Einleitung
Die Entwicklung der Marktwirtschaft in Russland erhielt ihre entscheidenden Impulse Anfang 1992, als der amtierende Ministerpräsident Jegor Gajdar eine umfassende Liberalisierung der Wirtschaft einleitete. Allerdings hatten marktwirtschaftliche Strömungen schon viele Jahre früher eingesetzt, war doch bereits die administrative Planwirtschaft der Sowjetunion mit marktökonomischen Elementen unterschiedlicher Art und Spannweite durchsetzt gewesen. Sie reichten von Kolchosmärkten bis zur illegalen Produktion und Verteilung von Gütern und Dienstleistungen in einer immer weiter ausufernden Schattenwirtschaft. Für den Wandel des ökonomischen Systems hatten diese Prozesse zwei wesentliche Konsequenzen: Es entstanden gesellschaftliche Netzwerke, die Aufbau, Funktionsmechanismen und Leistungspotenzial der zukünftigen Marktwirtschaft nachhaltig bestimmen sollten, und es entwickelte sich ein Unternehmertum, das seine Einkünfte aus Renten (Einkommen ohne produktive Leistung) erzielte und das Unterlaufen offizieller Rechtsregeln zu einem seiner Handlungsprinzipien machte.
Der marktwirtschaftliche Wandel musste und muss sich in Russland unter schwierigen Bedingungen vollziehen, denn er findet im Rahmen einer grundlegenden Umgestaltung des politisch-gesellschaftlichen Gesamtsystems statt. Hierzu gehören insbesondere die Schrumpfung vom Imperium zur Regionalmacht, der Wechsel des politischen Systems von der Diktatur zur Demokratie sowie der soziale Wandel von einer totalitär überformten zu einer pluralistischen Gesellschaft. Ökonomischer Erfolg stellt sich nur ein, wenn es zu einem vorteilhaften Zusammenspiel mit den drei anderen zentralen Veränderungsprozessen kommt.
Die Schwierigkeiten bei der Neugestaltung der Wirtschaftsverhältnisse in Russland waren und sind auch auf die politisch-gesellschaftlichen Altlasten des untergegangenen administrativen Sozialismus zurückzuführen, die gravierend und bisher allenfalls teilweise überwunden sind. Dazu zählen die beträchtlichen Macht- und Autoritätsdefizite der Führung, die schwache Ausbildung demokratischer Kräfte, etwa politischer Parteien, sowie die unzureichende Entwicklung von Institutionen und einer effektiven gesellschaftlichen Selbstorganisation, wie sie zur Regelung von Konflikten in demokratisch verfassten Marktwirtschaften unverzichtbar sind. Die lange Dauer der administrativen Planwirtschaft im Zusammenwirken mit Prägungen aus vorsowjetischer Zeit hat die ökonomische Kultur, Wahrnehmung, Wertung und das Verhalten breiter Bevölkerungsgruppen nachhaltig beeinflusst.
Allerdings haben sich inzwischen die Einstellungen zur Marktwirtschaft verändert: Umfrageergebnisse deuten auf eine zunehmende Akzeptanz des wirtschaftlichen Systemwechsels hin, und es entstand mittlerweile auch eine umfangreiche aktive Unternehmerschicht in kleineren, mittleren und größeren Betrieben. Sie umfasst alle Wirtschaftszweige, insbesondere aber jene, die im sowjetischen Wirtschaftssystem kaum Raum zur Expansion gefunden hatten wie Dienstleistungen, der Finanzbereich und konsumnahe Sektoren.
Ein besonderes Hindernis für den Umgestaltungsprozess bildete die materielle Strukturerbschaft der sowjetischen Planwirtschaft. Sie hinterließ eine sektoral und regional ungleichgewichtige Wirtschaftsstruktur mit einer permanenten Ausbeutung der ökonomischen Ressourcen des Landes im Interesse kurzfristiger Machtentfaltung. Die wichtigsten Stichwörter in diesem Zusammenhang sind:
übermäßig aufgeblähter Staatssektor;
überdimensionierte Schwer- und Rüstungsindustrie;
politisch bestimmte Standortwahl;
hoher Konzentrationsgrad der Produktion mit zahlreichen natürlichen und technologischen Monopolen sowie
unmoderne, überalterte Produktionsanlagen infolge unterlassener Erneuerungs- und Ersatzinvestitionen.
Dazu kamen unwirtschaftliche, extensive Beschäftigungsverhältnisse, die in der Transformationsphase zunehmende Arbeitslosigkeit vorprogrammierten, sowie eine zurückgestaute Inflation, die sich nach der Liberalisierung der meisten Preise zu Beginn der neunziger Jahre in einer Preisexplosion entlud. Auch die Konzentration des sowjetischen Außenhandels auf den Wirtschaftsbereich des "Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe" (RGW, 1990 aufgelöst), der die Ostblockstaaten sowie Kuba, die Mongolei, Nordkorea und Vietnam umfasste, und ihre Schwerpunkte im Rohstoff- und Energiesektor belasten die russische Wirtschaft trotz der inzwischen vor allem in regionaler Hinsicht eingetretenen Veränderungen bis heute.
Elemente des Systemwechsels
Der offizielle Start in die Marktwirtschaft erfolgte mit Beginn des Jahres 1992 auf der Grundlage des von Präsident Boris Jelzin im Oktober 1991 vorgelegten Reformprogramms mit den beiden zentralen Hauptzielsetzungen "Liberalisierung" und "Privatisierung". Die Verfassung von 1993 setzte dann den konstitutionellen Rahmen für eine marktwirtschaftliche Ordnung, die zwar soziale Züge tragen soll, aber keinerlei Ansätze zeigt, "dritte Wege" mit Mischungen markt- und planwirtschaftlicher Elemente festzuschreiben. Die seit Reformbeginn bestehende marktwirtschaftliche Grundtendenz ist auf eine Reihe von Gründen zurückzuführen:
den spontanen, nicht mehr aufhaltbaren Charakter eines "Systemwechsels von unten";
das Fehlen politisch vertretbarer und zugleich praktikabler Alternativen;
die auf marktwirtschaftliche Strukturen angelegten internationalen Rahmenbedingungen und
das Eigentums-, Einfluss- und Machtinteresse der alten (aus der sowjetischen Planwirtschaft kommenden) und neuen (vielfach aus der akademischen Intelligenz stammenden) ökonomischen Eliten Russlands.
Diese Stabilität marktwirtschaftlicher Ausrichtung bedeutete freilich keine Kontinuität in der Wirtschaftspolitik, und die angestrebte ökonomische Konsolidierung scheiterte trotz periodischer Erfolge zunächst immer wieder. So folgte zwar auf Niedergang und Inflation am Beginn der Transformation Mitte der neunziger Jahre eine Phase der Stabilisierung von Währung und wirtschaftlicher Entwicklung, die bis 1997 anhielt. Dann kam es, verursacht durch ein großes Haushaltsdefizit, übersteigerte Zinszahlungen für kurzfristige Staatsanleihen und ein extrem spekulatives Verhalten der Banken zur Finanz- und Wachstumskrise vom August 1998, die Russland wieder zurückwarf, andererseits aber zu den Voraussetzungen für den seit 1999 anhaltenden Aufschwung beitrug.
Der Westen hat in diesem wechselvollen Wirtschaftsprozess eine zwiespältige Rolle gespielt. Dies gilt sowohl für Staaten wie die USA und Deutschland sowie für die Europäische Union und die Gruppe der sieben wichtigsten Industriestaaten (G7) als auch für die Weltwirtschaftsorganisationen Internationaler Währungsfonds (IWF) und Weltbank. Kredite wurden oft unter politischen Gesichtspunkten gewährt - etwa, um 1996 die Wiederwahl Jelzins als Präsident Russlands zu sichern -, und die finanzierende wie beratende Einflussnahme von IWF und Weltbank orientierte sich zu sehr am Modell des "Washingtoner Konsenses". Dieses Modell, in den neunziger Jahren für Schwellen- und Entwicklungsländer erarbeitet, setzte auf Privatisierung, Liberalisierung und Deregulierung. Es berücksichtigte dabei aber nur unzureichend, dass institutioneller Wandel, der Umbau der Strukturen und die Veränderung der russischen Wirtschaftskultur mit ihrer zentralen Bedeutung für Motivation, Normenverständnis und ökonomisches Verhalten mehr Zeit beanspruchten.
Fortschritt, Grenzen und Probleme der marktwirtschaftlichen Transformation zeigen sich vor allem in den drei zentralen Reformsegmenten Liberalisierung, Privatisierung und Aufbau eines marktwirtschaftlichen Prinzipien entsprechenden Steuersystems.
Liberalisierung
Die Liberalisierung der Preise und Löhne, die in der sowjetischen Planwirtschaft weitgehend administrativ geregelt waren, sowie die Aufhebung der planwirtschaftlichen Mengenregulierungen für Produktion sowie Binnen- und Außenhandel standen am Beginn der russischen Transformationspolitik. Die entsprechenden Richtlinien traten (mit bestimmten Ausnahmen, vor allem im Energiebereich) im Januar 1992 in Kraft und galten zunächst für ganz Russland.
Seit März 1992 wurden den Regionen jedoch Vollmachten erteilt, die Liberalisierungsprogramme nach ihren Vorstellungen zu modifizieren. Daraufhin führten viele von ihnen neue Preisregelungen ein, die mit teilweise erheblichen Subventionen verbunden waren. Eine beträchtliche regionale Preisdifferenzierung war die Folge, und auch die bald einsetzenden Versuche des Zentrums, die Kontrolle über den Liberalisierungsprozess durch neue normative Regelungen zurückzugewinnen, konnten die Alleingänge der einzelnen Föderationssubjekte nicht unterbinden.
Auch für die anderen Liberalisierungsbereiche wie Löhne und Außenhandelsregelungen entwickelten sich regionale Unterschiede, die teils auf Sonderkonzessionen der russischen Zentralregierung, teils auf Eigenmächtigkeiten der regionalen Exekutiven beruhten. Insgesamt entstand ein Gemisch von unklaren Zuständigkeiten zwischen zentralrussischen Organen und Regionalorganen, instabilen und widersprüchlichen Gesetzgebungsakten sowie wechselnden Konstellationen im Machtverhältnis von Zentrum und Regionen.
Diese Gemengelage behinderte lange Zeit eine homogene und transparente Marktwirtschaft und soll seit Beginn der Präsidentschaft Putins durch neue, für ganz Russland geltende und die Einheit des Wirtschaftsraums sichernde marktwirtschaftliche Reformen überwunden werden. Dem verstärkten Abbau reglementierender Vorschriften stehen allerdings die alten - "natürlichen", das heißt auf Kontrolle über Naturressourcen beruhenden - Monopole des Rohstoff- und Energiesektors entgegen, deren Reform nur schleppend verläuft, sowie der insgesamt zunehmende Konzentrationsgrad der russischen Wirtschaft. Gegenwärtig kontrollieren wenige große Eigentümergruppen (Jukos, Gasprom, Lukojl, Surgutneftegas, Sibneft, RAO EES Rossii, Norilskij nikel und Mobilnyje telesistemy) etwa 85 Prozent der Umsätze der privaten Kapitalgesellschaften Russlands. Innerhalb dieser Gruppen geht der Konzentrationsprozess weiter. So hat Jukos inzwischen die Mehrheitsanteile an Sibneft erworben.
Privatisierung
Der quantitative Erfolg des russischen Privatisierungsprogramms war beträchtlich. Durch die Mitte 1992 einsetzende "kleine" Privatisierung ging die Mehrzahl der kleinen Staatsbetriebe in private Hände über, vornehmlich durch Ausschreibung und direkten Verkauf. Daneben kam es zu zahlreichen Neugründungen kleiner Betriebe, vor allem im Dienstleistungsbereich. Auch die "große" Privatisierung (Privatisierung der staatlichen Mittel- und Großbetriebe) hat seit Ende 1992 rasche Fortschritte erzielt. Nachdem zunächst eine Umwandlung der Staatsbetriebe in Aktiengesellschaften erfolgt war, kam es zur formalen Privatisierung ganzer Betriebe oder Betriebsanteile. Der Beitrag des privaten Sektors zum russischen Bruttoinlandsprodukt wird inzwischen auf insgesamt 70 Prozent geschätzt.
Trotz der Erfolge gibt es weiterhin zahlreiche, teilweise gravierende Schwachpunkte. Sie sind bedingt teils durch ungünstige systempolitische, wirtschaftsstrukturelle und makroökonomische Rahmenbedingungen, teils durch konservative Verhaltensstrukturen (marktfremde ökonomische Kultur). Eine Ursache liegt zudem im prekären Verhältnis zwischen Privatisierung und der Verbreitung aller Arten von Kriminalität in einem breiten Spektrum von Steuerhinterziehung über Korruption und Schutzgelderpressung bis zum Einsatz physischer Gewalt mit Mord als extremer Steigerung. Auch der Macht- und Einflussaspekt des Eigentums trägt dazu bei, dass die Privatisierung von Staatsbesitz im Gegensatz zu anderen Reformvorhaben unter der Präsidentschaft Putins nur langsam vorangekommen ist.
Allerdings wurde im Herbst 2001 ein neues Bodengesetz verabschiedet, das Kauf, Verkauf und Beleihung von industriell genutzten Flächen prinzipiell erlaubt. Wenn sich die Regelungen dieses Gesetzes auch nur auf circa zwei Prozent der Gesamtfläche des Landes beziehen, so kommt ihnen doch eine beträchtliche Signalwirkung zu, denn damit wird zum ersten Mal seit 1917 privates Eigentum an Grund und Boden de iure wieder zugelassen. Ein neues Gesetz über staatliches und kommunales Eigentum soll die Grundlage für einen neuen Privatisierungsschub bis zum Jahre 2008 bilden.
Bankwesen
Die Banken in Russland haben zunehmende ökonomische Bedeutung für die marktwirtschaftliche Transformation, aber auch Schattenseiten von organisatorischen Mängeln und Dysfunktionen bis hin zur Durchmischung mit kriminellen Verhaltensweisen und organisiertem Verbrechen. Das russische Bankwesen entwickelte sich bis zu seinem Niedergang in der Finanzkrise vom August 1998 zunächst zügig und im Wesentlichen nach dem Vorbild westlicher zweistufiger Banksysteme. Seine aktuellen Probleme bestehen vor allem im zu geringen Kreditangebot für langfristige Investitionen, in nach wie vor hohen Kreditrisiken sowie in einer immer noch unzureichenden Professionalität.
Gegenwärtige Reformpläne zur Gesundung des russischen Banken- und Finanzsektors sehen beschleunigte Konkursverfahren für insolvente Finanzinstitute, eine striktere Kontrolle der Großbanken und ein modernisiertes Zahlungssystem für den Interbankenverkehr vor. Das Hauptproblem für eine Reform des Banken- und Finanzsektors dürfte aber nach wie vor darin bestehen, die verabschiedeten Gesetze in der Praxis durchzusetzen, ihre Einhaltung durch die Banken zu kontrollieren und die zuständigen Kontrollbehörden sowie die verantwortlichen Rechtsprechungsorgane zu einer effizienten und neutralen (das heißt korruptionsfreien) Arbeitsweise zu befähigen.
Steuersystem
Das Gelingen der marktwirtschaftlichen Transformation wird wesentlich von der Leistungsfähigkeit des Steuersystems beeinflusst. Die Basis hierfür legte ein Gesetz, das Anfang 1992 in Kraft trat. Zu den wichtigsten Einnahmequellen der öffentlichen Haushalte wurden die Mehrwertsteuer, die Gewinnsteuer der Betriebe, die Einkommenssteuer und vermehrt spezielle Verbrauchssteuern wie beispielsweise auf Tabak, Alkohol und Benzin.
Eine formelle Finanzverfassung, die die Einnahmequellen regelt und die Finanzbeziehungen zwischen den Staatsorganen auf den verschiedenen Verwaltungsebenen Russlands bestimmt (Finanzausgleich), wurde jedoch nicht erlassen. Statt dessen gab es eine Fülle einzelner, oft isolierter normativer Akte zur Steuergestaltung (Gesetze, Präsidentenerlasse und Regierungsverordnungen) vor allem auf nationaler, aber auch auf regionaler Ebene.
Konsistenz, Stabilität und Verlässlichkeit der Abgaben- und Umverteilungsregelungen konnten damit nicht erreicht werden, und Steuerreformen wurden unabwendbar. Der erste, allgemeine Teil eines neuen Steuergesetzes ist bereits seit dem 1. Januar 2000 in Kraft. Der zweite Teil, der die konkrete Festlegung der einzelnen Steuern enthalten soll, befindet sich im Prozess der Realisierung. Mit Beginn des Jahres 2003 ist zum Beispiel die Umsatzsteuer abgeschafft worden und eine vereinfachte Besteuerung von Kleinbetrieben in Kraft getreten.
Die russische Regierung verfolgt mit ihren Steuerreformplänen im Wesentlichen drei Ziele:
Das Steuersystem soll institutionell konsistenter, transparenter und einheitlicher gestaltet werden.
Die Wirtschaft soll durch eine Reduzierung der Steuerlastquote angekurbelt und die Bereitschaft der Unternehmer gesteigert werden, der gesetzlichen Steuerpflicht auch nachzukommen, um sichere und planbare öffentliche Finanzen zu gewährleisten.
Mit einer stärkeren steuerlichen Belastung der Rohstoffsektoren zu Gunsten des verarbeitenden Gewerbes soll auch ein strukturpolitischer Effekt erzielt werden.
Die Steuerreform kann aber nur dann erfolgreich sein, wenn das neue Steuerrecht auch konsequent angewandt wird. Ein Blick auf die Praxis der letzten Jahre zeigt, dass es hier erhebliche Probleme gibt: Steuerzahlungen sind verhandelbar, Steuerbeamte erweisen sich oft als korrupt, Steuerzahlungen in Form von Güterlieferungen beeinträchtigen den Nutzen der Steuer, manche Unternehmer weichen in die Schattenwirtschaft aus und entziehen sich dadurch generell der Steuerpflicht. Damit das neue Steuergesetz wirksam werden kann, müssen auch hier gesellschaftliche, juristische und ökonomische Rahmenbedingungen geschaffen werden.
Wirtschaftspolitik unter Putin
Putin strebt einen neuen Stil in der Wirtschaftspolitik an und bemüht sich, neue programmatische Inhalte durchzusetzen. Doch die bisherigen Ansätze sind widersprüchlich. Einerseits ließen seine eigenen Stellungnahmen sowie das von der Regierung unter Federführung von Wirtschaftsminister German Gref im Jahre 2000 vorgelegte umfangreiche Programm zur Neuorientierung der Wirtschaftspolitik (über einen Zeitraum von zehn Jahren) erkennen, dass ordnungspolitische Maßnahmen zur festeren Verankerung der Marktwirtschaft in Zukunft eine größere Rolle spielen sollen. Dazu gehören Reformen des Steuer- und Bankwesens sowie der Unternehmen, insbesondere durch verbesserte Insolvenzregeln, der Abbau administrativer Hemmnisse für neue Betriebe und Investitionen (auch für Ausländer), die Verbesserung der Eigentumsrechte, Fortschritte beim Bodenrecht sowie die Förderung des Wettbewerbs durch Monopolkontrolle. Diese ordnungspolitischen Maßnahmen sollen stabilitätspolitisch flankiert werden durch eine Inflationskontrolle, den Abbau des Haushaltsdefizits und die Reduzierung der Staatsquote. Andererseits sind struktur- und industriepolitische Maßnahmen vorgesehen, mit denen bestimmte Wirtschaftszweige - einerseits Teile der Schwer- und Rüstungsindustrie, andererseits Bereiche der Landwirtschaft - punktuell gefördert werden sollen.
Die Weiterentwicklung und Festigung der Marktwirtschaft erfordert neben einer langfristigen Konsolidierung der politischen Autorität der Führung auch klare ordnungspolitische Ziele, das heißt die Verbesserung des institutionellen Rahmens der russischen Wirtschaft und die Absage an interventionistische Versuchungen. Die politisch-ökonomische Stabilisierung Russlands hängt aber auch davon ab, dass die russische Gesellschaft, insbesondere die politisch einflussreiche und ökonomisch strukturbestimmende Wirtschaftselite, zu einem neuen sozialen Konsens findet. Bislang ist keine die verschiedenen Gesellschaftsschichten verbindende Vorstellung eines "russischen Gemeinwohls" vorhanden, und die einflussreichen ökonomischen Akteure agieren in einem stark rentenorientierten, ja ausbeuterischen Verhalten mehr gegeneinander als miteinander. Zwar sind bei den politischen Akteuren Handlungsbereitschaft und innerhalb der russischen Eliten Anzeichen eines Umlernens erkennbar, doch wirken strukturelle Kontinuitäten und kulturelle Prägungen konservierend auf den politisch-gesellschaftlichen Status quo und verleiten zur Zuflucht in ein permanentes, ad hoc definiertes, unprofiliertes und ineffizientes "Durchwursteln".
QuellentextUmweltprobleme und Umweltpolitik
Auf dem Papier ist der Umweltschutz in Russland stark. Das Recht des Bürgers auf eine gesunde Umwelt wurde 1993 in die Verfassung der Russischen Föderation aufgenommen. Auch die Vorschriften zur Umweltfolgenabschätzung oder zu Umweltabgaben sind zum Teil schärfer als in Deutschland. Aber die Realität sieht ganz anders aus.
Russland leistet zwar in mehrfacher Hinsicht einen hohen Nettobeitrag zur europäischen und globalen Umweltqualität: So sind riesige Gebiete praktisch vom Menschen unberührt; 65 Prozent des russischen Hoheitsgebiets werden kaum wirtschaftlich genutzt; Russland umfasst über 20 Prozent der weltweiten Wasserressourcen und 22 Prozent aller Wälder der Erde. Doch gelten etwa 15 Prozent der Landesfläche als ökologische Katastrophengebiete.
Die von Russland verursachte Umweltverschmutzung hat in vielen Fällen eine grenzüberschreitende und globale Dimension erreicht, und der Großteil der Menschen in Russland lebt unter miserablen Umweltbedingungen. Etwa 70 Prozent der Bevölkerung nutzt Trinkwasser, das nicht den internationalen Mindeststandards entspricht. Erkrankungen wie Cholera, Typhus und Hepatitis A, die mit dem Wasser übertragen werden, sind daher wieder auf dem Vormarsch. [...]
Ein Großteil der landwirtschaftlich genutzten Böden ist mit Schadstoffen belastet; in der Folge weisen 30 bis 50 Prozent aller Lebensmittel gesundheitsschädigende Rückstände auf. Laut offiziellen Angaben leben etwa 67 Prozent der Bevölkerung in Gebieten mit einer Schadstoffbelastung der Luft oberhalb der geltenden Grenzwerte. In 40 Städten mit insgesamt rund 23 Millionen Einwohnern überschritt die Luftbelastung im Jahr 2000 die zulässigen Grenzwerte zeitweise um mehr als das Zehnfache. Das Entsorgungssystem für Industrie- und Haushaltsabfälle in Moskau und anderen Großstädten reicht nicht aus: 1,8 Milliarden Tonnen Giftmüll haben sich angesammelt, die jährliche Zuwachsrate liegt bei 108 Millionen Tonnen.
Etwa 19 Prozent der Siedlungsflächen weisen Schwermetallkonzentrationen auf, die über den geltenden Grenzwerten liegen. Mineralölfirmen lassen in Russland jedes Jahr etwa 28 Millionen Tonnen Rohöl auslaufen - dies entspricht sieben Prozent der gesamten Ausbeute. Zum Vergleich: Die Menge Rohöl, die durch die Havarie der "Exxon Valdez" 1989 in die Gewässer Alaskas gelangte, war geringer als die Menge, die jeden Tag Russlands Tundra, Seen, Flüsse, Sümpfe und Wälder belastet.
Die Förderverluste aus der russischen Erdgasgewinnung werden auf 50 Prozent geschätzt. Das hierbei freigesetzte und ungenutzte Methangas heizt das Weltklima zusätzlich auf. Berühmt-berüchtigt ist die Halbinsel Kola im Norden Russlands, die als die weltweit größte nukleare Müllhalde gilt. Dutzende alter Atom-U-Boote rosten an den Piers vor sich hin oder liegen irgendwo am Grund der Barents-See. Allein die russische Nordmeer-Flotte produziert jährlich etwa 2500 Kubikmeter flüssigen und rund 1000 Kubikmeter festen radioaktiven Müll, der oftmals auf alten umgebauten Tankschiffen oder einfach unter freiem Himmel gelagert wird. [...]
Journalisten und Medien, die allzu kritisch über Umweltsünden berichten, riskieren mehr als nur eine Rüge: Der Präsident der russischen Umweltorganisation "Green World", Oleg Bodrow, wurde Mitte Februar dieses Jahres (2002 - Anm. d. Red.) von einem Unbekannten auf dem Nachhauseweg außerhalb von St. Petersburg brutal zusammengeschlagen, nachdem er in den Monaten zuvor immer wieder auf Gesetzesverstöße beim Betrieb von Atomkraftwerken und bei der illegalen Beseitigung von Atommüll aufmerksam gemacht hatte.
[...] Das Umweltbewusstsein der russischen Bevölkerung ist sehr unterschiedlich ausgeprägt. Einerseits gibt es eine in Sachen Umweltschutz hoch sensibilisierte Minderheit, auf der anderen Seite die große Mehrheit, die sich an keiner Umweltverschmutzung stört. [...]
Das im Umweltschutzgesetz verankerte Abgabensystem soll zwar einen Anreiz zum Sparen und zur Schadstoffminimierung bieten, doch vermag es dies kaum, da die Höhe der Abgaben seit zehn Jahren nicht mehr an die Inflationsrate von inzwischen über 900 Prozent angepasst wurde. [...]
Die Ziele der russischen Umweltpolitik, die im "Mittelfristigen Wirtschaftsentwicklungsprogramm für die Russische Föderation 2002 bis 2004" formuliert sind, klingen vernünftig. So sollen ökonomische Anreize für den Umweltschutz ausgebaut, das Verursacherprinzip durchgesetzt, ressourcen- und energiesparende Techniken gefördert und neue Finanzierungsmechanismen geschaffen werden. Russland soll eine aktive Rolle in der internationalen Umweltpolitik spielen.
Die Europäische Kommission nimmt in ihrem aktuellen Konzept für die Umweltzusammenarbeit mit Russland hierauf Bezug. [...] Gefördert werden Umweltschutzinvestitionen und Projekte, der Know-how-Transfer im Bereich Umweltmanagement und Verwaltungsmodernisierung durch Expertenaustausch, Politikberatung, Training und Netzwerkbildung.
Hierzu gibt es eine große Anzahl von Abkommen, Gremien und gemeinsamen Arbeitsgruppen zwischen Russland und der EU. [...] Bis zu 20 Milliarden Euro soll Russland in den nächsten zehn Jahren über seine G-8-Mitgliedschaft für die Entsorgung von Atommüll aus Atomwaffen erhalten.[...]
Hans-Christoph Neidlein, "Ein Fass ohne Boden?", in: Internationale Politik 10/2002, S. 49 ff.
Konjunktur und ökonomische Struktur
Ungeachtet vieler ungelöster institutioneller Fragen steht die russische Wirtschaft seit 1999 im Zeichen eines im fünften Jahr anhaltenden Aufschwungs. Er hat die wichtigsten Bereiche der Sozialproduktentstehung wie Industrie, Landwirtschaft, Dienstleistungen und Außenhandel ebenso erfasst wie den Konsum und die Investitionen sowie die Unternehmensgewinne, die Löhne und Gehälter. Dieser Aufschwung wirkte sich gleichermaßen auf die reale wie die monetäre Entwicklung aus und beeinflusste die Außenwirtschaft Russlands positiv. Auch die Arbeitslosigkeit ist etwas zurückgegangen.
Das Wachstum verlief jedoch nicht gleichmäßig. Es vollzog sich in den einzelnen Sektoren unterschiedlich intensiv, so beispielsweise in der Industrie vorrangig im Energiesektor, und wies zudem eine schwankende Gesamtdynamik auf. Nach einem bereits guten, wenn auch unausgewogenen Start im Jahre 1999 stellte sich 2000 als ausgesprochenes Boomjahr heraus: Bei der gesellschaftlichen Wertschöpfung nahmen das Bruttoinlandsprodukt um zehn Prozent, die Industrieproduktion um fast zwölf Prozent, die Bruttoanlageinvestitionen um 17,4 Prozent und der private Verbrauch um 9,3 Prozent zu.
In den Jahren 2001 und 2002 folgte eine Wachstumsverlangsamung, im Jahre 2003 eine erneute Beschleunigung, die vor allem vom Export und der Kapitalbildung getragen wird. Die positive russische Wirtschaftsentwicklung seit 1999 hat für das Land, seine Führung sowie sein internationales Umfeld eine erhebliche Bedeutung. Zum ersten Mal seit 1990 sind wirkliche Verbesserungen eingetreten, Russland erscheint nicht mehr als "abgekoppeltes Transformationsland", Meinungsumfragen ermittelten hohe Zustimmungswerte für den Präsidenten, und es ergeben sich neue Spielräume für Reformen. Auch die internationale Reputation der Russländischen Föderation, wie sie in verschiedenen "Ratings" internationaler Bewertungs- und Beratungsinstitutionen zum Ausdruck kommt, hat sich bemerkenswert erhöht. Einschränkend ist allerdings darauf hinzuweisen, dass der Aufschwung von einem niedrigen Niveau ausging (Basiseffekt) und er bisher noch nicht zu einer nachhaltigen Verbesserung in der veralteten Substanz der russischen Wirtschaft geführt hat. Es ist bisher auch nur teilweise gelungen, die sozialen, regionalen und sektoralen Disproportionen zu überwinden, die die Entwicklung der russischen Wirtschaft und Gesellschaft bis in die Gegenwart mit negativen sozialen und politischen Auswirkungen begleitet haben.
Die Struktur der russischen Wirtschaft ist in den vergangenen Jahren kaum moderner geworden, teilweise nahm ihre Unausgeglichenheit zu, wobei eine starke Interdependenz zwischen sektoraler und regionaler Wirtschaftsstruktur und Außenwirtschaftsstruktur wirksam geworden ist. Im vergangenen Jahrzehnt haben sich zwar die Anteile der Industrie (von 35 Prozent auf 32 Prozent) und der Landwirtschaft (von 8,5 Prozent auf sieben Prozent) reduziert, während der Dienstleistungsanteil von 50 Prozent auf 55 Prozent anstieg. Innerhalb des Industriesektors nahm die traditionelle "Schwerindustrielastigkeit" jedoch dramatisch zu. Brennstoffindustrie und Metallurgie vergrößerten ihre Anteile, während der Beitrag "moderner" Industriezweige wie Maschinenbau und Konsumgütererzeugung rückläufig war.
Dies fand seine Entsprechung auch in der Struktur der Außenwirtschaft. Generell beruht der russische Außenhandel - wie zuvor der sowjetische - auf einer komplementären statt (wie für reife Industrieländer typisch) auf einer substitutiven Grundlage, das heißt, es werden Energie und Rohstoffe gegen Fertigprodukte wie Maschinen und Konsumgüter gehandelt und die Eingliederung Russlands in die intraindustrielle Arbeitsteilung bleibt relativ gering. Auf der Exportseite hat sich das traditionelle Übergewicht der Energie- und Metallexporte weiter erhöht. Der Anteil der beiden Produktgruppen an den russischen Ausfuhren stieg im vergangenen Jahrzehnt von knapp 60 auf circa 70 Prozent an.
Gleichzeitig verlagerte sich die ökonomische Dynamik Russlands auf die zentralen und nordwestlichen Gebiete des Landes, die sowohl von der Erweiterung des Dienstleistungssektors als auch von der Dominanz der Rohstoff- und Energiewirtschaft profitierten. Auch in Westsibirien und der Wolgaregion haben nur Gebiete, in denen Erdöl und Erdgas gefördert werden, ihre Anteile am Bruttoinlandsprodukt steigern können. Insgesamt bilden sich in Russland neue ökonomische Kernregionen. Die Dynamik der Märkte führt zu Bedeutungsverlusten peripherer Räume wie Ostsibirien und der Ferne Osten, was wiederum mit sozialen Fragen für die dort lebende Bevölkerung verbunden ist und Wanderungsimpulse auslöst.
Die trotz anhaltender Disproportionen bemerkenswerte Erholung der russischen Wirtschaft beruht zum einen auf exogenen, das heißt von der eigenen Wirtschaft unabhängigen Faktoren. Hier spielte vor allem die für Russland günstige Entwicklung des Weltrohölpreises eine Rolle, die nicht nur die Gewinnsituation im Energiesektor, sondern auch Staatshaushalt und Devisenreserven positiv beeinflusst hat. Bedeutsam war auch der starke Wertverlust des Rubels infolge der Finanzkrise von 1998 sowie der sich krisenbedingt einstellende massive Einbruch der Reallöhne um circa 30 Prozent.
Alle genannten Faktoren reduzierten die Produktionskosten, begünstigten Staatseinnahmen und Unternehmensgewinne, belebten die Exporte, ließen die Importe stark zurückgehen und schafften Spielräume für die Expansion heimischer Märkte und Investitionen. In der russischen Landwirtschaft sorgten gute Witterungsbedingungen in vier aufeinander folgenden Jahren (1999-2002) für gute Resultate. Die Kostenbelastung durch den Tschetschenienkrieg schlug demgegenüber ökonomisch kaum zu Buche.
Gewiss hat auch ein Putin-Effekt, eine Mischung aus Rhetorik und Manipulation der öffentlichen Meinung, entschiedenem Auftreten und ersten wirtschaftspolitischen Schritten, neben der verbesserten ökonomischen Lage zu einer spürbar optimistischen Atmosphäre beigetragen, die das Verhalten der Unternehmen bei der einen oder anderen Investitionsentscheidung beeinflusst haben mag. Insgesamt reicht das inzwischen in der Russländischen Föderation geschaffene institutionelle Gefüge aus, um die russische Wirtschaft auf Marktsignale reagieren zu lassen.
Der große Wirtschaftsraum wächst aufgrund gestärkter zentraler Autorität, anlaufender Reformen und erfolgreicher Remonetarisierung der Wirtschaft nach der Finanzkrise vom August 1998 wieder zusammen und lässt einen Nachfragesog entstehen, auf den das Angebot mit Produktions- und Investitionsausweitungen reagiert. Ohne Ausbau und Festigung marktwirtschaftlicher Institutionen sowie von Instrumenten einer ordnungspolitisch adäquaten und den russischen Bedingungen angepassten Prozess- und Strukturpolitik dürften eine größere Stetigkeit der Wachstumsdynamik und mehr Gleichgewicht in den Entwicklungsproportionen aber kaum zu erreichen sein. Damit bleibt die Frage nach dem Fortschritt der ökonomischen Systemtransformation in Russland auf der Tagesordnung.