Aus der Geschichte Lehren ziehen – diese heute weitgehend selbstverständliche Einstellung begründete die Entstehung des heutigen Menschenrechtssystems. Als mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges das Ausmaß der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik in allen Details bekannt wurde, zog die Staatengemeinschaft daraus die Konsequenz, dass fundamentale Rechte von Individuen im internationalen Recht verankert werden mussten. Bürgerinnen und Bürger sollten sich gegenüber der jeweiligen Regierung darauf berufen und ihre Rechte nötigenfalls einklagen können. Diese Erkenntnis mündete in die Gründungscharta der Vereinten Nationen (UN) 1945 und die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte 1948 sowie 1966 in die Verabschiedung eines Zivilpaktes und eines Sozialpaktes. Damit wurde der Schutz der Menschenrechte global verrechtlicht: Präzise Regelungen wurden verbindlich festgeschrieben und Verfahren geschaffen, durch die sich Individuen gegen die Verletzung ihrer bürgerlichen und sozialen Rechte wehren konnten. Besonders bemerkenswert ist dabei, dass Staaten mit dem Beitritt zu den Menschenrechtspakten und der Ratifikation der Zusatzprotokolle bewusst eine Einschränkung in ihrer Souveränität akzeptierten. Bürgerinnen und Bürger haben nun die Möglichkeit, vor den Fachausschüssen einzelner Verträge Beschwerde einzulegen, wenn ihre Rechte durch ihren Staat verletzt wurden (Individualbeschwerdeverfahren). Außerdem verpflichteten sich die Vertragsstaaten, mindestens alle fünf Jahre über die Situation der Menschenrechte auf ihrem eigenen Territorium zu berichten (Staatenberichtsverfahren). Durch diese Regelungen wurden erstmals Mechanismen zur umfassenden Dokumentation von Menschenrechtsverletzungen und Beschwerdeinstanzen für Individuen jenseits des eigenen Staates geschaffen.
QuellentextInternationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte
Diskriminierungsverbot
Recht auf Leben
Verbot der Folter und grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe
Verbot der Sklaverei, Leibeigenschaft, Zwangsarbeit
Recht auf persönliche Freiheit und Sicherheit
Recht auf Freizügigkeit
Gleichheit vor dem Gesetz, Unschuldsvermutung, faires Gerichtsverfahren, verfahrensrechtliche Mindestgarantien, Doppelstrafverbot
Rückwirkungsverbot
Anerkennung als Rechtsperson
Schutz vor Eingriffen in die Privatsphäre
Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit
Recht auf unbehinderte Meinungsfreiheit und freie Meinungsäußerung
Recht auf Versammlungsfreiheit
Recht auf Vereinigungsfreiheit
Recht auf Heirat und Familiengründung; Schutz der Familie
Rechte von Kindern auf Schutz
Recht von Staatsbürgern auf Mitwirkung an Gestaltung öffentlicher Angelegenheit, auf freie Wahlen und auf Zugang zu öffentlichen Ämtern
Politik & Unterricht, 3/4–2014, S. 5
QuellentextInternationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte
Diskriminierungsverbot
Recht auf Arbeit
Recht auf gerechte und günstige Arbeitsbedingungen (angemessener Lohn, gleiches Entgelt für gleiche Arbeit, sichere und gesunde Arbeitsbedingungen, Arbeitspausen, angemessene Begrenzung der Arbeitszeit, bezahlter Urlaub, Vergütung gesetzlicher Feiertage)
Recht auf Gründung und Betätigung von Gewerkschaften
Recht auf soziale Sicherheit (Sozialversicherung)
Schutz von Familien (Gründung, Erziehung), Müttern (Mutterschaftsurlaub) und Kindern (vor wirtschaftlicher und sozialer Ausbeutung)
Recht auf angemessenen Lebensstandard (ausreichende Nahrung, Bekleidung, Unterkunft und Wasser*) und Recht auf Schutz vor Hunger
Recht auf erreichbares Höchstmaß an körperlicher und geistiger Gesundheit
Recht auf Bildung (Grundschulpflicht, offener Zugang zu höheren Bildungseinrichtungen)
Recht auf Teilnahme am kulturellen Leben und auf Teilhabe an den Errungenschaften des wissenschaftlichen Fortschritts sowie Schutz geistiger Urheberrechte
* Das Recht auf Wasser ist nicht explizit erwähnt, wird aber im Wesentlichen aus dem Recht auf angemessenen Lebensstandard und dem Recht auf Gesundheit hergeleitet und wurde später durch UN-Resolutionen bekräftigt.
Politik & Unterricht, 3/4–2014, S. 5
Doch schnell wurde klar: Das Unterzeichnen von Konventionen und Verpflichtungserklärungen reicht nicht aus, um Menschenrechte durchzusetzen. Denn trotz dieser beträchtlichen Anzahl präziser und völkerrechtlich bindender Verträge werden weiterhin Menschenrechte durch Staaten verletzt. Menschenrechte sind aber universell gültig und sollten nicht vor staatlichen Grenzen Halt machen. Zu ihrem Schutz braucht es Regelungen jenseits nationaler Grenzen, eben globale Regulierungsformen, die auf staatliche Souveränität keine Rücksicht nehmen.
Um den Menschenrechtsschutz effektiv voranzutreiben, stehen der Staatengemeinschaft verschiedene Instrumente zur Verfügung. So wurden im Rahmen der Vereinten Nationen Institutionen geschaffen, die die Einhaltung der völkerrechtlichen Verträge überwachen sollen. 1994 wurde das UN-Hochkommissariat für Menschenrechte mit Sitz in Genf eingerichtet, das alle UN-Aktivitäten im Bereich Menschenrechtsschutz koordinieren soll (siehe unten). Außerdem wurde die 1946 eingerichtete UN-Menschenrechtskommission 2006 durch den UN-Menschenrechtsrat als Nachfolgegremium ersetzt, der ebenfalls in Genf residiert. Mit dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag wurde schließlich 2002 erstmals eine gerichtliche Instanz geschaffen, vor der auch Staatschefs für schwerste Menschenrechtsverletzungen zur Verantwortung gezogen werden können.
Zivilgesellschaftliche Akteure bilden eine wichtige Schnittstelle zwischen diesen internationalen Institutionen und den Menschen, deren Rechte verletzt wurden. Menschenrechtsorganisationen wie zum Beispiel Amnesty International oder Human Rights Watch sind oftmals die einzige Anlaufstelle für Betroffene. Sie prangern die jeweiligen Täter öffentlich an und bringen Menschenrechtsverletzungen auf die Agenda der internationalen Institutionen. Indem sie Rechtsverletzungen dokumentieren, liefern sie die Grundlage für Verfahren, mithilfe derer Staaten und Individuen zur Verantwortung gezogen werden können. Global Governance im Bereich der Menschenrechte zeichnet sich also durch ein Zusammenspiel zivilgesellschaftlicher, staatlicher und internationaler Akteure aus und ist unerlässlich für einen effektiven Menschenrechtsschutz. Denn trotz der umfassenden globalen Regelungen sind Menschenrechte heute immer noch stark gefährdet und benötigen kontinuierliche Anstrengungen zur erfolgreichen Umsetzung der Regelungen.
QuellentextDas globale Ausmaß der Folter
[…] Folter – verstanden als internationale Straftat, als politischer und diplomatischer Skandal, als Übergriff, der von fast allen Regierungen abgelehnt und rhetorisch oder in der Praxis verurteilt wird – findet im Verborgenen statt. Regierungen bemühen sich oftmals mehr darum, die Existenz von Folter abzustreiten oder zu vertuschen, als effektive und transparente Untersuchungen zu Foltervorwürfen einzuleiten und die TäterInnen vor Gericht zu stellen.
Folter ist in den meisten Ländern nur lückenhaft dokumentiert. Bei den Opfern handelt es sich oft um Tatverdächtige, die kaum Möglichkeiten haben, Beschwerde einzulegen, und die problemlos ignoriert oder zurückgewiesen werden können, wenn sie es doch tun. Häufig sind die Opfer auch nicht in der Lage oder zu verängstigt, um Folter zu melden, und glauben nicht daran, dass tatsächlich wirksame Maßnahmen ergriffen werden, sollten sie Anzeige erstatten.
[…] Alle Statistiken zu Folter – ob zur Zahl der Länder, in denen Folterfälle gemeldet wurden, oder zur zahlenmäßigen Entwicklung von Foltervorwürfen in einem bestimmten Land – sind mit Vorsicht zu behandeln.
Dennoch belegen die von Amnesty International gesammelten Beweise, die weltweite Recherche der Organisation und ihre Erfahrungen, die sie in mehr als fünf Jahrzehnten der Dokumentation und des Kampfes gegen diese Misshandlung gewonnen hat, dass Folter – 30 Jahre nach Verabschiedung der UN-Antifolterkonvention – weiter auf dem Vormarsch ist.
In den vergangenen fünf Jahren hat Amnesty International über Folter und andere Formen der Misshandlung in mehr als drei Vierteln aller Länder berichtet. In einigen kommt es nur vereinzelt zu Fällen von Folter und anderen Misshandlungen, in vielen ist Folter jedoch noch immer an der Tagesordnung.
Zwischen Januar 2009 und März 2014 hat Amnesty International Berichte über Folter und andere Misshandlungen durch Staatsbedienstete aus 141 Ländern erhalten. Dies sind nur die Fälle, die der Organisation bekannt wurden, daher spiegeln sie nicht das gesamte Ausmaß der Folter weltweit wider. Da in diesen Statistiken nur Fälle berücksichtigt werden, die sich belegen lassen, ist das tatsächliche Ausmaß vermutlich bedeutend größer.
Amnesty International (Hg.), Folter 2014. 30 Jahre gebrochene Versprechen. Bericht zur weltweiten Anwendung von Folter 30 Jahre nach Verabschiedung der Antifolterkonvention der Vereinten Nationen, Berlin, 16. Mai 2014, S. 6
Menschenrechtsschutz durch zentrale Organisationen
UN-Menschenrechtsrat und UN-Hochkommissariat für Menschenrechte
Auch der UN-Menschenrechtsrat trägt maßgeblich zu mehr Global Governance im Menschenrechtsschutz bei. Obwohl seine Entscheidungen weiterhin ausschließlich von Staatenvertretern getroffen werden, ist die Kooperation mit Nichtregierungsorganisationen (NGOs) inzwischen aus der Arbeit des Rates nicht mehr wegzudenken. So können Organisationen mit Sonderberaterstatus (special consultative status) im Wirtschafts- und Sozialausschuss der UN-Generalversammlung (ECOSOC) die Themensetzung der jährlichen Ratstreffen beeinflussen, indem sie zum Beispiel Eingaben zu einzelnen Agendapunkten und in Verhandlungen einreichen. Um zu überwachen, wie gut Menschenrechte geschützt werden, errichtet der Rat spezielle Arbeitsgruppen im Rahmen von Unterausschüssen, beispielsweise zu den Rechten von Minderheiten. An deren Treffen nehmen auch externe Menschenrechtsorganisationen teil.
Außerdem wurde im Rahmen des Menschenrechtsrates ein bisher einmaliger globaler Überwachungsmechanismus geschaffen, das Universal Periodic Review (UPR). Dabei reicht der jeweilige Staat einen 20-seitigen Bericht ein, der die aktuelle Menschenrechtslage im eigenen Territorium zusammenfasst. Dieser Bericht wird ergänzt durch jeweils zehn Seiten mit Informationen von UN-Organisationen und unabhängigen, externen Organisationen. Im Rahmen des UPR können also NGOs und nationale Menschenrechtsinstitutionen Beschwerden über Menschenrechtsverletzungen beim UN-Hochkommissariat einreichen, die dann im Berichtsverfahren berücksichtigt werden. Zwar dürfen NGOs an der UPR-Arbeitsgruppe und deren "Interaktiven Dialogen" mit Staatenvertretern nicht teilnehmen. Dennoch können sie zumindest anschließend zu den Berichten Stellung nehmen, noch bevor die Empfehlungen durch den Rat verabschiedet werden. Bis zum Jahr 2011 wurde jeder UN-Mitgliedstaat diesem Überwachungsverfahren einmal unterzogen, seitdem folgen weitere Überprüfungen.