Bildungsexpansion nicht verkleinert, wie mitunter angenommen wird, sondern sind größer geworden. Nach den Berechnungen des Nürnberger Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung sind die Monatsverdienste der verschiedenen Qualifikationsgruppen 2008 deutlich weiter voneinander entfernt als 1984. Auch die Armutsrisiken variieren stark bildungsspezifisch. Zwischen 2009 und 2011 lebten 5 Prozent aller Hochschulabsolventen in Armut, von den Menschen ohne Hauptschulabschluss waren es 29 Prozent.

Zu den Berufsgruppen existiert nur die sehr grobe Einteilung nach der beruflichen Stellung in der offiziellen Statistik. In Westdeutschland erzielen die Selbstständigen seit jeher die höchsten Einkommen. Ihre Nettoeinkommen schwankten 1972 bis 1996 ungefähr zwischen dem 1,5-Fachen und dem 2,5-Fachen des Durchschnitts. Nach dem Datenreport 2008 betrugen ihre Nettoäquivalenzeinkommen in Gesamtdeutschland 62.900 Euro, das ist das 2,8-Fache des Durchschnitts. Arbeiterfamilien mussten sich mit 17.600 Euro bzw. 78 Prozent des Durchschnitts begnügen. Beachtenswert sind die großen Unterschiede innerhalb der Gruppe der Selbstständigen. So mussten 2010 in Westdeutschland 17 Prozent und in Ostdeutschland 23 Prozent der vollzeiterwerbstätigen Selbstständigen mit einem monatlichen Nettoverdienst unter 900 Euro auskommen.

QuellentextWer verdient wie viel?

[…] Das Jahresdurchschnittseinkommen eines normalen Arbeitnehmers ist in der vergangenen Dekade kaum gewachsen. Die Spitzengehälter dafür umso mehr. Hat der Chef eines großen Konzerns früher umgerechnet vielleicht eine halbe Million Euro bekommen, sind es heute im Durchschnitt fünf Millionen. […] Bricht man diese[s] Einkommen auf das Monatssalär runter, jene Einheit also, in der die meisten Menschen rechnen, dann bekommt ein Spitzenmanager im Monat etwa 400.000 Euro. Ein Manager im Mittelbau vielleicht 20.000 Euro. Ein Arzt durchschnittlich 7500 Euro. Eine Krankenschwester 3000 Euro. Eine Friseurin 1400 Euro. Ist das gerecht? Verträgt das die soziale Marktwirtschaft? […]

Was aber fällt aus dem Rahmen, was ist gerecht?

Aussagen dazu sind immer auch abhängig von den Gründen, die zu einer kritisierten Situation führen. So gibt es für die hohen Einkommen der Manager natürlich seriösere Begründungen als das Schlagwort "Abzockerei", das viele Kritiker im Mund führen. Eine Begründung zielt auf den Arbeitseinsatz ab. Manager arbeiten häufig beinahe rund um die Uhr in höchster Anspannung […]. Sie stehen unter Beobachtung der Finanzmärkte und der Öffentlichkeit, der körperliche und mentale Druck ist enorm hoch. Richtig – aber dennoch nicht das stärkste Argument. Der Einsatz rechtfertigt nach allgemeinem Verständnis vielleicht eine Erschwerniszulage, aber nicht die Multiplikation der Einkommen gegenüber dem Durchschnittseinkommen um das 100- oder Mehrfache. Auch Polizisten, Lehrer und Krankenschwestern gehen nicht selten an die Schmerzgrenze – ohne dass das entsprechend vergütet würde. […]
Gewichtiger ist ein weiteres Argument: das des Einflusses der Topmanager. So einer führt schnell 100.000 Mitarbeiter oder mehr, er beeinflusst Umsatz in Millionen oder gar Milliardenhöhe. […] In dieser Größenordnung sind strategische Entscheidungen Meilensteine. Eine einzige Fehlinvestition kann Milliarden Euro kosten, Arbeitsplätze im großen Stil gefährden und dem Staat hohe Steuerausfälle bescheren. So viel Verantwortung muss hoch entlohnt werden – das ist wohl das stärkste der bisher aufgezählten Argumente. […] [Es] gibt […] noch einen anderen, ganz fundamentalen Grund für die Gehälterspreizung. Er lautet: Der Markt bestimmt. Oder als Frage formuliert: Wer zahlt? Erfolgreiche Firmen verdienen viel Geld – je größer, desto mehr – und können deshalb ihre Mitarbeiter gut bezahlen, die Führung am besten. […]
Es ist kein Zufall, dass viele der Berufe am unteren Ende der Skala Berufe im öffentlichen Auftrag sind. Bei den Konzernen entscheiden die Aktionäre, also die Eigentümer. Das kann die Summe der Kleinanleger sein, aber auch das Wort eines Großaktionärs […]. Beim Staat entscheidet der Wahlbürger und Steuerzahler.
Abgesehen davon, dass das mühsam ist, fehlt in der Gesellschaft typischerweise auch eine klare Position: Will die Gesellschaft ihre Erzieher besser bezahlen? Will sie mehr und bessere Polizisten? Der Staat hat nie genug Geld, er hat aber immer Alternativen, das muss am Ende eine Gesellschaft für sich entscheiden. Wer also das steile Einkommensgefälle verändern will, muss an beiden Enden das Bewusstsein verändern – das dauert, wie alle gesellschaftlichen Orientierungen. […]
Freilich: Wer generelle Obergrenzen für Gehälter erwirken will, greift weit in eine Wirtschaftsordnung ein, die auf Freiheit und Eigentumsschutz beruht. Wer an die Marktwirtschaft als eine zwar unvollkommene, aber doch freie und für die meisten Menschen vergleichsweise erfolgreiche Wirtschaftsform glaubt, der hält es eher nicht für die Aufgabe des Staates, generell Gehälter festzulegen.
Es gäbe dafür auch keinen zwingenden Maßstab: Warum das 20-Fache? Warum nicht das 50-Fache? Oder am besten verdienen alle gleich viel – wer soll das entscheiden? Eine Marktwirtschaft kann diese Dinge nicht vorschreiben, sonst ist sie eine Planwirtschaft.

Marc Beise, "An der Schmerzgrenze", in: Süddeutsche Zeitung vom 23./24. März 2013

Zunehmende Polarisierung


Die Entwicklung der Einkommensungleichheit gehört zu den gesellschaftspolitisch bedeutsamen und immer wieder diskutierten Fragen: Sind die Einkommen heute gleicher oder ungleicher verteilt als früher? Ist der Abstand zwischen Arm und Reich größer oder kleiner geworden? Werden die Armen immer ärmer und die Reichen immer reicher, wie 76 Prozent der Deutschen im Jahr 2005 glaubten?

Verteilung des Nettoäquivalenzeinkommens auf Bevölkerungsfünftel (© Datenquellen: Hauser 1998 (1962-1988); Berechnungen durch GESIS – Zentrum für Sozialindikatorenforschung (1992-2012).)

Die Einteilung der Bevölkerung in Einkommensfünftel erhellt einen Aspekt dieser Frage auf empirischer Basis. Die Tabelle rechts zeigt in Westdeutschland leichte Tendenzen einer Umverteilung von oben nach unten in den 1960er- und 1970er-Jahren: Der Abstand zwischen dem oberen und dem unteren Fünftel ging vom 4,2-Fachen im Jahr 1962 auf das 3,4-Fache im Jahr 1978 zurück. Seit Anfang der 1990er-Jahre vollzieht sich jedoch eine Trendwende – eine Umverteilung von unten nach oben, die deutliche Züge einer zunehmenden Polarisierung trägt. 2006 erreicht diese Polarisierung ihren vorläufigen Höhepunkt: Das Nettoäquivalenzeinkommen im oberen Fünftel ist um das 4,6-Fache höher als das im unteren Fünftel; die Einkommensungleichheit zwischen dem armen und dem reichen Fünftel der Bevölkerung erreicht den höchsten Stand seit 1962, als sie erstmals in der westdeutschen Nachkriegsgeschichte gemessen wurde. Zwischen 2006 und 2012 gibt es dann gewisse kleinere Schwankungen, aber keine eindeutig rückläufige Tendenz. Verlierer dieser Polarisierung ist die untere Hälfte der Gesellschaft, insbesondere das arme Fünftel; gewonnen hat das reiche Fünftel. Zwischen 2006 und 2012 ist der Anteil des ärmsten Fünftels wieder minimal größer und der Anteil des reichsten Fünftels geringfügig kleiner geworden. Allerdings klaffen Armut und Reichtum auch 2012 immer noch weiter auseinander als in den Jahrzehnten vorher.

Andere Berechnungsmethoden bestätigen diese Tendenz, dass eine zunächst rückläufige Ungleichheit der Einkommen seit zwei Jahrzehnten von einer zunehmenden Polarisierung abgelöst wurde. Der Gini-Koeffizient – eine international gebräuchliche kompakte Messziffer für die Ungleichverteilung – erreicht mit 0.303 im Jahr 2006 und 0.298 im Jahr 2012 die Spitzenwerte in den letzten 50 Jahren.

Seit die Bundesregierung 2001 den ersten Armuts- und Reichtumsbericht vorgelegt hat, wird in Deutschland intensiver über Reichtum geforscht. Wer im Hinblick auf sein Einkommen zu den Reichen gehört, ist durchaus umstritten. In der Regel werden diejenigen Haushalte als reich eingestuft, deren Nettoäquivalenzeinkommen mindestens das Doppelte des Durchschnitts beträgt. Empirisch gut erkennen lassen sich damit zwei Entwicklungen in den beiden letzten Jahrzehnten. Diese belegen die bereits erwähnte zunehmende Polarisierung:

  • Die Reichen werden immer zahlreicher. Im Jahr 2000 lebten 3,1 Prozent der Deutschen in reichen Familien oder Haushalten; bis 2011 ist dieser Anteil laut Datenreport 2013 um fast die Hälfte auf 4,5 Prozent gewachsen.

  • Die Reichen werden nicht nur immer zahlreicher, sie werden auch immer reicher, ihr Abstand zum Durchschnitt nimmt zu. Nach den Angaben im ersten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung (2001) und in der Studie des Reichtumsforschers Wolfgang Lauterbach (2009) lässt sich Folgendes berechnen: 1995 lebten die reichsten 5 Prozent von einem Nettoäquivalenzeinkommen, das um das 2,15-Fache über dem Durchschnitt lag; 2003 hatte sich diese Kluft auf das 2,38-Fache erweitert (Geißler 2014, S. 78).

QuellentextVermisst: Soziale Gerechtigkeit

Zwei Drittel der Deutschen glauben, dass die soziale Gerechtigkeit in den vergangenen drei bis vier Jahren abgenommen hat. 64 Prozent der Bevölkerung sind dieser Meinung. Das hat eine repräsentative Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Allensbach im Auftrag der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft herausgefunden. […] Befragt wurden 3000 Deutsche ab 16 Jahren im Dezember 2012 und Januar 2013. Als soziale Gerechtigkeit definieren die Bürger etwa, dass man von dem Lohn für seine Arbeit gut leben kann (91 Prozent), dass alle Kinder die gleichen Chancen auf eine gute Schulbildung haben (90 Prozent) oder dass der Staat für eine Grundsicherung sorgt, damit niemand in Not gerät (77 Prozent). […]

Die Gerechtigkeitslücke (© Frankfurter Rundschau / Anja Kühl; Quelle: IFD-Allensbach)

Interessant ist jedoch, dass sich im internationalen Vergleich ein völlig anderes Bild ergibt. Zwar finden 34 Prozent der Deutschen, dass es in Schweden am meisten soziale Gerechtigkeit gebe – Deutschland folgt jedoch mit 23 Prozent auf Platz zwei. Die geringste soziale Gerechtigkeit sprechen die Befragten den USA (25 Prozent) und China (66 Prozent) zu. "Die Deutschen differenzieren also klar zwischen der Frage, wie nahe wir in Deutschland selbst der sozialen Gerechtigkeit kommen, und wie wir im internationalen Vergleich abschneiden", erläutert [Professorin Renate] Köcher [Geschäftsführerin des Allensbach-Instituts – Anm. d. Red.] diesen Unterschied. Als ungerecht empfinden die Deutschen, wenn Geringverdiener nur etwas mehr Geld bekommen als Arbeitslose (76 Prozent) oder wenn Unternehmen, die Gewinne machen, Menschen entlassen (75 Prozent). Um die Verteilungsgerechtigkeit zu verbessern, sollten Steuerschlupflöcher abgeschafft und Mindesteinkommen für Arbeitnehmer sichergestellt werden (beides 76 Prozent). […]

Als verantwortlich für Gerechtigkeit sehen die Befragten die Politiker. 73 Prozent sind überzeugt, dass die Politik viel tun kann, um Gerechtigkeit voranzubringen. […] Konkret wünschen sich die Bürger, dass der Staat die Vereinbarkeit von Familie und Beruf verbessert (71 Prozent). […] Vom Staat fordern 70 Prozent der Befragten, dass Schüler besser auf das Berufsleben vorbereitet werden. Das Steuersystem hingegen wird immer mehr als gerecht wahrgenommen. Während vor knapp zehn Jahren noch 78 Prozent das Steuersystem als ungerecht empfanden, teilen diese Meinung heute nur noch 49 Prozent der Bürger. Da in den vergangenen Jahren keine Veränderungen im Steuersystem stattgefunden haben, erklärt sich Renate Köcher diese große Veränderung mit dem Aufschwung der vergangenen Jahre. "In unseren Umfragen geben viele an, dass sich ihre materielle Lage verbessert hat." Wer mehr Geld auf dem Konto hat, empfindet das Steuersystem also plötzlich nicht mehr als ungerecht.

Angela Sommersberg, "Vermisst: Soziale Gerechtigkeit", in: Frankfurter Rundschau vom 15. Februar 2013

Internationaler Vergleich


Die zunehmende Polarisierung der Einkommen in Deutschland hat auch im internationalen Vergleich ihre Spuren hinterlassen. Die internationalen Daten erleichtern die Einschätzung darüber, ob die Einkommen in Deutschland besonders gleich oder besonders ungleich verteilt sind. Innerhalb der Europäischen Union (EU-15) gehörte Deutschland 2001 zu den Ländern mit relativ geringen Unterschieden im Äquivalenzeinkommen zwischen dem reichsten und dem ärmsten Fünftel der Bevölkerung. Lediglich in den drei skandinavischen Gesellschaften (Dänemark, Schweden und Finnland) und in Österreich waren die Unterschiede kleiner. Zwischen 2001 und 2008 ist Deutschland dann innerhalb der EU-15 von Rang 5 in die untere Hälfte auf Rang 10 abgerutscht. Neben den vier erwähnten Ländern gehören nunmehr auch die Niederlande, Belgien, Luxemburg, Frankreich und Irland (in dieser Reihenfolge) zu den Gesellschaften, in denen die Nettoäquivalenzeinkommen weniger ungleich verteilt sind als in Deutschland.

Ursachen


Als Ursachen für die Einkommenspolarisierung spielen offensichtlich viele Entwicklungen eine Rolle, deren Zusammenhänge und relative Bedeutung nicht eindeutig geklärt sind.

  • Ökonomen verweisen auf den Angebot-Nachfrage-Mechanismus des Arbeitsmarktes im Informationszeitalter: Der technische Wandel hat dazu geführt, dass die Nachfrage nach hoch qualifizierten Arbeitskräften wie IT-Spezialisten, Managern oder Beratern stark zugenommen hat, sodass der Bedarf das Angebot übersteigt. Genau umgekehrt ist die Situation bei den handwerklichen Tätigkeiten.

  • Immer häufiger sind Arbeitsplätze nicht mehr durch kollektive Tarifverträge gesichert; minderbezahlte befristete Arbeitsplätze nehmen zu. Die Abnahme der Tarifbindung von Löhnen und Gehältern sowie die Ausdehnung des Niedriglohnsektors weisen auf die begrenzte Verhandlungsmacht der Gewerkschaften hin, deren Organisationsgrad seit 1980 zurückgegangen ist. In den vergangenen Jahren ist er jedoch auf einem mittleren europäischen Niveau konstant geblieben; bei der IG Metall gibt es insbesondere bei den jüngeren Jahrgängen wieder leichte Zuwächse.

  • Auch die zunehmende Globalisierung der Arbeitszusammenhänge verstärkt den Druck auf die Verdienste der Geringqualifizierten. Deren relative Wettbewerbsposition in Deutschland wird dadurch beeinträchtigt, dass niedrig qualifizierte Arbeiten immer häufiger in Billiglohnländer ausgelagert werden.

  • Auch die schrittweise Absenkung des Spitzensteuersatzes von 53 Prozent im Jahr 1999 auf 42 Prozent seit 2005 hat Umverteilungseffekte zugunsten der hohen Einkommensschichten ausgelöst.

  • Eine weitere Ursache der Einkommenspolarisierung sind die Veränderungen der Haushaltsstrukturen, nämlich die Zunahme von einkommensstarken Paaren ohne Kinder und von einkommensschwachen Alleinerziehenden.

Vermögensungleichheiten

Polarisierung der individuellen Nettovermögen zwischen 2002 und 2007 (© Joachim R. Frick / Markus M. Grabka (DiW) 2009 (Datenbasis: SOEP))

Die Statistik unterscheidet drei wichtige Grundarten des Vermögens: das Geldvermögen (verschiedene Varianten von Sparanlagen wie Spar- und Bausparguthaben, Lebensversicherungen, Wertpapiere, Aktien u. Ä.), das Immobilienvermögen (Haus- und Grundbesitz) und das Betriebsvermögen.
Die Chancen, Ersparnisse und Vermögen zu bilden, sind sehr ungleich verteilt: Wer wenig verdient, kann nur wenig oder auch gar nichts zurücklegen. So ist es nicht verwunderlich, dass die Vermögensunterschiede noch erheblich stärker ausgeprägt sind als die Einkommensunterschiede. Der Wert des Gini-Koeffizienten für die Ungleichheit der individuellen Nettovermögen in Westdeutschland ist 2007 mit 0.785 mehr als zweieinhalbmal so hoch wie für die Ungleichheit der Nettoäquivalenzeinkommen mit 0.295.
Einerseits nähert sich die Zahl der Vermögensmillionäre (gemessen in US-Dollar) in Deutschland inzwischen der Millionengrenze: Nach dem World Wealth Report von Capgemini und Merrill Lynch stieg sie zwischen 2005 und 2009 um ein Fünftel von 767.000 auf 924.000 an; etwa jeder vierzigste Privathaushalt (2,5 Prozent) besitzt ein Vermögen von mindestens einer Million US-Dollar. Andererseits standen im Jahr 2007 30 Prozent der deutschen Bevölkerung ohne Vermögen da. Das ärmste Zehntel hatte nicht nur keinen Besitz, sondern wies eine Minusbilanz auf: Seine durchschnittlichen Schulden waren höher als sein Vermögen.

Ein Privileg der oberen Hälfte der Gesellschaft


Die Bildung von Vermögen ist ein Privileg der oberen Hälfte der Gesellschaft. Nach dem Vierten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung (2013) sind 2008 lediglich 1,2 Prozent des Gesamtvermögens in der unteren Hälfte der Bevölkerung verblieben. Und auch in der oberen Hälfte sind die Chancen auf Vermögensbildung noch sehr ungleich verteilt. Dem Zweiten Armuts- und Reichtumsbericht (2005) ist zu entnehmen, dass das obere Fünftel 2003 über 68 Prozent des Vermögens verfügt und 8,5-mal mehr an Vermögen angehäuft hat als das mittlere Fünftel.

Für die Entwicklung zwischen 2002 und 2007 liegt eine Studie zu den individuellen Nettovermögen in Gesamtdeutschland vor. Sie teilt die Bevölkerung ab 17 Jahren in zehn gleich große Gruppen ein und zeigt deren Anteil am Gesamtvermögen. Die Analyse belegt eine zunehmende Polarisierung zwischen Arm und Reich. Gewinner sind ausschließlich die reichsten 10 Prozent der Bevölkerung – in Westdeutschland verfügen diese über mindestens 251.000 Euro und in Ostdeutschland über mindestens 91.000 Euro. Die anderen Zehntel haben gewisse Einbußen hinnehmen müssen oder sind bei ihren geringfügigen Anteilen geblieben. Das ärmste Zehntel ist noch tiefer in die Schulden gerutscht und die beiden Gruppen ohne Vermögen – das zweite und dritte Zehntel von unten – haben weiterhin kein Vermögen bilden können.

Auch der Vierte Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung (2013) belegt, dass die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer werden. Zwischen 1998 und 2008 ist der enorme Anteil des reichsten Zehntels der Haushalte am Nettovermögen von 45 auf 53 Prozent gestiegen, während der ohnehin schon extrem geringfügige Anteil der unteren Hälfte der Haushalte von 3 Prozent auf den winzigen Rest von einem Prozent zusammengeschmolzen ist. Der Gini-Koeffizient ist in diesem Jahrzehnt um 9 Prozent von 0.686 auf 0.748 angestiegen.

Die Vermögensunterschiede nach beruflicher Stellung bergen keine Überraschungen und entsprechen in etwa den Einkommensunterschieden zwischen diesen Gruppen. Fast zwei Drittel der Arbeitslosen, aber auch ein knappes Drittel der Arbeiterschaft und der einfachen Angestellten stehen ohne Vermögen da. Im oberen Bereich ragen die großen Vermögensbestände der leitenden Angestellten und insbesondere der Selbstständigen heraus. Dabei ist zu beachten, dass das Vermögen für Selbstständige einen wichtigen Teil ihrer Altersvorsorge darstellt. Auch das Vermögen der gehobenen und höheren Beamten liegt deutlich über dem Durchschnitt – ein Vorsprung, der an den Vermögen der Pensionäre im Alter (das 2,2-Fache des Durchschnitts) sichtbar wird.

Die hohen Vermögensbestände haben in den vergangenen Jahren eine Welle von Erbschaften in bisher unbekanntem Ausmaß ausgelöst. Die Auswertung des Alterssurveys 2002 durch eine Arbeitsgruppe um den Soziologen Martin Kohli ergab, dass fast jeder dritte Westdeutsche im Alter von 40 bis 45 Jahren mehr als 13.000 Euro geerbt hat, jeder sechste mehr als 51.000 Euro und jeder dreißigste mehr als 256.000 Euro. Fast jeder Hundertste (0,8 Prozent) gibt an, D-Mark-Millionenerbe zu sein (mindestens 511.000 Euro). Nach einer neuen Studie dieser Arbeitsgruppe sind Erbschaften und Schenkungen in den Jahren 2002 bis 2007 umso größer, je höher die Bildung, der berufliche Status und das bereits vorhandene Vermögen der Empfangenden ist. Beim Vermögenstransfer von Generation zu Generation greift also der biblische "Matthäus-Effekt": "Wer da hat, dem wird gegeben." Dennoch hat die Weitergabe der Vermögen nach den neueren Berechnungen keine zunehmende Vermögenskonzentration zur Folge, sondern wirkt sogar eher "tendenziell nivellierend". Denn es profitieren davon auch vermögensarme Haushalte, die vorher über kein oder nur geringes Vermögen verfügten, und große Vermögen werden durch die Aufteilung auf mehrere Erben zum Teil "zersplittert".

QuellentextUnterschiedliche Lebenshaltungskosten

In deutschen Großstädten können sich viele Menschen immer weniger leisten. Dort ist das Risiko, in die Armut abzurutschen, stärker als in ländlichen Gebieten. Dies geht aus einer neuen Studie des arbeitgebernahen Instituts der Deutschen Wirtschaft (IW) hervor, bei der die Forscher die regionalen Preisunterschiede und die jeweilige Kaufkraft berücksichtigt haben. Demnach benötigt ein Alleinstehender in München 1030 Euro, um sich genauso viel kaufen zu können wie ein durchschnittlicher Bürger in Deutschland mit 870 Euro im Monat. Im ostdeutschen Stendal oder im Vogtland reichen dagegen schon knapp 800 Euro.
Wer schon einmal in einem Brandenburger Dorfgasthof und in Bayerns Landeshauptstadt einen Cappuccino gezahlt hat, weiß: Die Dinge des täglichen Lebens kosten innerhalb Deutschlands unterschiedlich viel. So sind in den Großstädten die Verbraucherpreise im Schnitt um mehr als sechs Prozent höher als in ländlichen Gebieten. Gleichzeitig fallen die Preise im Osten im Durchschnitt um sieben Prozent geringer aus als im Westen.
Bei der Diskussion um die Armut im Land spielte dies bislang aber keine große Rolle. Egal wo man wohnt: Als arm gilt, wer weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens (Median) zur Verfügung hat. Das ist jenes Einkommen, das von der einen Hälfte der Bevölkerung über- und von der anderen Hälfte unterschritten wird. Der bundesweite Schwellenwert für eine Single liegt dafür bei 870 Euro, für ein Paar mit zwei Kindern bei 1830 Euro, für Paare ohne Nachwuchs bei 1300 Euro, für Alleinstehende mit Kind bei 1130 Euro. Rechnet man auf diese Weise, teilt sich Deutschland im Prinzip in zwei Hälften: Beim Einkommen gibt es zwischen West und Ost ein starkes Gefälle. Berücksichtigt man – wie die IW-Wissenschaftler – die Preisunterschiede, liegen die Armutsquoten jedoch gar nicht mehr so weit auseinander. Thüringen weist danach zum Beispiel die drittniedrigste Quote aller Bundesländer auf. Und Brandenburg, das an Kaufkraft stärkste Bundesland unten den fünf Neuen, kann fast mit Hamburg gleichziehen. Das eigentliche Problem sei dann "das Stadt-Land-Gefälle", sagt IW-Direktor Michael Hüther.
So sind nach den IW-Berechnungen in ländlichen Regionen nur 14 Prozent der Bevölkerung kaufkraftarm. In Städten trifft dies auf mehr als jeden Fünften (22 Prozent) zu. Zugleich sind die zehn Regionen mit der höchsten Einkommensarmut Großstädte. Am schlechtesten schneidet Köln ab, dort lebt laut IW mehr als jeder Vierte unter der von dem Institut errechneten Armutsschwelle, dicht gefolgt von Dortmund, einigen Bezirken Berlins, Bremerhaven, Leipzig, Duisburg und Frankfurt am Main. Hüther führt das darauf zurück, dass die Ungleichheit in den Städten "besonders hoch ist". Dies erkläre sich damit, dass dort einerseits besonders einkommensstarke Gruppen, andererseits viele Arbeitslose, Alleinerziehende und Zuwanderer leben, die ein höheres Risiko haben, arm zu werden.
Unter den besten 20 befinden sich hingegen vor allem süddeutsche Landkreise wie Dillingen an der Donau, Erlangen-Höchstadt oder Landau in der Pfalz. Dort sind dem IW zufolge weniger als zehn Prozent kaufkraftarm. Land und Stadt driften dabei immer weiter auseinander: In den ländlichen Gebieten blieb laut dem Kölner Institut die preisbereinigte Armutsquote fast unverändert, während sie in den städtischen Regionen zunahm. Dies gilt vor allem für die Städte Nordrhein-Westfalens. Dieses Land-Stadt-Gefälle wird sich nach Angaben des IW eher vergrößern, weil die Mieten an gefragten Standorten zuletzt stark gestiegen sind und dies die Kaufkraft der Stadtbewohner weiter dämpfen wird. […]

Thomas Öchsner, "Der Preis der Großstadt", in: Süddeutsche Zeitung vom 26. August 2014

Unterschiede in Ostdeutschland


In der DDR waren die Vermögensunterschiede im Zuge der sozialistischen Nivellierungspolitik stark eingeebnet worden. Zu den wichtigen Maßnahmen gehörten Enteignungen der Großgrundbesitzer, Großbauern und Bergwerke, der Großunternehmer in Industrie und Handel, der Banken und Versicherungen sowie der Flüchtlinge, Verstaatlichung und Kollektivierung, Restriktionen für den kleinen Rest der Selbstständigen sowie die Entwertung des Immobilienbesitzes.

Auch die Einkommensunterschiede – zwischen Arbeitern, Angestellten und Genossenschaftsbauern, zwischen Genossenschaftsmitgliedern und Selbstständigen, aber auch innerhalb dieser Gruppen – wurden nach dem egalitären Prinzip der "Annäherung aller Klassen und Schichten" verkleinert. Arbeiter und Bauern erhielten dadurch vergleichsweise günstige Positionen im Ungleichheitsgefüge der DDR; die Opfer dieser "Annäherungspolitik" waren wichtige Leistungsträger wie Selbstständige und Hochqualifizierte sowie die Angestellten. Wohlstandsdefizit, soziale Nivellierung und die relativ günstige Soziallage von Arbeitern und Bauern rechtfertigen es, die DDR als eine nach unten – nicht zur Mitte hin – nivellierte Arbeiter- und Bauerngesellschaft zu charakterisieren.

Der Abbau der Einkommensungleichheit war im letzten Jahrzehnt der DDR nicht unumstritten. Auf der Suche nach den "sozialen Triebkräften" des Wirtschaftswachstums distanzierten sich der Sozialstrukturforscher Manfred Lötsch und andere Wissenschaftler von traditionellen kommunistischen Gleichheitsvorstellungen und von einem starren "gleichmacherischen" Gehaltssystem. Sie kritisierten die Missachtung des Leistungsprinzips und entwickelten die These von der Triebkraftfunktion sozialer Unterschiede, die stark an die Argumente der amerikanischen Funktionalisten erinnert. Nach dieser These wirkt eine übertriebene Nivellierung leistungsfeindlich; sie bremse die sozioökonomische Entwicklung, da bestimmte Unterschiede im Einkommen und in den Lebensbedingungen als Leistungsanreize erforderlich seien.

Angleichung nach 1990


Nach dem Zusammenbruch der DDR wurde der Wohlstandsschub von einer Zunahme sozialer Ungleichheit in den neuen Ländern begleitet; leistungshemmende soziale Nivellierung kehrte sich um in zunehmende soziale Differenzierung. Die Hintergründe dieser Trendumkehr sind die Reprivatisierung der Wirtschaft und des Immobilienmarktes, der Neuaufbau des Mittelstandes von Selbstständigen und Freiberuflern sowie die Spreizung der Lohn- und Gehaltsstrukturen. In ihrem Gefolge vergrößern sich die Einkommens- und Vermögensunterschiede und die damit verknüpften Unterschiede in den Lebensbedingungen und Lebenschancen. Im Zusammenhang mit dem Wohlstandsschub bedeutet dies Differenzierung und Polarisierung nach oben: Die sozialen Abstände zwischen oben und unten werden auf einem insgesamt höheren Niveau größer.

Zu den materiellen Gewinnern der Einheit gehören neben der großen Mehrheit der Rentnerinnen und Rentner die Freiberufler wie Ärzte, Rechtsanwälte oder Steuerberater, deren Abstand zum Durchschnitt größer ist als in den alten Ländern. Die größeren Unternehmer sind dagegen von den Einkommensprivilegien ihrer westdeutschen Konkurrenten noch ein erhebliches Stück entfernt. Auf der Seite der relativen Verlierer finden sich – neben den Risikogruppen am gesellschaftlichen Rand (Langzeitarbeitslose, Teile der Alleinerziehenden und der Kinderreichen) – Arbeiter sowie Un- und Angelernte. Auch viele der neuen kleinen Selbstständigen müssen sich mit unterdurchschnittlichen Einkommen begnügen. Ein Fünftel aller Selbstständigen lebte laut Datenreport 2013 in den Jahren 2009 bis 2011 in Armut; ihre Armutsquote ist erheblich höher als unter Facharbeitern (7 Prozent) und einfachen Angestellten (12 Prozent).

Aus gesamtgesellschaftlicher Sicht hat die Wohlstandsungleichheit in den neuen Bundesländern seit der Vereinigung langsam, aber stetig zugenommen; sie ist jedoch noch deutlich vom westdeutschen Ungleichheitsniveau entfernt.
Die Tabelle auf S. 19 macht die "nachholende Spreizung" im Nettoäquivalenzeinkommen deutlich: 1992 stand dem oberen Fünftel das 2,8-Fache des unteren Fünftels zur Verfügung, 2012 war der Abstand auf das 3,9-Fache angestiegen und lag damit in etwa auf dem Westniveau in den 1990er-Jahren, aber noch deutlich unter dem Westniveau von 2012, das sich inzwischen auf das 4,4-Fache erhöht hat. Die nachholende Spreizung und fortbestehende ausgewogenere Verteilung des Wohlstands spiegelt sich auch in der Entwicklung des Gini-Koeffizienten wider. Er steigt in den neuen Ländern von 0.208 im Jahr 1991 auf 0.265 im Jahr 2012, hat sich aber in diesem Zeitraum den sich polarisierenden Verhältnissen im früheren Bundesgebiet nur wenig angenähert: 1991 lag er bei 84 Prozent des Westniveaus und 2012 bei 89 Prozent.

Die neuen Vermögen der Ostdeutschen hinken zwar vom Umfang her noch weit hinter den westdeutschen her, sind aber ähnlich ungleich, zum Teil sogar noch ungleicher verteilt als in Westdeutschland. Besonders benachteiligt sind die älteren Rentnerinnen und Rentner. Sie haben einen großen Teil oder auch ihr gesamtes Erwerbsleben in der DDR verbracht und konnten daher von der Einkommensexplosion nach der Vereinigung nur wenig oder gar nicht profitieren. Auch der Anteil von überschuldeten Personen, deren Verbindlichkeiten höher sind als ihre Vermögen, ist in Ostdeutschland größer als in Westdeutschland.

Die Konturen der sozialen Ungleichheit treten auch deshalb schärfer hervor, weil die nivellierenden Rahmenbedingungen des sozialistischen Alltags verschwunden sind. Unterschiede bei den zur Verfügung stehenden Finanzen ermöglichen stärker als zuvor eine verschiedenartige Lebensgestaltung, unterschiedliche Konsum- und Freizeitchancen. Die nach unten nivellierte "Gesellschaft der kleinen Leute" hat sich nach und nach in eine Mittelschichtengesellschaft mit stärkeren sozialen Abstufungen auf gehobenem Wohlstandsniveau verwandelt.

Die Privatisierung und Reprivatisierung (Rückübertragung an Alteigentümer) des ostdeutschen Produktivvermögens hatte eine radikale Veränderung der Besitzverhältnisse zur Folge. Beim Verkauf von gut 12.000 ehemaligen "volkseigenen" Unternehmen durch die Treuhandanstalt hatten betriebswirtschaftliche Gesichtspunkte absolute Priorität. Da es den Ostdeutschen weitgehend an Kapital und marktwirtschaftlich-unternehmerischem Know-how mangelte, kamen die neuen Eigentümer überwiegend aus Westdeutschland, ein Teil auch aus dem Ausland.

Wenn ostdeutsche Privatpersonen als Käufer auftraten, dann geschah dies im Wesentlichen im Rahmen des sogenannten Management-Buy-out, das heißt, Unternehmen wurden von leitenden Mitarbeitern oder Teilen der Belegschaft übernommen. Etwa ein Drittel der privatisierten bzw. reprivatisierten Betriebe haben diese Form; meist handelt es sich dabei um kleine mittelständische Dienstleistungsunternehmen. Am Gesamtwert der von der Treuhandanstalt abgeschlossenen circa 35.000 Kaufverträge sind sie mit nur etwa 3 Prozent beteiligt. Rund 84 Prozent der Gesamtkaufsumme brachten westdeutsche Eigentümer und circa 8 Prozent ausländische Unternehmer auf; etwa 5 Prozent entfielen auf ostdeutsche Gebietskörperschaften, vor allem auf die Länder. Experten wie der Sozialökonom Richard Hauser (1996) vermuten, dass die Privatisierungsaktion "eher zu einer Konzentration des Produktivvermögens als zu einer breiteren Streuung geführt" hat.

Ein Gegengewicht gegen den "Ausverkauf" des ostdeutschen Produktivvermögens an Westeigentümer bildeten der Gründerboom und die Vielzahl von Betriebsneugründungen durch Ostdeutsche in den 1990er-Jahren. 2010 haben immerhin 72 Prozent der Betriebe in den neuen Ländern ostdeutsche Eigentümer und weitere 5 Prozent sind im Besitz der öffentlichen Hand. Da die Ostdeutschen in der Regel die Inhaber von kleineren Betrieben sind, beschäftigen sie nur 44 Prozent der Arbeitnehmer, weitere 19 Prozent arbeiten in den öffentlichen Unternehmen (Wahse u. a. 2011).

Prof. em. Dr. Rainer Geißler ist Soziologe an der Fakultät I – Seminar für Sozialwissenschaften der Universität Siegen. Seine Schwerpunkte in Forschung und Lehre sind Sozialstrukturanalyse und soziale Ungleichheit; Bildungssoziologie und Sozialisationsforschung; Migration und Integration; die Gesellschaft Kanadas; Soziologie der Massenkommunikation sowie Soziologie des abweichenden Verhaltens.
Seine Anschrift lautet: Universität Siegen / Fakultät I / Adolf-Reichwein-Straße 2 / 57068 Siegen / E-Mail: E-Mail Link: geissler@soziologie.uni-siegen.de