Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Zuweisungskriterien zu gesellschaftlichen Positionen | Soziale Ungleichheit | bpb.de

Soziale Ungleichheit Editorial Was ist soziale Ungleichheit? Konzeptionelle Perspektiven Zuweisungskriterien zu gesellschaftlichen Positionen Soziale Herkunft und Bildung Erwerbsarbeit, Berufe und soziale Ungleichheit Einkommens- und Vermögensungleichheit Struktur sozialer Ungleichheit Folgen sozialer Ungleichheit Internationale Trends der sozialen Ungleichheit Literatur und Online-Angebote Impressum
Informationen zur politischen Bildung Nr. 354/2023

Zuweisungskriterien zu gesellschaftlichen Positionen

Reinhard Pollak Corinna Kleinert Kathrin Leuze

/ 14 Minuten zu lesen

Schon mit der Geburt werden Menschen bestimmte Merkmale zugeschrieben, etwa was Geschlecht, Klasse und Ethnie angeht. Diese Merkmale beeinflussen ihre Lebenschancen in hohem und komplexem Maße.

Jede Gesellschaft wird durch ihre Sozialstruktur geordnet. In Industrienationen wie Deutschland geschieht dies durch berufliche Positionen, die mit unterschiedlichen Lohnstufen und unterschiedlichem Ansehen einhergehen. Blick auf die Dresdener Augustusbrücke im September 2022 (© picture-alliance/dpa, Robert Michael )

Jede Gesellschaft, egal zu welcher Epoche und in welchen Regionen, wird durch ihre Sozialstruktur „geordnet“. Im alten Ägypten zum Beispiel beruhte die Ordnung der Gesellschaft auf religiösen Ämtern und Ämtern im Staatswesen, im Mittelalter prägte das Lehnswesen die gesellschaftliche Ordnung. In der heutigen Zeit ist die Sozialstruktur in Deutschland und den meisten industrialisierten Ländern durch berufliche Positionen bestimmt (siehe Kapitel "Interner Link: Erwerbsarbeit, Berufe und soziale Ungleichheit"). Diese beruflichen Positionen spiegeln einerseits die Arbeitsteilung in einer Gesellschaft wider: Es gibt etwa berufliche Positionen für Krankenpfleger:innen, Richter:innen, Beschäftigte bei der Müllabfuhr, Manager:innen in großen Unternehmen oder Zuarbeiter:innen am Fließband. Andererseits haben diese beruflichen Positionen ein jeweils unterschiedliches Ansehen, die Positionen sind unterschiedlich attraktiv und sie werden unterschiedlich entlohnt. Ärzt:innen werden besser bezahlt als Krankenpfleger:innen, Richter:innen erhalten einen höheren Lohn als Zuarbeiter:innen am Fließband.

Zur Attraktivität einer beruflichen Position gehören neben dem Einkommen auch andere wichtige Aspekte wie die Arbeitsbedingungen im Betrieb, die Arbeitszeiten, die Arbeitsplatzsicherheit oder die Möglichkeit zur Weiterbildung. Solche Positionen „gibt“ es in der Gesellschaft unabhängig davon, welche Person die Position gerade besetzt. Beispielsweise wollte Angela Merkel 2021 nicht mehr als Bundeskanzlerin antreten. Die Position des Bundeskanzlers gibt es aber weiterhin und sie wurde nach der Bundestagswahl 2021 von Olaf Scholz besetzt. Wie kommen Menschen aber in bestimmte Ämter oder berufliche Positionen, sei es Bundeskanzler, Ärztin, Kranfahrer oder Krankenschwester? Und wer kommt in welche Positionen?

Vereinfacht dargestellt gibt es zwei Hauptgründe, wie Personen in bestimmte berufliche Positionen gelangen: durch Leistung (englisch: achievement) oder durch Zuschreibung (englisch: ascription). Zählt die Leistung, wird diejenige Person für eine Position ausgesucht, die beispielsweise in einem Studium oder in einer Ausbildung die besten Noten erreicht hat. Zählt die Zuschreibung, wird die Position aufgrund einer Eigenschaft vergeben, die die Person selbst nicht (oder kaum) beeinflussen kann, der aber bestimmte Merkmale gesellschaftlich zugeschrieben werden. Zum Beispiel wurde nach dem Tod von Queen Elizabeth II. ihr Sohn Charles III. König des Vereinigten Königreichs, weil er durch Geburt der Thronfolger ist. Es wird nicht der bestmögliche Thronfolger im Rahmen eines Wettbewerbs gesucht, sondern derjenige, der als Thronfolger geboren wurde.

In früheren Jahrhunderten war das Kriterium der Zuschreibung von größerer Bedeutung, etwa im Römischen Reich oder im Feudalsystem des Mittelalters. In heutigen Gesellschaften – so zumindest deren Anspruch – hat das Leistungsprinzip das Zuschreibungsprinzip abgelöst. Dennoch haben zugeschriebene Kriterien wie Geschlecht, soziale Herkunft oder ethnische Herkunft weiterhin einen wichtigen Einfluss, wie die Befunde der Ungleichheitsforschung immer wieder eindeutig zeigen.

  • Erstens können diese Kriterien bei gleicher oder ähnlicher Leistung als Auswahlkriterium herangezogen werden, etwa wenn Männer eher einen hochbezahlten Job bekommen als Frauen.

  • Zweitens können die Kriterien wesentlich die „Leistung“ beeinflussen, etwa wenn Kinder aus vorteilhaften sozialen Herkunftsklassen im Durchschnitt viel bessere Schulabschlüsse erreichen als Kinder aus benachteiligten sozialen Herkunftsklassen (siehe Kapitel "Interner Link: Soziale Herkunft und Bildung").

  • Drittens können zugeschriebene Merkmale anstelle von Leistung herangezogen werden. Da dies oft auch direkt diskriminierend ist, wird gegen solche Zuschreibungen häufig erfolgreich vor Gericht geklagt. Beispiele sind Altersgrenzen oder Vorgaben für Körpermaße.

Dass Zuschreibungen auch heute noch bedeutsam sind, mag nach Aussage des Anthropologen Ralph Linton (1893–1953), der diesen Begriff geprägt hat, daran liegen, dass das Zuschreibungsprinzip ein effizientes und kostengünstiges Mittel ist, um das Hereinwachsen von Menschen in bestimmte Positionen zu erleichtern, die es in einer hochgradig arbeitsteilig organisierten Gesellschaft gibt. Außerdem ist das Zuschreibungsprinzip für soziale Gruppen nützlich, die ihre Macht oder Privilegien erhalten wollen.

Zugeschriebene Kriterien

Bereits mit der Geburt werden Kindern bestimmte Merkmale zugeschrieben. Sie werden einem Geschlecht zugeordnet, sind Teil eines Geburtsjahrgangs und werden in den kommenden Jahren stark geprägt durch die gesellschaftliche Position ihrer Eltern. So haben die soziale Herkunft, die Staatsbürgerschaft, ein Migrationshintergrund, die Religionszugehörigkeit oder der Ort, an dem die Eltern leben, einen Einfluss auf diese Merkmalszuschreibung. Kinder bekommen so bereits ab ihrer Geburt einen bestimmten Platz in der gesellschaftlichen Ordnung. In Deutschland und den meisten industrialisierten Ländern sind die mit Abstand wichtigsten Zuschreibungskriterien (1) die soziale Herkunft, (2) die ethnische Herkunft und (3) das Geschlecht. Zwar gibt es noch weitere Kriterien, die Ungleichheitsforschung zeigt aber immer wieder, dass diese drei Merkmale eine herausgehobene Bedeutung für die Lebenschancen der Menschen haben.

Zugeschriebene Merkmale können von der Person selbst nicht oder nur bedingt beeinflusst werden, insbesondere nicht in der Kindheit. Natürlich ist es für Jugendliche oder Erwachsene möglich, selbst Migrant:in zu werden oder eine andere Religion zu wählen, beruflich aufzusteigen und viel mehr Einkommen zu haben als die Eltern. Die eigene soziale oder ethnische Herkunft oder das zugeschriebene Geschlecht vollständig abzulegen, wird aber kaum gelingen. Andere Menschen erkennen immer noch, dass eine Person beispielsweise bestimmte umgangssprachliche Wörter benutzt, dass sie einen bestimmten Körperbau oder eine weiblich bzw. männlich gelesene Stimme hat, dass sie eine fremd wirkende Hautfarbe hat oder dass ihr Name auf ein bestimmtes Herkunftsland hindeutet.

(© picture-alliance, dpa-infografik | dpa-infografik; Quelle: BpB, Encyclopaedia Britannica)

In wenigen Ländern sind Zuschreibungskriterien qua Geburt wie das Geschlecht oder die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Kaste gleichbedeutend mit einer Vorbestimmung für das zukünftige Leben. In unserer Gesellschaft ist dies glücklicherweise nicht der Fall. Alle Menschen können durch individuelle Leistung versuchen, ihren Wunschberuf und damit eine bestimmte gesellschaftliche Position zu erreichen. Aber auch bei uns gibt es große Ungleichheiten bei den Startchancen ins Leben, und diese ungleichen Startchancen haben einen großen Einfluss auf den weiteren Lebensweg. Menschen mit nicht-deutscher Staatsangehörigkeit haben ein dreimal höheres Risiko für Arbeitslosigkeit als Menschen mit deutscher Staatsangehörigkeit. Von 100 Akademikerkindern beginnen 79 Söhne und Töchter ein Hochschulstudium, von 100 Nicht-Akademikerkindern sind es dagegen nur 27 Söhne und Töchter. Der (Brutto-)Stundenlohn von Männern lag 2022 bei gut 24 Euro, der Stundenlohn von Frauen bei gut 20 Euro und damit um ein knappes Fünftel niedriger als bei Männern. Diese Beispiele verdeutlichen, wie wirkmächtig diese drei Zuweisungskriterien auch in unserer Gesellschaft nach wie vor sind. Doch was genau ist unter den drei Begriffen zu verstehen? Warum sind sie teilweise umstritten? Wie wirken sie und warum sind genau sie so bedeutsam?

Soziale Herkunft und Herkunftsklasse

Mit der sozialen Herkunft einer Person werden die sozialen und ökonomischen Lebensumstände beschrieben, in denen ein Kind groß wird. Eine Gruppierung von Menschen, die eine bestimmte Position im Wirtschaftssystem einer Gesellschaft einnehmen, beispielsweise Facharbeiter:innen, Selbstständige, Manager:innen, und die in der Regel ähnliche sozio-ökonomische Ressourcen wie Bildung, Einkommen oder Macht haben, können als soziale Klasse beschrieben werden (siehe Interner Link: Abschnitt „Soziale Klassen“ im Kapitel „Struktur sozialer Ungleichheit“). Mit der Zugehörigkeit zu einer Klasse gehen daher auch ähnliche Lebenschancen einher.

Das Aufwachsen in einer bestimmten Klassenlage ist geprägt von den finanziellen Möglichkeiten, dem Ansehen, den sozialen Kontakten und den kulturellen Vorlieben, die typisch für eben jene bestimmte Klasse sind. Entsprechend entwickeln Kinder aus unterschiedlichen Klassenlagen typischerweise unterschiedliche Berufswünsche und Vorstellungen über ihr künftiges Leben, die häufig von den Menschen geprägt sind, die sie in ihrer Kindheit und Jugend begleitet haben. Die Heranwachsenden haben aufgrund ihrer unterschiedlichen Ausstattung mit Ressourcen auch unterschiedliche Möglichkeiten, diese Wünsche und Vorstellungen später zu verwirklichen. Und die privilegierten Klassen verstehen es, bisherige Vorteile (etwa beim Einkommen) für sich und ihre Nachkommen langfristig zu sichern.

In der Forschung wird immer wieder hinterfragt, ob die Idee von unterschiedlichen Klassen in modernen Gesellschaften noch zutreffend und zeitgemäß ist oder ob nicht Einkommensgruppen oder Milieus die Lage einer Herkunftsfamilie besser beschreiben (siehe Kapitel „Interner Link: Struktur sozialer Ungleichheit“). Oft können die Forschenden aber zeigen, dass die Klassenzugehörigkeit eine höhere Vorhersagekraft etwa für den Bildungserfolg hat als das Einkommen oder die Milieuzugehörigkeit.

Ethnische Herkunft

Ethnische Ungleichheiten sind in vielen Gesellschaften oft eng verwoben mit sozio-ökonomischen Ungleichheiten. Aufgrund von Einwanderung, Kolonialisierung, Flucht oder Sklaverei leben Menschen unterschiedlicher ethnischer Herkunft in einem Land zusammen. Die ethnische Herkunft wird in vielen Ländern begrifflich ganz unterschiedlich gefasst: So ist es beispielsweise in England üblich, zwischen Kategorien zu unterscheiden, die von race geprägt sind wie „white caucasian“ oder „black caribbean“. In Deutschland sind dagegen die deutsche Staatsbürgerschaft und der Migrationshintergrund zentral für die ethnische Zuschreibung von Menschen. Der Migrationshintergrund beschreibt Personen, die entweder selbst („erste Einwanderergeneration“) oder deren Vorfahren („zweite“ oder „dritte Generation“) in das Land zugewandert sind, in dem sie jetzt leben.

Menschen mit Migrationshintergrund: Im Jahr 2021 lebten in Deutschland rund 81,9 Mio. Menschen. Davon... (© picture-alliance/dpa, dpa Grafik | dpa-infografik GmbH; Quelle: Statistisches Bundesamt)

Nach der Definition des Statistischen Bundesamtes hat eine Person einen Migrationshintergrund, wenn „sie selbst oder mindestens ein Elternteil nicht mit der deutschen Staatsbürgerschaft geboren wurde“. Das heißt, alle Personen mit nicht-deutschem Pass haben einen Migrationshintergrund, egal ob sie selbst zugewandert sind oder nicht. Gleiches gilt für eingebürgerte Personen, (Spät-)Aussiedler:innen sowie die Kinder von diesen Personengruppen, auch wenn diese seit Geburt die deutsche Staatsangehörigkeit haben. Diese Definition wird dafür kritisiert, dass sie die Information zur Staatsangehörigkeit mit der Information zur Zuwanderung einer Person oder deren Familie vermengt und dass sie mit der Generation der Eltern endet, auch wenn die Wanderungserfahrung der Großeltern für deren Nachkommen in Deutschland noch immer von Bedeutung ist.

Der Begriff „Migrationshintergrund“ wird als mitunter stig­matisierendes Etikett angesehen, das verschiedene Lebenssituationen in einer Kategorie vermischt. An dem Konzept gibt es auch grundsätzlichere Kritikpunkte: Für die Zuschreibung von Personen zu bestimmten ethnischen Gruppen, sei es die Selbst- oder die Fremdzuschreibung durch andere, spielt dieses abstrakte Konzept eine geringere Rolle als Herkunftsländer, Regionen, Sprachen oder der rechtliche Status (z. B. ich bin deutsch, kurdisch, friesisch, portugiesisch, Flüchtling). Aber genau diese Merkmale prägen die gesellschaftlichen Zuschreibungen und die Lebenschancen, die damit verbunden sind.

Hinzu kommen hier in besonderem Maße Zuschreibungen, die durch die Sichtbarkeit bestimmter ethnischer Minderheiten bedingt sind: Eine Person, deren Vorfahren vor mehreren Generationen zugewandert sind, kann aufgrund ihres Aussehens immer noch von anderen Personen als „nicht-deutsch“ wahrgenommen werden oder zumindest subjektiv den Eindruck haben, dass Personen sie als „nicht-deutsch“ wahrnehmen. So heikel solche subjektiven Selbst- und Fremdzuschreibungen sind, sie prägen den Alltag von Menschen und deren Lebenschancen.

Für die Forschung und die amtliche Statistik bedeuten die unterschiedlichen Aspekte der ethnischen Herkunft (Migrationshintergrund einerseits und Selbst- und Fremdwahrnehmung andererseits), dass nicht immer über das Gleiche gesprochen, geforscht und berichtet wird. Zudem fehlen durch den Wandel des Verständnisses von ethnischer Herkunft langfristige und vergleichende Datenreihen. Im Vergleich zur sozialen Herkunftsklasse oder zum Geschlecht gibt es daher weniger etablierte Befunde zu ethnischen Ungleichheiten.

QuellentextAufstiegschancen für Menschen mit Migrations­geschichte

[…] Nabil […] Essadik hat […] ein Unternehmen. Seit 2008 betreibt er den Handyreparaturladen iPhoneStudio im Frankfurter Stadtteil Bockenheim. „Ich habe nach der Schule eine Ausbildung als Kaufmann bei einem Bekleidungsgeschäft gemacht“, erzählt er. […] „Ich wollte schnell starten und direkt Geld verdienen.“ Auch sein Vater hatte eine Ausbildung gemacht, als Kfz-Mechaniker. Sein Großvater kam als Gastarbeiter aus Marokko. […]

Der 37-jährige Essadik bezeichnet sich selbst als sozialen Aufsteiger. Und er sagt, dass seine Selbständigkeit der Grund für diesen Aufstieg sei. Er ist ein Beispiel unter vielen, wie es Kindern aus Arbeiterfamilien gelingen kann, es finanziell besser zu haben als ihre Eltern. Gerade die Selbständigkeit ist dafür wichtig, wie neue Forschungsergebnisse zeigen.

Wenn es um die Einkommensmobilität in Deutschland geht, hält sich seit Längerem die Erzählung von einem Land, das im internationalen Vergleich abgeschlagen ist und seinen Arbeiterkindern kaum Chancen bietet. Im Jahr 2018 erschien eine oft zitierte Studie der Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), die genau das zu belegen schien. Im Schnitt sechs Generationen dauere es hierzulande für Menschen aus Familien mit niedrigen Einkommen, zur Mittelschicht aufzuschließen, so die Wissenschaftler damals. Die Einkommensmobilität liege auf dem Niveau von Chile und Ungarn, deutlich unter dem OECD-Durchschnitt und noch viel weiter unter den Spitzenreitern Dänemark, Norwegen, Finnland und Schweden.

Das Ergebnis überraschte viele Ökonomen, fiel es doch sehr viel pessimistischer aus als vorherige Studien. Das Münchner Ifo-Institut rechnete kurz darauf vor, dass es sich um einen statistischen Ausreißer handelte. Dennoch blieb die Geschichte im öffentlichen Diskurs hängen.

Eine noch unveröffentlichte Studie des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln, die der F.A.S. vorliegt, wirft allerdings nun noch mehr Zweifel an den OECD-Ergebnissen auf. Denn, so argumentiert IW-Forscher Maximilian Stockhausen: Die Daten, auf deren Grundlage Deutschland so schlecht aussieht, haben einen blinden Fleck. Die OECD betrachtete nämlich ausschließlich abhängig Beschäftigte. Menschen, die sich selbständig machen, so wie Nabil Essadik, kamen in der Studie nicht vor. Dabei haben Selbständige eine viel höhere „Einkommensdynamik“, schreibt Stockhausen. Soll heißen: Es geht viel schneller nach oben mit dem Einkommen – und bisweilen auch nach unten.

Stockhausen hat sich Daten des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) genauer angesehen, einer seit Jahrzehnten regelmäßig durchgeführten Befragung Tausender deut­scher Haushalte, in die sowohl Angestellte als auch Selbständige einbezogen werden. Die IW-Studie basiert auf Hunderten westdeutschen Vater-Sohn-Paaren. Nur Männer, weil sich die Rolle von Frauen auf dem Arbeitsmarkt so stark verändert hat, dass es das Ergebnis verfälschen könnte. Nur Westdeutsche, weil Stockhausen in der Vätergeneration so bis in die Achtzigerjahre zurückblicken konnte.

Solange Stockhausen nur Familien betrachtete, in denen sowohl Vater als auch Sohn Angestellte waren, kam er auf ein sehr ähnliches Resultat wie die OECD: Das Einkommen des Sohns hing stark von dem des Vaters ab. Sobald er aber die Selbständigen hinzufügte, hellte sich das Bild auf: Der Zusammenhang zwischen dem Einkommen des Vaters und des Sohnes fiel um etwa ein Drittel geringer aus. „Damit liegt Deutschland im internationalen Vergleich im guten Mittelfeld“, sagt Stockhausen – immerhin. Besonders positiv entwickelte sich das Einkommen zwischen den Generationen in den Fällen, in denen der Vater abhängig beschäftigt, der Sohn selbständig war. Ob die Selbständigkeit gerade in Deutschland eine größere Rolle für den Aufstieg spielt als in anderen Ländern, will Stockhausen als nächstes erforschen. […]

[…] Migrantenkinder haben es in Deutschland oft besonders schwer, den sozialen Aufstieg zu meistern. Kindern aus bildungsfernen Häusern ohne Migrationshintergrund gelingt der Aufstieg schon durch Bildung recht oft, denen mit Migrationshintergrund dagegen nur selten, wie eine Untersuchung der OECD vor wenigen Jahren gezeigt hat.

Die gute Nachricht ist: Migranten und ihre Nachfahren sind überdurchschnittlich oft Unternehmensgründer – und das mit Ausnahme des ersten Pandemiejahrs 2020 durchgängig schon seit über einem Jahrzehnt. Die staatliche KfW-Bank hat die aktuellen Zahlen […] anhand ihres jährlichen Gründungsmonitors ermittelt. Im Jahr 2021 machten Menschen mit Migrationshintergrund 31 Prozent der Grün­der aus, bei einem Anteil an der Gesamtbevölkerung von 27 Prozent. Auch die kleinere Gruppe von Menschen, die selbst eingewandert sind, gründet überdurchschnittlich oft ihr eigenes Unternehmen.

Das freut auch Fritzi Köhler-Geib, Chefvolkswirtin der KfW. „Deutschland profitiert seit vielen Jahren von der höheren Bereitschaft von Migrantinnen und Migranten, sich selbständig zu machen“, sagt sie. Zwar spielten schlechtere Arbeitsmarktchancen bei der Gründungsentscheidung von Migranten eine Rolle. Sie fingen aber überdurchschnittlich häufig mit einer Wachstumsorientierung an. „Das zeigt, wie wichtig die berufliche Selbständigkeit für die soziale Teilhabe und als Möglichkeit zum Aufstieg ist.“

Die schlechteren Arbeitsmarktbedingungen, die Köhler-Geib anspricht, sind ein wichtiger Punkt. Einwanderern bleiben andere berufliche Aufstiegsmöglichkeiten öfter verwehrt. Sie haben schlechtere Chancen auf lukrative Angestelltenjobs. Studien zeigen, dass Menschen, die ethnischen Minderheiten angehören, bei identischem Lebenslauf seltener zu Vorstellungsgesprächen eingeladen werden. Die Selbständigkeit bietet ihnen hingegen ein Sprungbrett in die Mittelschicht. […]

Bastian Hauser / Alexander Wulfers, „Aufstieg durch Shisha-Bars“, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 18. Dezember 2022 © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv

Geschlecht

Lange Zeit wurde davon ausgegangen, dass es zwei Geschlechter gibt – Frauen und Männer –, dass jeder Mensch entweder das eine oder das andere ist, und zwar von Geburt an und dauerhaft, und dass sich diese Geschlechterzugehörigkeit anhand natürlicher, biologisch eindeutiger Merkmale bestimmen lässt. Ein zentraler biologischer Unterschied wird dafür als Begründung genutzt: Frauen können in der Regel Kinder gebären, Männer nicht. Ausgehend davon ist die Vorstellung gesellschaftlich immer noch weit verbreitet, dass sich alle anderen Unterschiede zwischen Frauen und Männern aus diesem einen Unterschied ableiten lassen: was sie denken und fühlen, ihre Interessen und Fähigkeiten, was sie gerne und weniger gerne machen, sprich wie sie ihr Leben leben.

Die heute stark verbreitete Vorstellung, dass es nur genau zwei biologische Geschlechter gibt, ist eine relativ neue Sichtweise. Noch im Mittelalter gab es eine plurale Sicht auf biolo­gische Geschlechtermodelle. So wurden beispielsweise die Geschlechtsorgane von Männern und Frauen als im Prinzip gleich interpretiert mit jeweils unterschiedlichen Ausfor­mun­gen. Die heutige Vorstellung von Geschlecht ist also nicht naturgegeben, sie ist vielmehr historisch und kulturell gewachsen und könnte auch ganz anders aussehen. So zeigen Studien, dass es bei einigen indigenen Völkern mehr als zwei Geschlechter gibt, Menschen ihr Geschlecht wechseln können oder ihr Geschlecht erst nach erfolgreichen Initiationsriten erlangen. Auch biologische Studien zeigen, dass sich menschliche Körper nicht klar in zwei Gruppen einteilen lassen.

Für das gesellschaftliche Miteinander spielt eine biologische Begründung der Geschlechteranzahl eine untergeordnete Rolle, denn wirkmächtig sind vor allem die starken gesellschaftlich geteilten und konstruierten Vorstellungen dessen, was Geschlecht ausmacht: Mädchen werden häufig anders angezogen als Jungen, sie bekommen andere Spielsachen, ihnen wird beigebracht, dass sie besser in Sprachen als in Mathematik sind, sie werden anders gefördert und sie entwickeln andere Hobbys und Interessen. Insofern gleicht unsere Alltagstheorie von Geschlecht einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung, denn es lassen sich heute zwei sozial konstruierte Geschlechtergruppen klar voneinander unterscheiden. Und auch wir selbst tragen zu dieser sozialen Konstruktion bei, denn wir lernen im Verlauf unseres Lebens, wie wir uns kompetent als Frau oder Mann verhalten, und zeigen dies immer wieder im Umgang mit anderen.

Umfrage unter 4046 Erwachsenen vom 28.5. bis 26.6.2018 (© picture-alliance, dpa-infografik | dpa-infografik; Quelle: ifo Bildungsbarometer 2018)

Doch schon immer gab es sogenannte nicht-binäre Personen, die sich weder dem weiblichen noch dem männlichen Geschlecht zuordnen (lassen). Seit Ende 2013 können diese Personen „kein Geschlecht“ in ihren Personenstand eintragen lassen, seit Ende 2018 können sie alternativ dazu auch den Geschlechtseintrag „divers“ nutzen. Mit dieser Anerkennung deutet sich ein Wandel in der gesellschaftlichen Konstruktion von Geschlecht an, auch wenn die Vorstellung von genau zwei Geschlechtern nach wie vor weit verbreitet ist, vor allem in unseren Alltagsvorstellungen.

Warum sind diese Kriterien so wirkmächtig?

Die drei Zuweisungskriterien soziale Herkunft, ethnische Herkunft und Geschlecht wirken ab der Geburt jedes Menschen auf dessen Lebenschancen, zum Beispiel auf die Bildungskarriere, auf das Erreichen von beruflichen Positionen, auf das Lebenseinkommen oder auf die Gesundheit im Lebensverlauf.

Warum sind aber ausgerechnet diese Zuweisungskriterien so wirkmächtig? Hierfür ist eine Reihe von Mechanismen verantwortlich. Je nach sozialer und ethnischer Herkunft verfügen Heranwachsende über unterschiedliche Ressourcen: Wie viel Geld können Eltern für ihre Kinder ausgeben? Welche Netzwerke haben Eltern, von denen ihre Kinder profitieren können? Wie viel Wissen haben Eltern, das sie ihren Kindern mit auf den Weg geben können? Welche Sprachen werden in der Familie gesprochen? Welche Informationen haben Eltern über Bildungswege und berufliche Karrieren? Die Ressourcen aus den Herkunftsfamilien sind entscheidend für den Bildungserfolg und für das spätere berufliche Vorankommen der Kinder. Darüber hinaus haben Eltern in privilegierten Herkunftsklassen auch die Möglichkeit, Macht und Einfluss auf Entscheidungen anderer bezüglich ihrer Kinder auszuüben, sei es im Bildungsbereich, im Freizeitbereich oder zu Beginn der Berufskarriere.

Kinder werden je nach Geschlecht, sozialer und ethnischer Herkunft unterschiedlich kulturell sozialisiert. Dadurch entwickeln sich bei ihnen unterschiedliche Präferenzen und Ziele für ihr eigenes Leben. Für ein Arbeiterkind kann das Erreichen des Abiturs bereits ein großer Erfolg sein. Für ein Akademikerkind zählt dagegen vielleicht nur das Erreichen eines Studienabschlusses, das Abitur allein ist „zu wenig“. Die beruflichen Interessen und Wünsche von Mädchen unterscheiden sich heute ebenso stark von Jungen wie vor 50 Jahren. Die Forschung zu Familien mit Migrationshintergrund hat gezeigt, dass es bei dieser Gruppe sehr hohe Bildungsziele gibt, die allerdings nicht immer erreicht werden können (siehe Interner Link: Abschnitt "Ungleiche Start- und Lernbedingungen in der Familie" im Kapitel "Soziale Herkunft und Bildung").

Mit den Zielvorstellungen gehen auch bestimmte Vorstel­lungen über den Wert der Arbeit, den Wert der Familie und den Wert der Freizeit einher, die ebenfalls prägend sein können. So gibt es zwischen West- und Ostdeutschland nach wie vor deutliche Unterschiede hinsichtlich des gewünschten Arbeitsumfangs von erwerbstätigen Müttern. Während im Osten die Vollzeiterwerbstätigkeit von Müttern weithin anerkannt und als erstrebenswert angesehen wird, bevorzugen in Westdeutschland viel mehr Familien eine Teilzeitbeschäftigung der Mütter (bei Vollzeiterwerbstätigkeit der Väter). Diese unterschiedlichen Werthaltungen werden in den unterschiedlichen Herkunftsfamilien und zum Teil geschlechtsspezifisch vermittelt.

Bei der Zuschreibung von Personen zu sozialen Positionen finden – bewusst oder unbewusst – auch Stereotype ihre Anwendung. Die Überzeugung, dass „Frauen besser mit Kindern umgehen können als Männer“, kann ein Grund dafür sein, dass der Bewerber im Kindergarten keine Chance hat, die Stelle als Erzieher zu bekommen. Stereotype und Vorurteile gegenüber bestimmten Gruppen prägen unser Alltagsverständnis. Dabei ist aber je nach Situation der Einfluss der Stereotype und Vorurteile bis hin zur Diskriminierung unterschiedlich stark. Beispielsweise gibt es eine ganze Reihe von Bewerbungsexperimenten in vielen Ländern, deren Ergebnisse darauf hindeuten, dass Arbeitgeber:innen dazu tendieren, ethnische Minderheiten zu diskriminieren, indem sie sie seltener zu Bewerbungsgesprächen einladen als andere Bewerber:innen: Für diese Experimente verschickten Forscher:innen eine große Menge fiktiver Bewerbungen an Arbeitgeber:innen, die offene Stellen zu vergeben hatten. Die Lebensläufe und Qualifikationen der Bewerber:innen waren identisch, nur ihre Namen unterschieden sich systematisch. Es wurden „typische“ Namen verwendet, die auf unterschiedliche ethnische Gruppen oder Herkunftsländer hindeuteten.

Die Grenze zwischen stereotyper Bewertung und diskriminierendem Verhalten ist nicht immer leicht zu ziehen. Eine Sonderform ist die statistische Diskriminierung. Diese tritt auf, wenn Auswählende eine Person – ohne auf deren individuelle Eigenschaften zu schauen – benachteiligen, weil sie zu einer bestimmten Gruppe gehört und dieser Gruppe insgesamt bestimmte Eigenschaften zugeschrieben werden. Zum Beispiel liegt statistische Diskriminierung dann vor, wenn eine Frau beim Getränkehandel nicht eingestellt wird, weil Frauen im Durchschnitt nicht so viel Muskelkraft in den Armen aufweisen wie Männer.

Eine mögliche Bevorzugung oder Benachteiligung kann sich auch implizit oder explizit in Regelwerken, Normen oder Gesetzen verstecken. Wenn bei der Bewerbung für einen Arbeitsplatz Auslandsaufenthalte während des Studiums eine positive Berücksichtigung finden, dann haben Kinder aus reichen Herkunftsklassen bessere Chancen, weil sie ausreichend Geld für die Finanzierung des Aufenthalts hatten.

Das letzte Beispiel veranschaulicht gut, dass die Bestimmung des Ausmaßes von Diskriminierung nicht einfach ist. Eine Bewerberin mit Auslandsaufenthalt hat gegebenenfalls mehr Erfahrung und mehr Kompetenzen, das heißt aufgrund dieser „Leistungen“ hat sie einen Vorteil. Diskriminierend ist die Auswahl daher zunächst nicht. Das mögliche Ungerechtigkeitsproblem der Auswahl wird erst sichtbar, wenn die ökonomischen Ressourcen der Bewerber:innen mit in Betracht gezogen werden.

Es gibt darüber hinaus auch weitere Formen der Diskri­minierung aufgrund persönlicher Präferenzen bis hin zur offenen Diskriminierung aufgrund der Herkunft, des Ge­schlechts oder der Hautfarbe. Wie stark verbreitet dies ist, darüber gibt es keine gesicherte Erkenntnis. Verschiedene Ex­perimente deuten darauf hin, dass offene Diskriminierung in Deutschland eher eine untergeordnete Rolle spielt.

Schließlich wirken soziale Herkunft, ethnische Herkunft und Geschlecht durch Gelegenheitsstrukturen. Dies können vor allem die jeweiligen räumlichen Kontexte sein, etwa das Stadtviertel, ein ethnisch homogenes Wohngebiet oder die soziale Zusammensetzung von Schulklassen und Studiengängen. Diese Umfelder können sich vorteilhaft oder benachteiligend für Kinder und Jugendliche auswirken, weil sie systematisch unterschiedliche Kultur-, Freizeit- und Beteiligungsmöglichkeiten, vor allem aber auch soziale Kontakte mit unterschiedlichen Gruppen bieten.

Das Zusammenwirken von Zuweisungskriterien

Sehr häufig geht die ethnische Herkunft mit einer benach­teiligten sozialen Herkunftsklasse einher. Bestimmte Mi­grantengruppen in Deutschland, so beispielsweise die Arbeitskräfte aus Südeuropa und der Türkei, die in den 1960er- und 1970er-Jahren nach Deutschland gekommen sind, wurden für Tätigkeiten in der Industrie angeworben. Daher gehörten sie meist der Arbeiterklasse an, was ihre Nachkommen und deren Lebenswege prägte.

An diesem Beispiel wird deutlich, dass die drei genannten Zuweisungskriterien alle für sich genommen wirkmächtig sind, aber gleichzeitig nicht unabhängig voneinander bestehen: Menschen haben nicht nur ein bestimmtes soziales Geschlecht, sondern gleichzeitig auch immer eine bestimmte soziale und ethnische Herkunft. Das heißt aber auch, dass der spezifische Standort einer Person an der Schnittstelle dieser drei Kategorien bestimmt, wie sie von ihrer Umwelt eingeordnet wird und wie die Welt von dieser Person erfahren wird. So gestaltet sich beispielsweise die Welt für eine türkischstämmige Frau aus der Arbeiterklasse ganz anders als für eine deutschstämmige Frau aus einem Akademikerhaushalt.

Es ist daher zu einfach gedacht, dass beispielsweise alle Frauen aufgrund ihres Geschlechts gleichermaßen benachteiligt sind. Das heißt aber auch, dass sich die Benachteiligungen und Bevorzugungen, die sich durch die Zuschreibung zu einem Geschlecht, einer sozialen Klasse und einer ethnischen Gruppe ergeben, nicht einfach „aufaddieren“. Vielmehr kann es sein, dass sich bei bestimmten Gruppen Benachteiligungen aufgrund von Geschlecht, Klasse und Ethnizität gegenseitig verstärken, bei anderen hingegen gegenseitig verringern. Diese Idee, dass Ungleichheiten aufgrund der Verwobenheit sozialer Zuweisungskategorien multidimensional und komplex sind, wird im Konzept der Intersektionalität aufgegriffen.

QuellentextWas bedeutet eigentlich Intersektionalität?

„Intersektionalität“ ist ein Begriff, der in gesellschaftlichen Debatten vielfach verwendet wird. Entwickelt wurde er von der US-amerikanischen Juristin Kimberlé Crenshaw, um erklären zu können, wie verschiedene gesellschaftliche Diskriminierungen ineinander wirken.

Der Begriff Intersektionalität verbindet gesellschaftliche und individuelle Erfahrungen. Er basiert auf der Einsicht, dass soziale Kategorien wie Geschlecht, Herkunft, Klasse, Alter, Behinderung nicht isoliert voneinander wirken, sondern eng miteinander verwoben sind und ermutigt dazu, über vertraute Grenzen hinauszudenken und sich auch Widersprüchen zu stellen.

Der Begriff klingt zunächst etwas kompliziert, wird jedoch verständlich, wenn darauf geschaut wird, wie er entstanden ist. Er ist abgeleitet von dem englischen Wort für „Kreuzung“ (intersection). Dazu hat Crenshaw das Bild der Straßenkreuzung gewählt, die den Mittelpunkt bildet, an dem verschiedene Erfahrungen von Diskriminierung zusammentreffen und sich gegenseitig verstärken. Die von Ausgrenzung betroffene Person steht in der Mitte der Kreuzung, wo sie ein hohes Unfallrisiko hat, besonders verletzlich und schutzbedürftig ist, ohne dass ihre Situation auf einfache Gründe oder eigenes Verschulden zurückgeführt werden kann.

Ursprünglich hatte Kimberlé Crenshaw vor allem die Überschneidung von Rassismus und Sexismus und insbesondere die Situation Schwarzer Frauen im Blick. Als Juristin untersuchte sie Fälle, die vor Arbeitsgerichten verhandelt wurden. Die Klägerinnen erfuhren in den Unternehmen, in denen sie arbeiteten, Benachteiligungen: als Frauen und als Schwarze. Rechtlich war es aber nicht möglich, diese beiden Aspekte zu verbinden.

Dieser Ansatz wurde in der Folgezeit erweitert. Aspekte wie Herkunft, Alter, sexuelle Identität, Behinderung wurden einbezogen. Denn sie wirken ebenfalls nicht unabhängig voneinander, sondern sind in ihren Auswirkungen eng mit­einander verwoben. Auf Deutsch wird „Intersectionality“ deshalb auch mit den Begriffen „Überkreuzungen“ oder „Verwobenheit“ wiedergegeben. Die damit verbundene Theorie dient zum einen dazu, die Verstrickungen, in die Einzelne eingebunden sind, zu entwirren und die Fäden zu sortieren. Zum anderen will sie auch dazu ermutigen, sich der Komplexität von Wirklichkeit anzunähern, über vertraute Grenzen hinauszudenken und sich auch Widersprüchen zu stellen. […]

Claudia Janssen, „Intersektionalität: Was Geschlecht und Hautfarbe miteinander zu tun haben“, NDR.de vom 28.02.2022. Online: Externer Link: https://www.ndr.de/kultur/sendungen/glaubenssachen/manuskript554.pdf

(Interaction Institute for Social Change | Artist: Angus Maguire) Lizenz: cc by-sa/4.0/deed.de

Zusammengefasst gilt: Auch wenn in unserer Gesellschaft in aller Regel berufliche Positionen auf Basis von Leistung besetzt werden, gibt es wirkmächtige Kriterien, die Menschen bereits mit der Geburt zugeschrieben werden. Einerseits wirken die Kriterien direkt auf die Lebenschancen der Menschen durch Ressourcen, kulturelle Sozialisation, Stereotype und Gelegenheitsstrukturen. Andererseits wirken die Kriterien auch indirekt über die Leistungen, zu der die Heranwachsenden überhaupt befähigt werden. Eine Auswahl auf Basis von Leistung muss nicht unbedingt bedeuten, dass es eine gerechte Auswahl ist. Das Zusammenspiel der Zuweisungskriterien führt dazu, dass nicht alle Menschen die gleichen Chancen haben, um sich so zu entfalten, wie sie es vielleicht gerne würden und unter anderen Umständen auch könnten.

Prof. Dr. Reinhard Pollak ist Leiter der Abteilung „Data and Research on Society“ am GESIS – Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften und Professor für Soziologie an der Universität Mannheim. Seine Forschungsinteressen umfassen insbesondere Analysen zu Bildungsungleichheiten und zu unterschiedlichen Auf- und Abstiegschancen in der Gesellschaft. Darüber hinaus forscht er zur Digitalisierung der Arbeitswelten und zu Methoden der Umfrageforschung.
Kontakt: E-Mail Link: reinhard.pollak@gesis.org

Prof. Dr. Corinna Kleinert ist stellvertretende Direktorin des Leibniz-Instituts für Bildungsverläufe (LIfBi) und Professorin für Soziologie mit dem Schwerpunkt längsschnittliche Bildungsforschung an der Universität Bamberg. In ihrer Forschung beschäftigt sie sich mit sozialen Ungleichheiten in Bildungs- und Erwerbsverläufen sowie mit den Übergängen Jugendlicher zwischen Schule, Ausbildung und Arbeitsmarkt.
Kontakt: E-Mail Link: corinna.kleinert@lifbi.de

Prof. Dr. Kathrin Leuze ist Professorin für „Methoden der empirischen Sozialforschung und Sozialstrukturanalyse“ am Institut für Soziologie der Friedrich-Schiller-Universität Jena. In Ihrer Forschung beschäftigt sie sich mit Geschlechterungleichheiten im Bereich Hochschulbildung, Arbeitsmarkt und Berufen sowie Eigentumsungleichheiten in Paarbeziehungen.
Kontakt: E-Mail Link: kathrin.leuze@uni-jena.de