Wladimir Putin hat am 25. April 2005 in einer landesweit im Fernsehen übertragenen Rede vor der Duma den Zerfall der Sowjetunion als "größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts" bezeichnet. Das überrascht, wird doch die siebzigjährige Herrschaft der Bolschewiki (1917-1991) zumindest im Westen gedanklich mit Zwang, Unterdrückung, Stalins Terror, dem GULag und Mangelwirtschaft verknüpft. Dennoch gibt es in Russland und anderen Nachfolgestaaten durchaus eine Art "Ostalgie", die Sehnsucht nach einer Zeit, in der es klare Normen und Werte gab, in der die Sowjetunion als Supermacht gefürchtet war und in der es das Imperium auch Menschen aus der zentralasiatischen Peripherie ermöglichte, sich als Teil einer bedeutenden Macht zu fühlen, in Moskau zu studieren und sich auf Russisch als Lingua franca, als überregionale Verkehrssprache, zu verständigen.
Die Sowjetunion hat nicht nur eine Vielzahl von Staaten hinterlassen, die sich sehr unterschiedlich entwickeln – das Spektrum reicht von Demokratie und EU-Mitgliedschaft (das Baltikum) über einen Schlingerkurs zwischen Westorientierung und Russlandbezug (Ukraine, Georgien) bis zu autoritären Regimen (Weißrussland und die zentralasiatischen Republiken), ganz zu schweigen von Russland als "gelenkter Demokratie". Der Zerfall des Sowjetreichs hat auch ein Vakuum an Orientierung innerhalb der Gesellschaften entstehen lassen. Die chaotische Einführung der kapitalistischen Marktwirtschaft brachte zusätzliche Irritation und den Zweifel, ob die Rezepte des Westens das Richtige für Russland seien.
Wissenschaftliche Debatten
Wie die Menschen in den ehemaligen Sowjetrepubliken ist auch die Historikerzunft noch weit von einer abschließenden Analyse des Phänomens Sowjetunion entfernt. Zum einen liegt das an der Breite und Tiefe des Gegenstands, zum anderen daran, dass die Archive gerade zur Zeit nach 1953 nur sehr bedingt zugänglich sind. Als am besten erforscht gilt heute die Stalin-Zeit (1928-1953), zu der es auch die ausgeprägtesten Forschungskontroversen gibt. In den 1950-/60er-Jahren waren es vor allem Politologinnen und Politologen, die die Sowjetunion mit der Totalitarismus-Theorie erklärten: Staat und Partei hätten die Bevölkerung unterdrückt, die Gesellschaft sei atomisiert, die Kontrolle total gewesen. Dieser Vorstellung von Staat und Gesellschaft widersprachen in den 1970-/80er-Jahren die Sozialhistorikerinnen und -historiker, die die Bevölkerung nicht nur als Opfer, sondern auch als soziale Gruppen mit eigenen Interessen verstanden. Die Bolschewiki seien von den Massen getragen worden, weil die Arbeiter von der sozialen Mobilität profitierten und dem Sowjetregime ihren Aufstieg verdankten. Die bald als "Revisionisten" bezeichneten Vertreterinnen und Vertreter einer Geschichte "von unten" sahen selbst in dem Terror nicht nur einen repressiven Zentralstaat am Werk, sondern auch lokale Akteure, die über Denunziation und Verhaftungen Interessenkonflikte austrugen.
Zusammen mit der Öffnung der russischen Archive 1991 trat eine Generation junger Vertreterinnen und Vertreter der neuen Kulturgeschichte an. Im Rückgriff auf Michel Foucault, den französischen Philosophen und Begründer der Diskursanalyse, führten sie den Erfolg der Bolschewiki auf die Macht der Diskurse zurück: Im hermetisch abgeschotteten System der stalinistischen Ideen, Utopien, Normen und Werte hätten den Menschen keine anderen Ausdrucksmöglichkeiten zur Verfügung gestanden, als auch ihre eigenen Erfahrungen und Vorstellungen in "bolschewistische Sprache" zu fassen. Weder Gewalt "von oben" noch soziale Interessen "von unten" seien entscheidend gewesen: Vielmehr habe der "Neue Mensch" durch das stete Hören, Lesen und Wiederholen die stalinistischen Sprachformeln so verinnerlicht, dass er nicht nur das Feinddenken der Bolschewiki übernahm, sondern auch seinen eigenen Lebenslauf als Aufstieg von der zarischen Finsternis zum bolschewistischen Licht begriff.
Seit 2000 hat die Gewalttheorie Einzug in die Stalinismusforschung gehalten und mit ihr die Frage, ob der Stalinismus überhaupt im Zeichen einer Idee oder Utopie stand oder nicht nur die Möglichkeiten schuf, um Gewalt als Selbstzweck auszuleben. Es wird gestritten, ob Gewalt historisch-kulturell bedingt oder eine anthropologische Konstante ist, also der Menschheit immer und überall zu eigen ist, aber sich nur dort Bahn bricht, wo der Zusammenbruch der Zivilisation den Menschen enthemmt. Anders formuliert: War die Gewalt unter Stalin eine andere als unter Kaiser Caligula oder der Inquisition? Im Rahmen dieser Debatte über die Ursachen des Terrors ist nach den sozialen Interessen und Strukturen, die die "Revisionisten" diskutierten, und den bolschewistischen Diskursen, die die Kulturhistoriker untersuchten, wieder die Persönlichkeit Stalins in den Vordergrund gerückt: Kann anhand einer einzelnen Person der Mord an Millionen von Menschen erklärt werden?
Weitestgehend einig ist sich die Geschichtswissenschaft hingegen darüber, dass die Sowjetunion in Patron-Klienten-Netzwerken funktionierte. Das bedeutet, dass politische Macht und Entscheidungskompetenzen nicht qua Amt, sondern durch die Nähe zum Parteiführer bestimmt wurden: Er verlangte absolute Loyalität und verlieh dafür Einfluss und Wohlstand. Stalin lebte mit seiner Entourage im Kreml wie mit einem kaukasischen Clan, Chruschtschow stützte seine Macht auf ein Netz von Partei-Gebietssekretären, das Breschnew weiter pflegte und ausbaute. Aber auch in der Wirtschaft, in Wissenschaft und Kultur wurden Stellen, Ressourcen, Aufträge und Güter aller Art in erster Linie in Netzwerken verteilt, sodass heute diskutiert wird, ob die informellen Netze die eigentliche Organisationsform der Sowjetunion waren oder doch in erster Linie als Korruption betrachtet werden müssen.