Zwei Klassen, viele Milieus oder verschränkte soziale Lagen? Seit dem 19. Jahrhundert versucht die Soziologie, die sich wandelnde Gesellschaft im Hinblick auf soziale Großgruppen zu analysieren.
Die Forschung über soziale Ungleichheit hat vielfach gezeigt, dass in Deutschland ein enger Zusammenhang besteht zwischen der sozialen Herkunft und dem Bildungserfolg einer Person (siehe Kapitel
QuellentextDie deutsche Mittelschicht
[…] Wer gehört in Deutschland zur Elite? Wie geht es der gesellschaftlichen Mitte? Wer ist von Armut und Ausgrenzung betroffen? Und wie gerecht sind Chancen und Einkünfte in unserer Gesellschaft verteilt? […] Der Mainzer Soziologe Prof. Stefan Hradil […]: „Da gibt es viele Versuche und viele Kritiken, beispielsweise wurde häufig ein Standard gewählt, dass 70 Prozent des mittleren Einkommens die untere Grenze der Mittelschicht ist und 150 Prozent die obere Grenze.“
In Euro bedeutet das: Wenn ein Single zwischen 1160 und 2460 Euro und eine Familie mit zwei Kindern zwischen 2400 und 5160 Euro monatlich netto verdienen, dann zählen sie zur Mittelschicht [Daten aus 2015 – Anm. d. Red]. Jedenfalls wenn sie, so ergänzen viele Wissenschaftler, einen Realschulabschluss und eine berufsqualifizierende Ausbildung vorweisen können.
„Aber das ist weitgehend willkürlich und umstritten. Und das spiegelt eigentlich die Tatsache wider, dass in unserer Gesellschaft keine exakt feststellbaren Grenzen mehr zwischen den Schichten existieren.“
Gehört ein Student mit 800 Euro monatlich etwa zur Unterschicht? Eine Familie mit einem Nettoeinkommen von 5500 Euro pro Monat zur Oberschicht? So wie auch der Vorstand eines Dax-Unternehmens, der im Jahr 2014 im Durchschnitt 5,3 Millionen kassierte? Und 135 Familien in Deutschland besitzen sogar ein Vermögen von mindestens einer Milliarde Euro. Gerade „oben“ herrscht also ein ausgeprägtes Gefälle. […]
Aufstieg durch Leistung war ja das große Versprechen der Nachkriegszeit. Allerdings sollte die Herkunft dabei keine Rolle spielen. Die Nachkriegsgesellschaft war aufstiegsorientiert und durchlässig, weshalb der Soziologe Helmut Schelsky sie Anfang der 50er Jahre als „nivellierte Mittelstandsgesellschaft“ beschrieb. In der Tat konnten damals die unteren und mittleren Einkommensbezieher ihren Anteil am Kuchen vergrößern, während der Anteil der Spitzeneinkommen sank. Klassenkampf war gestern, die Mitte sorgte für politische und wirtschaftliche Stabilität. Ähnliche Gedanken gab es übrigens schon in der Antike, schreibt der Politologe Herfried Münkler. Gegen Platons Idee einer Herrschaft der Besten – der Philosophen nämlich – sah Aristoteles in der Mitte die Garantie für eine stabile Gesellschaft. Denn sie könne die Extreme ausbalancieren. Heute ist es die Lebensführung der Mittelschicht, die als gesellschaftliches Leitbild gilt: „Weil es sich darauf beruft, dass man fleißig ist, dass man aktiv ist, dass man in die eigene Bildung investiert, dass einem nichts in den Schoß fällt, dass man fleißig dafür gearbeitet hat.“
Prof. Steffen Mau, Soziologe an der Humboldt-Universität Berlin über die Werte der Mittelschicht: „Das ist etwas, das ist in die gesamte Gesellschaft hinein diffundiert, das betrifft auch die Oberschichten. Selbst wenn man es nicht mehr müsste, steht man früh auf und geht arbeiten. Und für die Unterschichten trifft das ähnlich zu. Also wenn Sie sich nicht so verhalten, wie das normative Modell der mittelschichtlichen Lebensführung vorschreibt, dann sind Sie mit Vorbehalten konfrontiert, die Ihnen dann signalisieren sollen, Sie müssten sich doch so verhalten wie die Mittelschicht, um dann langfristig doch dazu gehören zu können.“
Seit den 80er Jahren vergrößern sich die Einkommensungleichheiten wieder. Die Wohlhabenden sind reicher und vermögender geworden, während die Einkommenszuwächse der Mitte moderat bis gering ausfielen. Andererseits, gibt Steffen Mau zu bedenken, hat sich zwischen 1984 und 2010 die Zahl der Menschen mit mittlerer und höherer Bildung verdoppelt. […]
Zur Mittelschicht zählen nach wie vor etwas mehr als 60 Prozent der Bevölkerung. Sie ist stabiler als gedacht und fühlt sich lange nicht so verunsichert, wie manche Krisendiagnosen vermuten lassen. Neu allerdings ist, so Stefan Hradil:
„Dass auch in der Mittelschicht anders als in den 60er, 70er Jahren die perfekte Sicherheit nicht mehr gewährleistet ist. Dort kann es Ihnen auch heute passieren, dass sie mit einer Ausbildung, die nicht mehr marktgängig ist, nach unten fallen. Es kann Ihnen aber auch passieren, dass sie mit einer anderen Ausbildung, im IT Bereich oder sonst wo in die Oberschicht aufsteigen. Also, der Wind ist rauer geworden. Die Chancen sind gewachsen, aber auch die Risiken sind gewachsen in der Mittelschicht. Und das war nicht typisch für die Mittelschicht der Nachkriegszeit.“
Rauer geworden ist der Wind aber auch für die „ganz unten“. Das sind die, die weniger als 70 Prozent des Durchschnittseinkommens verdienen. Ein Single zum Beispiel, der weniger als 900 Euro netto verdient, eine vierköpfige Familie, die, je nach Rechnung, zwischen 1.870 und 2.450 Euro zum Leben hat. Nicht viel Geld, zweifelsohne! Doch ob dies die richtige Methode ist, Armut zu messen, ist durchaus umstritten. Heißt das doch, wenn alle Deutschen morgen schlagartig das Doppelte verdienen würden, wäre die Armut in Deutschland immer noch genau so groß. Nicht umstritten allerdings ist, dass es immer weniger Menschen möglich ist, aus dieser relativen Armut aufzusteigen. […]
Nach einer Allensbach-Umfrage aus dem Jahr 2014 finden […] 59 Prozent der Deutschen, dass es in Deutschland nicht gerecht zugehe. Und nur 21 Prozent halten Vermögen und Verdienste für fair verteilt. […] Politische Pläne, mehr Gerechtigkeit durch Umverteilung qua Steuererhöhungen herzustellen, goutierten die Bürger allerdings nicht. […]
Solange der zu verteilende Kuchen weiter wächst, hält sich die Empörung über die ungleiche Verteilung der Kuchenstücke also offensichtlich in Grenzen. Denn mit dem Wachstum verbindet sich die Hoffnung, dass es für alle zumindest ein bisschen aufwärts geht. […]
Ingeborg Breuer, „Sozialwissenschaftler vermessen die Gesellschaft“, in: Deutschlandfunk vom 27. August 2015. Online: Externer Link: https://www.deutschlandfunk.de/oben-mitte-unten-sozialwissenschaftler-vermessen-die-100.html
Einkommensschichten nach verfügbarem monatlichem Einkommen
Nach einer Infografik von Sarah Unterhitzenberger, Quelle: Bertelsmann-Stiftung 2018, in: Süddeutsche Zeitung vom 12. November 2022 (© Nach einer Infografik von Sarah Unterhitzenberger, Quelle: Bertelsmann-Stiftung 2018, in: Süddeutsche Zeitung vom 12. November 2022)
Die Umfrageergebnisse zur Schichtstruktur und Einkommensverteilung zeigen eindrucksvoll die Vorstellungen und Bewertungen der sozialen Ungleichheit aus Sicht der Bevölkerung. Was lässt sich aber aus einer ungleichheitssoziologischen Perspektive darüber aussagen, welche gesamtgesellschaftlichen „Strukturen sozialer Ungleichheit“ und „sozialen Großgruppen“ in Deutschland heute vorherrschen?
Unter sozialen Großgruppen versteht die Soziologie Gruppen von Individuen, die über jeweils ähnliche Lebensbedingungen oder soziale Positionen verfügen und sich zugleich klar von anderen Großgruppen unterscheiden. Strukturelle Ähnlichkeiten und Unterschiede bilden häufig auch die Grundlage dafür, dass sich Formen der kollektiven Zugehörigkeit herausbilden. Diese können von der subjektiv empfundenen eigenen Schicht- oder Milieuzugehörigkeit bis hin zu manifester politischer Organisation und Interessenvertretung reichen.
Eine wissenschaftlich fundierte Antwort auf die Frage nach den vorherrschenden Strukturen sozialer Ungleichheit und ihres Wandels im Lauf der Jahrzehnte ist jedoch nicht einfach zu geben.
Tatsächlich hat die soziologische Ungleichheitsforschung seit ihren Anfängen im 19. und im Laufe des 20. Jahrhunderts verschiedene Modelle und Konzepte über die Struktur sozialer Ungleichheit entwickelt. Bei aller Unterschiedlichkeit kann zwischen fünf verschiedenen Konzepten unterschieden werden, die bis heute in der Ungleichheitsforschung eine wichtige Rolle spielen: Klasse, Stand (oder Status), Schicht, Milieu und soziale Lage. Das Ziel dieser Konzepte besteht jeweils darin, die Bevölkerung in relativ homogene Teilgruppen mit ähnlichen Handlungs- und Lebensbedingungen oder Lebenslagen zu gliedern, wobei in unterschiedlichem Ausmaß auch subjektive Orientierungen wie Interessen, Einstellungen und Mentalitäten einbezogen werden. Die genannten Modelle unterscheiden sich jedoch darin, welche Kriterien sie jeweils als zentral erachten und mit welchen theoretischen Werkzeugen sie das Gerüst sozialer Ungleichheit „bauen“. Teilweise unterscheiden sich die Modelle auch im Hinblick auf ihren Anspruch, ob sie „die Wirklichkeit“ primär beschreiben oder auch erklären wollen.
Soziale Klassen
Ein guter Ausgangspunkt für die Frage nach der Struktur sozialer Ungleichheit sind die Analysen des Kapitalismus des 19. Jahrhunderts von Karl Marx (1818–1883) und Friedrich Engels (1820–1895). Sie kamen zu dem Schluss, dass die ökonomischen Strukturen des Kapitalismus durch das Privateigentum an Produktionsmitteln gekennzeichnet sind und dieses zugleich die entscheidende Dimension sozialer Ungleichheit ist. Die Stellung eines Individuums im Produktionsprozess bestimmte für Karl Marx und Friedrich Engels dessen soziale Klassenzugehörigkeit. In der Ausbeutung der arbeitenden Klasse (des Proletariats) durch die Produktionsmittelbesitzer (die Bourgeoisie) sahen sie den zentralen Mechanismus, also die Ursache der sozialen Ungleichheit.
Der Kapitalismus war ihnen zufolge durch Entwicklungsgesetze geprägt, die zu einer zunehmenden Spaltung der Klassenstruktur in zwei antagonistische (gegensätzliche oder widerstreitende) soziale Klassen führen würden: die Kapitalisten als Besitzer der Produktionsmittel und die Arbeiterklasse als diejenigen, die ihre Arbeitskraft an Kapitalisten verkaufen müssen. Im „Manifest der Kommunistischen Partei“ von 1848 sagten sie voraus, dass alle anderen Klassen (wie kleine Selbständige, Handwerker und Bauern) zwischen den beiden antagonistischen Klassen verschwinden würden („Alles Ständische und Stehende verdampft“).
QuellentextManifest der Kommunistischen Partei
1. Bourgeois und Proletarier
Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen.
Freier und Sklave, Patrizier und Plebejer, Baron und Leibeigener, Zunftbürger und Gesell, kurz, Unterdrücker und Unterdrückte standen in stetem Gegensatz zueinander, führten einen ununterbrochenen, bald versteckten, bald offenen Kampf, einen Kampf, der jedesmal mit einer revolutionären Umgestaltung der ganzen Gesellschaft endete oder mit dem gemeinsamen Untergang der kämpfenden Klassen.
In den früheren Epochen der Geschichte finden wir fast überall eine vollständige Gliederung der Gesellschaft in verschiedene Stände, eine mannigfaltige Abstufung der gesellschaftlichen Stellungen. Im alten Rom haben wir Patrizier, Ritter, Plebejer, Sklaven; im Mittelalter Feudalherren, Vasallen, Zunftbürger, Gesellen, Leibeigene, und noch dazu in fast jeder dieser Klassen besondere Abstufungen.
Die aus dem Untergang der feudalen Gesellschaft hervorgegangene moderne bürgerliche Gesellschaft hat die Klassengegensätze nicht aufgehoben. Sie hat nur neue Klassen, neue Bedingungen der Unterdrückung, neue Gestaltungen des Kampfes an die Stelle der alten gesetzt.
Unsere Epoche, die Epoche der Bourgeoisie, zeichnet sich jedoch dadurch aus, daß sie die Klassengegensätze vereinfacht hat. Die ganze Gesellschaft spaltet sich mehr und mehr in zwei große feindliche Lager, in zwei große, einander direkt gegenüberstehende Klassen: Bourgeoisie und Proletariat. […]
Die Bourgeoisie hat in ihrer kaum hundertjährigen Klassenherrschaft massenhaftere und kolossalere Produktionskräfte geschaffen als alle vergangenen Generationen zusammen. Unterjochung der Naturkräfte, Maschinerie, Anwendung der Chemie auf Industrie und Ackerbau, Dampfschiffahrt, Eisenbahnen, elektrische Telegraphen, Urbarmachung ganzer Weltteile, Schiffbarmachung der Flüsse, ganze aus dem Boden hervorgestampfte Bevölkerungen – welches frühere Jahrhundert ahnte, daß solche Produktionskräfte im Schoß der gesellschaftlichen Arbeit schlummerten.
[…] Die bürgerlichen Produktions- und Verkehrsverhältnisse, die bürgerlichen Eigentumsverhältnisse, die moderne bürgerliche Gesellschaft, die so gewaltige Produktions- und Verkehrsmittel hervorgezaubert hat, gleicht dem Hexenmeister, der die unterirdischen Gewalten nicht mehr zu beherrschen vermag, die er heraufbeschwor. Seit Dezennien ist die Geschichte der Industrie und des Handels nur die Geschichte der Empörung der modernen Produktivkräfte gegen die modernen Produktionsverhältnisse, gegen die Eigentumsverhältnisse, welche die Lebensbedingungen der Bourgeoisie und ihrer Herrschaft sind. […]
Die Waffen, womit die Bourgeoisie den Feudalismus zu Boden geschlagen hat, richten sich jetzt gegen die Bourgeoisie selbst.
Aber die Bourgeoisie hat nicht nur die Waffen geschmiedet, die ihr den Tod bringen; sie hat auch die Männer gezeugt, die diese Waffen führen werden – die modernen Arbeiter, die Proletarier.
In demselben Maße, worin sich die Bourgeoisie, d.h. das Kapital, entwickelt, in demselben Maße entwickelt sich das Proletariat, die Klasse der modernen Arbeiter, die nur so lange leben, als sie Arbeit finden, und die nur so lange Arbeit finden, als ihre Arbeit das Kapital vermehrt. Diese Arbeiter, die sich stückweis verkaufen müssen, sind eine Ware wie jeder andere Handelsartikel und daher gleichmäßig allen Wechselfällen der Konkurrenz, allen Schwankungen des Marktes ausgesetzt.
Die Arbeit der Proletarier hat durch die Ausdehnung der Maschinerie und die Teilung der Arbeit allen selbständigen Charakter und damit allen Reiz für die Arbeiter verloren. Er wird ein bloßes Zubehör der Maschine, von dem nur der einfachste, eintönigste, am leichtesten erlernbare Handgriff verlangt wird. […]
Alle bisherigen Bewegungen waren Bewegungen von Minoritäten oder im Interesse von Minoritäten. Die proletarische Bewegung ist die selbständige Bewegung der ungeheuren Mehrzahl im Interesse der ungeheuren Mehrzahl. Das Proletariat, die unterste Schicht der jetzigen Gesellschaft, kann sich nicht erheben, nicht aufrichten, ohne daß der ganze Überbau der Schichten, die die offizielle Gesellschaft bilden, in die Luft gesprengt wird. […]
Alle bisherige Gesellschaft beruhte, wie wir gesehen haben, auf dem Gegensatz unterdrückender und unterdrückter Klassen. Um aber eine Klasse unterdrücken zu können, müssen ihr Bedingungen gesichert sein, innerhalb derer sie wenigstens ihre knechtische Existenz fristen kann. Der Leibeigene hat sich zum Mitglied der Kommune in der Leibeigenschaft herangearbeitet wie der Kleinbürger zum Bourgeois unter dem Joch des feudalistischen Absolutismus. Der moderne Arbeiter dagegen, statt sich mit dem Fortschritt der Industrie zu heben, sinkt immer tiefer unter die Bedingungen seiner eigenen Klasse herab. Der Arbeiter wird zum Pauper, und der Pauperismus entwickelt sich noch schneller als Bevölkerung und Reichtum. […]
Die wesentliche Bedingung für die Existenz und für die Herrschaft der Bourgeoisklasse ist die Anhäufung des Reichtums in den Händen von Privaten, die Bildung und Vermehrung des Kapitals; die Bedingung des Kapitals ist die Lohnarbeit. Die Lohnarbeit beruht ausschließlich auf der Konkurrenz der Arbeiter unter sich. Der Fortschritt der Industrie, dessen willenloser und widerstandsloser Träger die Bourgeoisie ist, setzt an die Stelle der Isolierung der Arbeiter durch die Konkurrenz ihre revolutionäre Vereinigung durch die Assoziation. Mit der Entwicklung der großen Industrie wird also unter den Füßen der Bourgeoisie die Grundlage selbst hinweggezogen, worauf sie produziert und die Produkte sich aneignet. Sie produziert vor allem ihren eigenen Totengräber. Ihr Untergang und der Sieg des Proletariats sind gleich unvermeidlich.
Karl Marx / Friedrich Engels, „Manifest der Kommunistischen Partei, Erstes Kapitel“, 1848, in: Marx-Engels-Werke, Bd. 4, Berlin 1974, S. 459-493
Der Klassenbegriff wurde später von anderen, auch nicht-marxistischen Autoren aufgegriffen und weiterentwickelt, aber die Kernidee blieb erhalten, nämlich dass in einer kapitalistischen Gesellschaft die Bedingungen des Arbeitsmarktes die Struktur sozialer Ungleichheit entscheidend prägen. Für unser heutiges Verständnis von Klassen ist insbesondere Max Weber (1864–1920) wichtig, der ebenfalls argumentierte, dass Klassenzugehörigkeit ökonomisch definiert ist, aber nicht nur durch den Besitz oder Nichtbesitz von Produktionsmitteln, sondern allgemeiner durch charakteristische Chancen der Marktverwertung von Gütern und Qualifikationen – von ihm „Leistungsqualifikation“ genannt – bestimmt wird.
Indem Weber die Klassenlage einer Person im Kern durch die „Marktlage“ charakterisiert sah, erweiterte er das Konzept der Klasse an einem entscheidenden Punkt, der für das Verständnis der Rolle von Marktverhältnissen für soziale Ungleichheit bis in die Gegenwart zentral ist. Denn die große Gruppe der abhängig Beschäftigten, die heute rund 90 Prozent der Erwerbsbevölkerung ausmacht, ist in sich stark differenziert (siehe Kapitel "
Verteilung der ESeC-Klassen, 2018 (in Spaltenprozent) (© Quelle: Mikrozensus, SUF (Scientific Use Files ist eine faktisch anonymisierte 70%-Substichprobe des Mikrozensus) 2018 (eigene Berechnungen))
Verteilung der ESeC-Klassen, 2018 (in Spaltenprozent) (© Quelle: Mikrozensus, SUF (Scientific Use Files ist eine faktisch anonymisierte 70%-Substichprobe des Mikrozensus) 2018 (eigene Berechnungen))
Moderne Klassenkonzepte in der Soziologie halten an der Annahme fest, dass in einer kapitalistisch oder marktwirtschaftlich verfassten Gesellschaft der Zugang zu Gütern, Ressourcen und allgemein zu Lebenschancen ganz wesentlich von der Position auf dem Arbeitsmarkt abhängt. Zu diesem Zweck haben sie die Unterscheidung verschiedener „Arbeitsmarktkategorien“ theoretisch verfeinert. Besonders häufig genutzt wird das in den 1970er-Jahren von den Soziologen Robert Erikson, John H. Goldthorpe und Lucienne Portocarero entwickelte sogenannte EGP-Klassenschema, das Beschäftigungsverhältnisse und darin insbesondere das „Dienstverhältnis“ vom „Lohnarbeitsverhältnis“ nach der Art der Regulierung differenziert.
Dieses Schema unterscheidet Klassen nicht primär nach Arbeitsinhalten oder Einkommen der Beschäftigten, sondern umfassender nach der Art der Vertragsbeziehungen. Die Arbeitsverträge zwischen Arbeitgeber:innen und -nehmer:innen können demnach die vereinbarten Leistungen mehr oder weniger engmaschig festlegen und der Kontrolle unterwerfen, den Beschäftigten in unterschiedlichem Maß Autonomie und Handlungsspielräume erlauben und ihnen mehr oder weniger langfristige berufliche Entwicklungs- und Aufstiegschancen (und Sozialversicherungsansprüche) bieten.
Verteilung der Oesch-Klassen (© Quelle: Mikrozensus, SUF 2018 (eigene Berechnungen))
Verteilung der Oesch-Klassen (© Quelle: Mikrozensus, SUF 2018 (eigene Berechnungen))
In jüngerer Zeit wurde vom Schweizer Soziologen Daniel Oesch ein weiteres Klassenmodell entwickelt, das die verschiedenen Klassen der abhängig Beschäftigten nach ihrer beruflichen Qualifikation und zusätzlich nach der Art der Arbeitslogik differenziert. Indem es unterschiedliche Typen von Dienstleistungstätigkeit unterscheidet, bildet es die Vielfalt der beruflichen Tätigkeiten in der postindustriellen Gesellschaft genauer ab als das bereits einige Jahrzehnte alte EGP-Schema. Analysen haben gezeigt, dass die auf solche Weise unterteilten Klassen typischerweise unterschiedliche politische Präferenzen und gesellschaftliche Orientierungen aufweisen.
Sozialer Status
Eine vorteilhafte und privilegierte Lage auf dem Arbeitsmarkt oder ein hohes Einkommen bedeuten häufig – aber nicht in jedem Einzelfall –, dass die Person auch über ein hohes gesellschaftliches Ansehen (Status oder Prestige) verfügt. Allerdings besitzen auch einige eher schlecht bezahlte oder unsichere Tätigkeiten ein relativ hohes soziales Prestige. Der „brotlose Künstler“ als geflügeltes Wort verweist darauf, dass eine Diskrepanz zwischen einer unsicheren Marktlage und einem hohen kulturellen Prestige bestehen kann. Diese Differenz hatte bereits Max Weber im Blick und daher neben der marktbasierten Klassenlage die „ständische Lage“ als eine eigenständige Basis sozialer Ungleichheit betrachtet. Status und Prestige können als die modernen Varianten des Standesbegriffs verstanden werden.
Wichtig ist, dass der soziale Status als ein eigenständiges Prinzip der Generierung sozialer Ungleichheit betrachtet werden kann: Anerkennung oder Ansehen kann anders als Einkommen nicht auf dem Arbeitsmarkt erworben werden, sondern sie werden einer Person von anderen Gesellschaftsmitgliedern zugeschrieben. Anerkennung und Ansehen sind oftmals das Ergebnis von Eigenschaften, Verhalten oder Aspekten der Lebensführung einer Person.
Dargestellt ist das Oesch-Klassenmodell für den deutschen Arbeitsmarkt im Jahr 2018. Im Unterschied zum ESeC-Klassen-Schema (siehe Tabelle oben), das nur zwischen einer oberen und unteren Dienstklasse unterscheidet, nimmt dieses Modell eine zusätzliche Differenzierung nach der Arbeitslogik vor. So werden auf allen hierarchischen Beschäftigungsstufen soziokulturelle und/oder interpersonale, technische, organisationsbezogene und selbstständige Tätigkeiten unterschieden.
Das gesellschaftliche Ansehen von Berufen (40 ausgewählte Berufe der Ebner/Rohrbach-Schmidt-Skala) (© Christian Ebner / Daniela Rohrbach-Schmidt, „Das gesellschaftliche Ansehen von Berufen. Konstruktion einer neuen beruflichen Ansehensskala und empirische Befunde für Deutschland“, in: Zeitschrift für Soziologie 50 (2021), S. 349–372)
Das gesellschaftliche Ansehen von Berufen (40 ausgewählte Berufe der Ebner/Rohrbach-Schmidt-Skala) (© Christian Ebner / Daniela Rohrbach-Schmidt, „Das gesellschaftliche Ansehen von Berufen. Konstruktion einer neuen beruflichen Ansehensskala und empirische Befunde für Deutschland“, in: Zeitschrift für Soziologie 50 (2021), S. 349–372)
Versuche, die Gesellschaftsmitglieder nach ihrem Status zu unterscheiden oder sogar eindeutig zu „ranken“, hat es in der empirischen Ungleichheitsforschung viele gegeben. Statusunterschiede können auf einer mehr oder weniger differenzierten Skala von ganz oben bis ganz unteren abgebildet werden – hier wird von einem „kontinuierlichen Merkmal“ gesprochen. Grundsätzlich kann sich der soziale Status einer Person aus ganz verschiedenen Quellen speisen. Weber nannte mit Blick auf die zeitgenössische Rolle des Adels noch das Abstammungsprestige, in der Gegenwartsgesellschaft besteht jedoch weitgehender Konsens darin, dass die zentrale Grundlage des sozialen Status einer Person deren Berufszugehörigkeit ist. Daher werden in den meisten Fällen Statusskalen auf der Basis einer Rangordnung von Berufen erstellt.
Da auch die oben besprochenen Klassen zumeist ähnliche Berufe zu Klassen zusammenfassen, mag es auf den ersten Blick so scheinen, dass Klasse und Status zwei sehr ähnliche Konzepte sind. Es muss aber betont werden, dass die beiden Konzepte Berufe jeweils nach unterschiedlichen Logiken gruppieren: Klassen unterscheiden sich wie beschrieben durch die jeweiligen Marktchancen und -lagen, Statusgruppen sind dagegen durch Unterschiede im Ansehen gekennzeichnet. Beide Aspekte hängen oft zusammen, sie müssen es aber nicht. So haben häufig Berufe, die ganz unterschiedlichen Klassen zuzuordnen sind, wie zum Beispiel Lehrkräfte am Gymnasium und Bäckermeister oder Hebammen und Elektroingenieur:innen, aus der Sicht der Bevölkerung ein jeweils relativ ähnliches Prestige.
In der Forschung spielen Berufsprestige-Skalen bis heute eine wichtige Rolle. Solche Skalen, die auf der subjektiven Bewertung des Ansehens verschiedener Berufe durch repräsentativ Befragte beruhen, wurden zuerst in den 1960er-Jahren entwickelt. Da sich in den vergangenen Jahrzehnten jedoch die Berufsstruktur und mit ihr potenziell auch das Ansehen von Berufen in der Bevölkerung stark verändert haben, haben die Soziologen Christian Ebner und Daniela Rohrbach-Schmidt 2021 eine neue Berufsprestige-Skala für Deutschland entwickelt. Das höchste Prestige genießen demnach heute Chefärzte, Ingenieure in Forschung und Entwicklung und Professorinnen, das geringste dagegen Telefonistinnen, Imbissverkäufer und Spielhallenaufseher.
Soziale Schichten
Die Bolte-Zwiebel: Statusaufbau und Schichtung der westdeutschen Bevölkerung, 1960er-Jahre (in Prozent) (© Darstellung basiert auf Karl Martin Bolte, Deutsche Gesellschaft im Wandel, Bd. 1, Opladen 1967, 361 S., hier: S. 316)
Die Bolte-Zwiebel: Statusaufbau und Schichtung der westdeutschen Bevölkerung, 1960er-Jahre (in Prozent) (© Darstellung basiert auf Karl Martin Bolte, Deutsche Gesellschaft im Wandel, Bd. 1, Opladen 1967, 361 S., hier: S. 316)
Der Schichtbegriff wird im allgemeinen Sprachgebrauch häufig „unbedacht“ als Synonym für soziale Ungleichheit schlechthin gebraucht – etwa wenn von der „bedrohten“ Mittelschicht die Rede ist oder wenn diagnostiziert wird, dass sich ein bestimmtes Problem „über alle Schichten hinweg“ erstrecke. In der Ungleichheitsforschung hatten Schichtungsmodelle vor allem in den ersten drei Nachkriegsjahrzehnten Konjunktur. Zumeist wurden Schichten anhand der Kriterien Beruf/Berufsprestige, Bildung und Einkommen bestimmt. Am bekanntesten geworden ist die von dem Soziologen Karl Martin Bolte (1925–2011) entwickelte „Bolte-Zwiebel“, die das Bild der westdeutschen Gesellschaft als von der unteren Mittelschicht dominiert auch in der Öffentlichkeit prägte.
Spätestens seit den 1980er-Jahren sind solche Schichtungsmodelle aus der Forschung jedoch weitgehend verschwunden. Heute wird der Begriff der Schichtung überwiegend nur noch im Zusammenhang mit Darstellungen der Einkommensverteilung verwendet. So wird etwa die Schichtzugehörigkeit am bedarfsgewichteten Pro-Kopf-Einkommen je Haushaltsmitglied (Nettoäquivalenzeinkommen) festgemacht (siehe
Subjektive Schichtzugehörigkeit in Deutschland, 1980-2018 (in Prozent) (© Datenreport 2021, S. 276; Datenbasis: ALLBUS 1980-2012 kumuliert; ALLBUS 2018)
Subjektive Schichtzugehörigkeit in Deutschland, 1980-2018 (in Prozent) (© Datenreport 2021, S. 276; Datenbasis: ALLBUS 1980-2012 kumuliert; ALLBUS 2018)
In Westdeutschland hat sich die subjektive Schichteinordnung seit den 1980er-Jahren kaum geändert, und das Selbstbild als Mittelschichtsgesellschaft ist weitgehend stabil geblieben. Dagegen haben im Osten die Anteile der Befragten, die sich der Mittelschicht zuordnen, deutlich zugenommen.
Soziale Milieus
Milieumodelle haben in gewisser Weise die Nachfolge der Konzepte der sozialen Schichtung angetreten. Sie versuchen anders als die älteren Schichtungsmodelle nicht nur vertikale Unterschiede zwischen oberen, mittleren und unteren Schichten, sondern darüber hinaus charakteristische soziale Differenzierungen in Einstellungen, Bewusstsein und Lebensstilen empirisch abzubilden. Ein Vorläufer dieser Modelle ist die 1932 veröffentlichte Studie „Die soziale Schichtung des deutschen Volkes“ des deutsch-dänischen Soziologen Theodor Geiger (1891–1952). Dieser stellte in Auseinandersetzung mit der Marxschen These der Polarisierung und Verelendung fest, dass sich in Deutschland in der Mitte der 1920er-Jahre zwar eine wachsende Mittelschicht herausbildete, diese aber keine homogene soziale Großgruppe darstellte. Stattdessen identifizierte er verschiedene Teilgruppen der Mittelschicht, die in Bezug auf ihr Sozialbewusstsein, ihre Mentalitäten und Lebensstile „völlig unvergleichbar“ waren.
Diese Grundidee, dass die Sozialstruktur nicht allein auf ökonomischen Verhältnissen beruht, wurde von neueren Milieumodellen wieder aufgegriffen. Die bekanntesten Milieumodelle stammen jedoch aus der kommerziellen Marktforschung: das Sinus-Modell und das ähnliche Sigma-Modell. Diese Modelle versuchen nachzuweisen, dass sich in Deutschland heute mehrere soziale Großgruppen herausgebildet haben, die sich klar in ihren Lebenswelten (entlang von Werten, Einstellungen und Orientierungen) unterscheiden.
Die Sinus-Milieus in Deutschland, 2021 (in Prozent) (© SINUS Markt- und Sozialforschung GmbH)
Die Sinus-Milieus in Deutschland, 2021 (in Prozent) (© SINUS Markt- und Sozialforschung GmbH)
In der Soziologie konnten sich solche Milieu-Modelle allerdings nicht als neue „Strukturmodelle“ sozialer Ungleichheit durchsetzen. Das Problem ist zum einen, dass sie in ihren Methoden und Daten nicht für andere Forschende offengelegt werden, und zum anderen, dass diese Milieus im Kern aus einer Marktforschungsperspektive optimierte Zielgruppen repräsentieren. Daraus folgt, dass Forschende die Sinus-Milieus nicht überprüfen und reproduzieren können. Das heißt also, dass die empirische Ungleichheitsforschung diese Milieus nicht sinnvoll für Fragestellungen und Untersuchungsmethoden, die sich zum Beispiel auf Zuweisungskriterien von Bildungs- und Arbeitsmarktchancen richten, nutzen kann. Der Vorteil von Milieu-Modellen ist jedoch, dass sie die Bevölkerung in Gruppen einteilen, denen neben einer sozialen Schichtungsposition auch kulturelle Wertorientierungen und Lebensstile zugeordnet werden können, die diese Gruppen damit lebensweltlich anschaulicher machen.
Soziale Lagen
Das Konzept sozialer Lagen versucht, die Bevölkerung im Hinblick auf ihre konkreten Lebensbedingungen in verschiedene Gruppen einzuteilen. Im Unterschied zu eindimensionalen Modellen der Einkommensschichtung berücksichtigen soziale Lagen neben dem Einkommen weitere Lebenslagen – wie die Erwerbssituation, die Haushalts- und Lebensform oder subjektive Indikatoren der Lebensqualität. Mit diesen „Lebenslagen“ sollen die „Handlungsspielräume“ der Menschen umfassender und genauer erfasst werden. Soziale Lagen sind also typische Bündelungen wichtiger Lebenslagen – wobei in der Forschung unterschiedliche Varianten sozialer Lagenkonzepte entwickelt wurden.
Ein aktuelles Konzept sozialer Lagen berücksichtigt neben dem Einkommen drei weitere Lebenslagen: die Vermögenssituation, die Wohnungssituation und die Erwerbssituation (siehe Grafik "Interner Link: Entwicklung sozialer Lagen in Deutschland, 1984-2020"). Eine Besonderheit des Konzepts ist, dass Personen nicht nur auf Basis ihrer aktuellen Einkommens- und Lebenslagen, sondern auf Grundlage der Einkommen und Lebenslagen in einem Zeitraum von fünf Jahren in soziale Lagen eingeteilt werden. Es werden insgesamt acht soziale Lagen unterschieden. Sechs soziale Lagen beschreiben dauerhafte Wohlstandsniveaus, die sich vertikal abgrenzen lassen:
QuellentextOben und unten bleiben oben und unten
[…] Dass ein [sozialer Aufstieg] unwahrscheinlich ist, ist hinreichend beklagt, die Zahlen sind bekannt, man kann sie zum Beispiel nachlesen in einer Studie des Stifterverbands. Von 100 Kindern, deren Eltern nicht studiert haben, wechseln nach der Grundschule nur 46 aufs Gymnasium oder eine ähnliche zum Abitur führende Schule. Von diesen 46 wiederum beginnen nur 27 ein Studium. 20 schaffen den Bachelor-, 11 den Masterabschluss. Und gerade einmal 2 Kindern gelingt am Ende die Promotion.
Von 100 Kindern aus Akademikerfamilien gehen 83 aufs Gymnasium oder eine vergleichbare Schule, und fast alle von ihnen wechseln im Anschluss an eine Hochschule. Die große Mehrheit tut, was die Eltern taten: studieren. Nur 21 von 100 Akademikerkindern tun das nicht. […]
Unter Soziologinnen und Soziologen wird seit einiger Zeit diskutiert, ob Akademiker und Nichtakademiker einander zunehmend fremd gegenüberstehen. Die Romanistin, die sich freiberuflich als Literaturübersetzerin durchschlägt, lebt zwar mit ähnlich prekärem Kontostand wie die Reinigungskraft. Trotzdem kämen beide nicht auf die Idee, zur selben Klasse zu gehören. Die Mittelschicht von früher gerät kulturell in die Defensive. Die Steuergehilfen, Facharbeiter und Autohändler merken, dass das Geld für sie vielleicht noch reicht, aber ihre mittlere Reife den Wert verloren hat.
Seit immer mehr Menschen höhere Bildungsabschlüsse anstreben, hat sich eine neue akademische Mittelklasse herausgebildet, die nun tonangebend wird. Sie prägt die Debatten, lebt in der Großstadt, ist in der Welt zuhause, verwirklicht sich im Beruf und wählt bewusst einen Lebensstil, der Einzigartigkeit verheißen und bloß nicht gewöhnlich sein soll. Man glaubt, den eigenen gehobenen sozialen Status durch Klausuren, Zeugnisse und Abschlussarbeiten verdient zu haben.
Der Aufgestiegene selbst ist dabei das beste Beispiel, dass man es durch Anstrengung und Fleiß schaffen kann, und gut möglich, dass manch ein Aufgestiegener sogar noch ein bisschen mehr an Leistung und Eigeninitiative glaubt, gerade weil ihn trotz allem Erfolg das Gefühl nie loslässt, sich immerzu beweisen zu müssen. […]
In den vergangenen Jahren haben sich Initiativen gebildet, die Arbeiterkindern an den Unis Mut machen wollen, Stiftungen investieren ihr Geld in die Bildungsförderung benachteiligter Gruppen, und autobiografisch geprägte Erzählungen haben die Buchläden geflutet, die vom Aufstieg aus einfachen Verhältnissen berichten.
Nur 27 von 100 Nichtakademikerkindern schaffen es an die Hochschulen, aber weil es immer noch so viel Nichtakademikereltern gibt, sind die Aufsteiger längst zu einer stimmgewaltigen Gruppe geworden. Der Weg durch die Bildungsinstitutionen hat sie mit den Mitteln und Begriffen ausgestattet, ihre Geschichte zu erzählen. Sie erzählen dann Heldenreisen mit Hürden, in denen die Herkunft trotz allem am Ende kein Schicksal bleibt. Für jede und jeden Einzelnen sind das wunderbare Erfolge, für die Gesellschaft sind all die Aufsteigergeschichte wie gemacht dafür, sie mit der in ihr klaffenden Ungleichheit zu versöhnen, ohne dass die unangenehme Tatsache dafür eigens angesprochen werden müsste.
Manchmal fällt zwar ein Schatten auf die Heldenerzählungen, sie handeln dann vom Schmerz, ein altes Umfeld verloren zu haben und sich im neuen nicht so richtig zugehörig zu fühlen. Und trotzdem hinterfragen die Geschichten selten ihre Voraussetzungen: dass schon im Begriff des Aufstiegs immer die Abwertung mitschwingt für das, was zurückgelassen wird. Dass man für das, was nicht Aufstieg ist, ein Wort in den Mund nehmen müsste, das eigentlich zu brutal ist, um es Leuten an den Kopf zu werfen. Dass es ein Geltungsgefälle gibt, das sich nicht einfach mit gutem Willen und beiderseitigem Wohlwollen auflösen lässt.
Oben und unten bleiben oben und unten, auch wenn man versucht, verständnisvoller aufeinander zu blicken. […]
Bernd Kramer, „Klassenfahrt“, in: taz vom 19./20. Februar 2022
Ganz unten befindet sich die Lage der „verfestigten multiplen Armut“. Personen in dieser Lage leben dauerhaft unterhalb der Niedrigeinkommensschwelle (weniger als 60% des Median-Einkommens) und sind zudem in mindestens zwei der drei weiteren Lebenslagen deutlich unterversorgt (keinerlei Vermögen, zu kleine Wohnungen, Arbeitslosigkeit oder bestenfalls prekäre Niedriglohnbeschäftigung).
Ganz oben befindet sich, spiegelbildlich, die Lage der „Wohlhabenheit“, in der Personen dauerhaft über sehr hohe Einkommen verfügen (mehr als das Doppelte des Durchschnittseinkommens) und in den drei weiteren Lebenslagen deutlich privilegiert sind (hohe Vermögen, große Wohnungen, stabile Erwerbsintegration oder Rente).
In der breiten „Mitte“ (aus der nochmal eine „untere Mitte“ gesondert ausgewiesen wird) sind Personen in mittleren Einkommens- und Lebenslagen versammelt, und jeweils eine soziale Lage ist zwischen Armut und Mitte (Lage der „Prekarität“) oder zwischen Mitte und Wohlhabenheit (Lage des „Wohlstands“) verortet.
Hinzu kommen zwei „Zwischenlagen“ – die Lagen „Armut-Mitte“ und „Mitte-Wohlhabenheit“ –, in die Personen eingruppiert wurden, die im jeweiligen Fünfjahreszeitraum starke Veränderungen ihrer Einkommens- und Lebenslagen erfahren haben oder bei denen Einkommens- und weitere Lebenslagen weit auseinanderweisen (z. B. Personen mit eher geringem Einkommen, aber großen Vermögen und Wohnungen).
Entwicklung sozialer Lagen in Deutschland, 1984-2020 (in Prozent) (© Olaf Groh-Samberg et.al., Dokumentation zur Generierung Multidimensionaler Lagen auf Basis des Sozio-oekonomischen Panels, Bremen, 15. Februar 2021; https:// www.socium.uni-bremen.de/uploads/Dokumentation_Multidimensionale_Lagen.pdf; eigene Aktualisierung)
Entwicklung sozialer Lagen in Deutschland, 1984-2020 (in Prozent) (© Olaf Groh-Samberg et.al., Dokumentation zur Generierung Multidimensionaler Lagen auf Basis des Sozio-oekonomischen Panels, Bremen, 15. Februar 2021; https:// www.socium.uni-bremen.de/uploads/Dokumentation_Multidimensionale_Lagen.pdf; eigene Aktualisierung)
Während die Lagen der gesellschaftlichen „Mitte“ einschließlich der „unteren Mitte“ im Zeitverlauf kontinuierlich geschrumpft sind, finden sich immer mehr Menschen in den Lagen der verfestigten Armut einerseits und der Wohlhabenheit andererseits. Der Anteil der Bevölkerung, der sich in den übrigen sozialen Lagen befindet, ist dagegen weitgehend stabil geblieben. Insgesamt verweist die Grafik „Entwicklung sozialer Lagen in Deutschland“ damit auf eine Polarisierung der sozialen Lagen in Deutschland im Verlauf der vergangenen Jahrzehnte. Weitergehende Analysen zeigen, dass diese Entwicklung vor allem durch eine über die Zeit abnehmende Aufstiegsmobilität getrieben wird: Immer weniger Menschen in Deutschland gelingt es, aus den unteren sozialen Lagen der Armut oder der Prekarität in die Mitte oder gar in höhere Lagen aufzusteigen.
Ausblick: die Strukturen sozialer Ungleichheit
„Die“ eine Struktur sozialer Ungleichheit gibt es nicht. Strukturkonzepte sozialer Ungleichheit sind vielmehr Modelle, welche auf bestimmte Aspekte und Dimensionen von Lebenschancen fokussieren und notwendigerweise auf – jeweils spezifischen – theoretischen Annahmen beruhen. Diese in ihrer Verschiedenheit zu verstehen ist für jede Antwort auf die Frage nach der Ungleichheitsstruktur, die die deutsche Gegenwartsgesellschaft prägt, von elementarer Wichtigkeit. Eine bedeutsame Einsicht sollte in diesem Zusammenhang sein, dass soziale Großgruppen wie Klassen, Schichten, Lagen und Milieus nicht unvermittelt als Abbildung von Realität begriffen werden dürfen. Es handelt sich vielmehr immer um Konstrukte.
Die hier skizzierten Modelle wurden und werden in unterschiedlichen Gebieten wie der Bildungs- und Arbeitsmarktforschung und politischen Soziologie angewendet. Sie haben sich vielfach als fruchtbare Instrumente der empirischen Analyse sozialer Zusammenhänge erweisen, wenn es etwa um die Analyse der Bedeutung der sozialen Position für das Wahlverhalten oder der sozialen Herkunft für Bildungschancen geht (siehe Kapitel "
Dennoch ist es wichtig zu betonen, dass die wenige „Großgruppen“ aggregierenden [anhäufenden – Anm. d. Red.] Strukturmodelle sozialer Ungleichheit analytische Grenzen aufweisen. Ein wesentliches Problem ist ihre Statik, denn sie berücksichtigen zumeist nicht den zentralen Aspekt der Mobilität im Lebenslauf (die Frage, wie dauerhaft die Zugehörigkeit einer Person zu einer Berufsklasse oder einem sozialen Milieu ausfällt).
Auch abstrahieren sie von der Tatsache, dass sich in Großgruppen zu einem bestimmten Beobachtungszeitpunkt immer ganz unterschiedliche Geburtsjahrgänge („Kohorten“) und Altersgruppen versammeln. Ein großer Teil der Forschung interessiert sich daher heute weniger für synthetische Strukturmodelle sozialer Ungleichheit als für die vielfältigen und komplexen Beziehungen, die zwischen unterschiedlichen Dimensionen sozialer Ungleichheit bestehen. Gefragt wird etwa nach den sozialen Chancen und Erfahrungen unterschiedlicher Geburtskohorten sowie den vielfältigen internen Differenzierungen, die die Mitglieder einer Kohorte betreffen. Der Nachteil analytisch immer weiter verfeinerter Herangehensweisen in der Forschung ist wiederum, dass durch diese der „Blick für das Ganze“, also das Gesamtgefüge sozialer Ungleichheit, verloren zu gehen droht.
In diese Lücke stoßen wiederum oftmals soziologische Zeitdiagnosen, die die Struktur und Entwicklung sozialer Ungleichheit auf den Punkt zu bringen scheinen und mit ihren jeweiligen Diagnosen und Bildern in der Öffentlichkeit häufig auf große Resonanz stoßen. Im Lauf der Jahre sind zahlreiche „Angebote“ dieser Art vorgelegt worden. Sie reichen von der Auflösung sozialer Klassen („Individualisierung“), über die Erosion der Mittelschicht und deren kollektiven sozialen Abstieg („Abstiegsgesellschaft“) bis zu neuen Formen sozialer Polarisierung in einer „Drei-Klassen-Gesellschaft“ (wie zuletzt vom Soziologen Andreas Reckwitz formuliert). Solche vielfältigen und oftmals widersprüchlichen Diagnosen geben allerdings keine empirisch abgesicherte Antwort auf die Frage, „in welcher Gesellschaft wir eigentlich leben“. Sie können der Ungleichheitsforschung aber im Idealfall Anstöße geben oder neue Forschungshypothesen anregen.