Obwohl der deutsche Begriff "Rechtsstaat" – anders als etwa sein englisches Pendant "rule of law" – das Wort "Staat" in sich trägt, lässt sich die Idee der Rechtsstaatlichkeit auch auf gemeinschaftliche Organisationsformen anwenden, die gerade kein Staat sind. Ein solcher Anwendungsfall ist die Europäische Union (EU).
Grundlagen des europäischen Rechtsstaatsprinzip
Ähnlich wie das Grundgesetz die Bundesrepublik Deutschland auf eine rechtsstaatliche Ordnung festlegt, macht dies auch die Europäische Verfassung für die EU.
Der Begriff Europäische Verfassung meint dabei die aktuellen vertraglichen Grundlagen der EU, auf die sich deren Mitgliedstaaten gemeinsam geeinigt haben. Dabei handelt es sich um den Vertrag über die Europäische Union (EUV), den Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) und die Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRCh). In ihrer Gesamtheit werden diese zwischenstaatlichen Verträge auch als Primärrecht der EU bezeichnet. Der EUV, der AEUV und die GRCh sind zwar nicht mit dem Begriff der "Verfassung" überschrieben. Tatsächlich ist der Versuch einer ausdrücklichen europäischen Verfassungsgebung im Jahr 2005 sogar gescheitert. Nichtsdestotrotz erfüllt das Primärrecht heute nahezu alle Funktionen, die eine Verfassung üblicherweise kennzeichnen. Es als Verfassung zu bezeichnen, ist daher richtig.
Die zentrale Rechtsnorm des europäischen Rechtsstaatsprinzips ist Art. 2 EUV. Dieser erwähnt die Rechtsstaatlichkeit ausdrücklich und weist sie neben der Menschenwürde, der Freiheit, der Demokratie und den Menschenrechten als einen Grundwert der EU aus.
Art. 2 EUV
Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Diese Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet.
Die Verankerung der Rechtsstaatlichkeit an solch prominenter Stelle in der Europäischen Verfassung offenbart, dass die EU die Rechtsstaatlichkeit als eine fundamentale Grundentscheidung ihrer eigenen Organisation begreift. Damit knüpft die EU an die liberalen europäischen Verfassungstraditionen ihrer Mitgliedstaaten an. Diesen historischen Kontext betont die Präambel des EUV, die von "dem kulturellen, religiösen und humanistischen Erbe Europas, aus dem sich die unverletzlichen und unveräußerlichen Rechte des Menschen sowie Freiheit, Demokratie, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit als universelle Werte entwickelt haben", spricht.
In seinen zentralen Zielen orientiert sich auch das in der Europäischen Verfassung vorgesehene Rechtsstaatsprinzip an der oben aus theoretischer Perspektive erörterten Rechtsstaatsidee. Dem europäischen Rechtsstaatsprinzip geht es also ebenfalls um die Begründung und Begrenzung öffentlicher Gewalt zum Zwecke einer freiheitlichen Gestaltung des europäischen Gemeinwesens.
Das in Art. 2 EUV nur sehr allgemein niedergelegte europäische Rechtsstaatsprinzip hat (mittlerweile) einige Konkretisierung erfahren. Diese zeigt sich nicht nur in zahlreichen Rechtsnormen der Europäischen Verfassung, sondern auch in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH). Zu den heute anerkannten Elementen des europäischen Rechtsstaatsprinzips gehören unter anderem die allgemeine Gleichheit vor dem Gesetz, die Rechtsbindung der öffentlichen Gewalt, das institutionelle Gleichgewicht (entspricht weitestgehend der Idee der Gewaltenteilung), die Rechtssicherheit, der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, die Bereitstellung eines effektiven Rechtsschutzes sowie die Staatshaftung. Es existieren also einige Parallelen zu den oben bereits ausführlich erörterten Elementen des deutschen Rechtsstaatsprinzips.
Rechtsnormen der Europäischen Verfassung, die das europäische Rechtsstaatsprinzip konkretisieren, finden sich beispielsweise in Art. 5 Abs. 4 EUV, Art. 19 Abs. 1 EUV, Art. 340 AEUV oder Art. 47 GRCh. So bindet Art. 5 Abs. 4 EUV die Ausübung öffentlicher Gewalt an den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, Art. 19 Abs. 1 EUV sieht die Einrichtung des Gerichtshofs der Europäischen Union vor und legt damit das Fundament für die Möglichkeit des Rechtsschutzes auch auf europäischer Ebene, Art. 340 AEUV regelt die Haftung öffentlicher Gewalt und Art. 47 GRCh garantiert den effektiven Rechtsschutz und ein faires Verfahren vor einem unabhängigen Gericht.
(© infochart.de/Peter Diehl)
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Art. 5 Abs. 4 EUV
(4) Nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gehen die Maßnahmen der Union inhaltlich wie formal nicht über das zur Erreichung der Ziele der Verträge erforderliche Maß hinaus.
Art. 19 Abs. 1 EUV
(1) Der Gerichtshof der Europäischen Union umfasst den Gerichtshof, das Gericht und Fachgerichte. Er sichert die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Verträge.
Art. 340 AEUV
Die vertragliche Haftung der Union bestimmt sich nach dem Recht, das auf den betreffenden Vertrag anzuwenden ist.
Im Bereich der außervertraglichen Haftung ersetzt die Union den durch ihre Organe oder Bediensteten in Ausübung ihrer Amtstätigkeit verursachten Schaden nach den allgemeinen Rechtsgrundsätzen, die den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gemeinsam sind. […]
Art. 47 GRCh
Jede Person, deren durch das Recht der Union garantierte Rechte oder Freiheiten verletzt worden sind, hat das Recht, nach Maßgabe der in diesem Artikel vorgesehenen Bedingungen bei einem Gericht einen wirksamen Rechtsbehelf einzulegen.
Jede Person hat ein Recht darauf, dass ihre Sache von einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird. Jede Person kann sich beraten, verteidigen und vertreten lassen. […]
Doppelte Adressaten des europäischen Rechtsstaatsprinzips
Die Besonderheit des europäischen Rechtsstaatsprinzips liegt in seiner doppelten Stoßrichtung. Das europäische Rechtsstaatsprinzip richtet sich an zwei Adressaten: sowohl an die EU selbst (als Inhaberin eigener öffentlicher Gewalt) als auch an ihre Mitgliedstaaten.
Dies liegt an der besonderen Konstruktion der EU als quasiföderaler Staatenverbund. In der Europäischen Verfassung haben sich die EU-Mitgliedstaaten auf eine übergeordnete Rechtsordnung geeinigt, mit der sie nicht lediglich die EU errichten und organisieren. Sie haben vielmehr auch eine Rechtsordnung erschaffen, die sie selbst als EU-Mitgliedstaaten unmittelbar verpflichtet. Sowohl die EU als internationale Organisation als auch die EU-Mitgliedstaaten müssen daher jeweils in ihren inneren Strukturen den Anforderungen des europäischen Rechtsstaatsprinzips gerecht werden. Für die Bundesrepublik Deutschland bedeutet dies, dass die rechtsstaatlichen Anforderungen aus der Europäischen Verfassung also neben die rechtsstaatlichen Anforderungen aus dem Grundgesetz treten.
Dabei gilt es jedoch zu beachten, dass es den noch immer souveränen EU-Mitgliedstaaten – anders als den Gliedstaaten eines echten föderalen Bundesstaates (beispielsweise den Ländern der Bundesrepublik Deutschland oder den Bundesstaaten der USA) – grundsätzlich freisteht, die EU wieder zu verlassen. Dies veranschaulichte 2020 der Austritt des Vereinigten Königreichs.
Die EU als Adressatin
Erste Adressatin des europäischen Rechtsstaatsprinzips ist – wie bereits aufgeführt – die EU selbst. Die EU ist zwar kein Staat, sondern eine von Staaten gegründete internationale Organisation. Weil jedoch für die Anwendbarkeit der Rechtsstaatsidee nicht die Staatlichkeit einer Gemeinschaft, sondern allein ihre Organisation durch öffentliche Gewalt maßgeblich ist, steht dies hier nicht entgegen.
Entscheidend ist allein, dass auch die EU eigenständig öffentliche Gewalt ausübt (sog. Unionsgewalt). Durch die europäischen Verträge haben sich die 27 EU-Mitgliedstaaten so eng zusammengeschlossen, dass sie dabei auch Teile ihrer eigenen staatlichen Kompetenz zur Ausübung öffentlicher Gewalt auf die EU übertragen haben. So setzen, vollziehen und sprechen die Organe der EU heute in breitem Umfang verbindliches Unionsrecht – auch in und für die EU-Mitgliedstaaten. Dies ist etwa der Fall, wenn der Ministerrat und das Europäische Parlament eine in Deutschland unmittelbar geltende neue Roaming-Verordnung erlassen, die zusätzliche Gebühren für das Telefonieren im europäischen Ausland verbietet. Eine Ausübung öffentlicher Unionsgewalt liegt aber beispielsweise auch dann vor, wenn die Europäische Kommission die Rechtswidrigkeit einer von der Bundesrepublik Deutschland an ein in Deutschland ansässiges Unternehmen gezahlten Subvention feststellt oder der EuGH auf Antrag des betroffenen Unternehmens eben diese Feststellung im Nachhinein wieder aufhebt.
Weil die EU in ihrer Gesamtkonstruktion zur Ausübung öffentlicher Gewalt imstande ist, können die in Art. 2 EUV geregelten rechtsstaatlichen Anforderungen somit sinnvollerweise auch an die EU gerichtet werden. Dass die EU diesen rechtsstaatlichen Anforderungen auch genügt, zeigt sich etwa darin, dass die öffentliche Unionsgewalt in einem institutionellen Gleichgewicht auf verschiedene Organe verteilt ist, oder beispielsweise darin, dass eine durch die Unionsgewalt erlassene Verordnung bei Verstößen gegen die Europäische Verfassung für nichtig erklärt wird.
Die rechtsstaatliche Organisation der EU ist interessanterweise nicht nur ein Anspruch der Europäischen Verfassung. Auch einige Verfassungen der EU-Mitgliedstaaten erklären die Rechtsstaatlichkeit der EU zu einer Grundvoraussetzung für ihre Mitwirkung am europäischen Integrationsprojekt. So stellt etwa Art. 23 Abs. 1 GG die Mitwirkung der Bundesrepublik Deutschland an der EU unter die Bedingung ihrer rechtsstaatlichen Ausgestaltung.
Art. 23 Abs. 1 GG
(1) Zur Verwirklichung eines vereinten Europas wirkt die Bundesrepublik Deutschland bei der Entwicklung der Europäischen Union mit, die demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen und dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtet ist und einen diesem Grundgesetz im wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleistet. […]
Vergleichbare Regelungen finden sich etwa auch in der portugiesischen oder in der slowenischen Verfassung.
Die EU-Mitgliedstaaten als Adressaten
Neben der EU selbst adressiert das europäische Rechtsstaatsprinzip aber eben auch die EU-Mitgliedstaaten. Die EU versteht sich als eine Wertegemeinschaft. Dem Verbundcharakter der EU entsprechend müssen daher, wie bereits erläutert, auch die EU-Mitgliedstaaten rechtsstaatlich organisiert sein. Dieser Anspruch an die EU-Mitgliedstaaten kommt in Art. 2 Satz 2 EUV zum Ausdruck, der die in Satz 1 genannten Werte ausdrücklich als "allen Mitgliedstaaten [...] gemeinsam" beschreibt. Das europäische Rechtsstaatsprinzip wirkt damit aus der Verfassungsordnung der EU in die Verfassungsordnungen ihrer Mitgliedstaaten hinein. Diese vertikale Dimension des europäischen Rechtsstaatsprinzips schränkt einerseits zwar die mitgliedstaatliche Autonomie nicht unwesentlich ein, andererseits stellt sie gleichzeitig einen gewissen Wertegleichklang der EU-Mitgliedstaaten untereinander sicher. Konkret bedeutet dies, dass die EU-Mitgliedstaaten durch die Europäische Verfassung, der sie sich durch ihren Beitritt freiwillig unterworfen haben, dazu verpflichtet sind, ihre interne Staatsstruktur dauerhaft an den Anforderungen des europäischen Rechtsstaatsprinzips aus Art. 2 EUV auszurichten.
Dieser in Art. 2 EUV zum Ausdruck kommende Ansatz einer "homogenen" europäischen Wertegemeinschaft spiegelt sich auch in Art. 49 EUV, der bereits den Beitritt zur EU an bestimmte (rechtsstaatliche) Voraussetzungen knüpft.
Art. 49 EUV
Jeder europäische Staat, der die in Artikel 2 genannten Werte achtet und sich für ihre Förderung einsetzt, kann beantragen, Mitglied der Union zu werden. […]
Nach Art. 49 EUV sind also die Achtung der Werte des Art. 2 EUV und der Einsatz für ihre Förderung zentrale Voraussetzung für einen Beitritt zur EU. Bezogen auf das europäische Rechtsstaatsprinzip bedeutet dies, dass ein Beitritt zur EU stets auch ein bestimmtes Niveau der Rechtsstaatlichkeit in dem beitrittswilligen Staat voraussetzt. Vor der Einführung der Art. 2 und 49 EUV hatte der Europäische Rat die Voraussetzungen für einen Beitritt zur EU noch in den "Kopenhagener Kriterien" festgelegt. Diese dienen auch heute noch als zentraler Orientierungspunkt für die Bewertung der Beitrittsfähigkeit potenzieller neuer Mitglieder der EU.
QuellentextKopenhagener Kriterien (Europäischer Rat am 21./22. Juni 1993)
(© picture-alliance, dpa-infografik, Globus 015 269; Quellen: Bundeszentrale für politische Bildung, Bundesregierung, EU; Stand März 2022)
(© picture-alliance, dpa-infografik, Globus 015 269; Quellen: Bundeszentrale für politische Bildung, Bundesregierung, EU; Stand März 2022)
"Als Voraussetzung für die Mitgliedschaft muß der Beitrittskandidat eine institutionelle Stabilität als Garantie für demokratische und rechtsstaatliche Ordnung, für die Wahrung der Menschenrechte sowie die Achtung und den Schutz von Minderheiten verwirklicht haben; sie erfordert ferner eine funktionsfähige Marktwirtschaft sowie die Fähigkeit, dem Wettbewerbsdruck und den Marktkräften innerhalb der Union standzuhalten. Die Mitgliedschaft setzt außerdem voraus, daß die einzelnen Beitrittskandidaten die aus einer Mitgliedschaft erwachsenden Verpflichtungen übernehmen und sich auch die Ziele der politischen Union sowie der Wirtschafts- und Währungsunion zu eigen machen können. Die Fähigkeit der Union, neue Mitglieder aufzunehmen, dabei jedoch die Stoßkraft der europäischen Integration zu erhalten, stellt ebenfalls einen sowohl für die Union als auch für die Beitrittskandidaten wichtigen Gesichtspunkt dar."
EU-Gipfel am 21. und 22. Juni 1993 in Kopenhagen. Hier wurden Kriterien zur Ost-Erweiterung der EU festgelegt.
Rechtsstaatskrise und rechtsstaatliche Resilienz der EU
In den vergangenen Jahren ist die europäische Wertegemeinschaft jedoch unter Druck geraten. Dabei spielt das Erstarken rechtspopulistischer Parteien in einigen EU-Mitgliedstaaten eine bedeutsame Rolle. Die (defizitäre) rechtsstaatliche Organisation einiger EU-Mitgliedstaaten ist so zu einem zentralen Konfliktfeld innerhalb der EU geworden. Oft wird in diesem Zusammenhang von einer Rechtsstaatskrise der EU gesprochen.
Ungarn und Polen
Die Epizentren dieser europäischen Rechtsstaatskrise sind die EU-Mitgliedstaaten Polen und Ungarn. Unter den national-konservativen Regierungen der ungarischen Partei Fidesz und der polnischen Partei Prawo i Sprawiedliwość (PiS) hat in beiden EU-Mitgliedstaaten eine Erosion der Rechtsstaatlichkeit stattgefunden. Diese zeigt sich vor allem in einer Aushöhlung der Gewaltenteilung, der Rechtsbindung der öffentlichen Gewalt und des effektiven Rechtsschutzes. Die komplexen Begebenheiten können hier jedoch nur in ihren Grundzügen wiedergegeben werden.
Bei den Wahlen des Jahres 2010 erlangte die ungarische Fidesz überraschend eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament. Auf Grundlage dieser zur Änderung der Verfassung fähigen Mehrheit leitete die Fidesz sodann – unter anderem mit der Verabschiedung einer gänzlich neuen Verfassung im Jahr 2011 – umfassende Strukturreformen im Bereich der Verfassungsgerichtsbarkeit und des allgemeinen Justizwesens ein. So ermöglichte etwa eine gezielte Vergrößerung des ungarischen Verfassungsgerichts die Besetzung der neu geschaffenen Stellen mit parteinahen Verfassungsrichterinnen und -richtern. Gleichzeitig wurde das Verfassungsgericht in seinen Möglichkeiten einer verfassungsrechtlichen Überprüfung von Gesetzen erheblich beschnitten und so die rechtsstaatlich wichtige Kontrolle der ungarischen Legislative stark zurechtgestutzt. Der Fidesz gelang es außerdem, auch im übrigen Justizwesen durch die strategische Absenkung des richterlichen Ruhestandsalters etwa 10 Prozent aller Richterinnen und Richter zu entlassen und diese Stellen im Anschluss in ihrem Sinne neu zu besetzen. Dazu nutzten sie unter anderem ein neu geschaffenes Nationales Gerichtsamt, dessen – zuvor mit den Stimmen der Fidesz gewählter – Präsident über die Neubesetzung von Richterinnen- und Richterstellen mitentscheiden und damit gezielt zugunsten der Fidesz auf die Auswahl einwirken konnte.
Auch in Polen kam es nach dem Wahlsieg der PiS im Jahr 2015 zu weitreichenden Umgestaltungen und Beeinträchtigungen des Justizwesens. So gelang es der PiS über das neu gewählte Parlament zunächst bereits bestehende Nominierungen für freiwerdende Richterinnen- und Richterstellen am polnischen Verfassungsgericht zu annullieren. Die noch von der Vorgängerregierung vorgeschlagenen Kandidatinnen und Kandidaten wurden so durch eigene, parteitreue Richterinnen und Richter ersetzt. Verfassungsgerichtliche Urteile zur Rechtswidrigkeit dieser Besetzungsverfahren ignorierte die polnische Regierung. Weiterhin wurden die prozessualen Anforderungen für die Überprüfung von Gesetzen durch das polnische Verfassungsgericht stark erhöht und die verfassungsgerichtliche Überprüfung der Gesetzgebung damit erschwert. Diverse weitere Schwächungen des Verfassungsgerichts folgten. Mittlerweile hat sich die polnische Regierung das Verfassungsgericht weitestgehend gefügig gemacht. Am Obersten Gericht – der höchsten Instanz in Zivil- und Strafsachen – wurden durch strukturelle Veränderungen sogar 37 Prozent der (unliebsamen) amtierenden Richterinnen und Richter in den Ruhestand versetzt. Außerdem wurden zwei neue Kammern geschaffen: erstens eine Disziplinarkammer, die mit den Mitteln des Disziplinarrechts polnische Richterinnen und Richter an einem Ausscheren von der Parteilinie der PiS hindern soll, und zweitens eine Sonderkammer, die abgeschlossene Verfahren jeder Instanz der vergangenen 20 Jahre wiederaufnehmen und neu entscheiden kann. Zugleich wurde der politische Einfluss des polnischen Parlaments auf den für die Richterinnen- und Richterauswahl besonders bedeutsamen Nationalen Justizrat erhöht. Mit dem Erlass eines teilweise umgangssprachlich als "Maulkorbgesetz" bezeichneten Gesetzes wurde die Möglichkeiten der disziplinarrechtlichen Kontrolle unliebsamer polnischer Richterinnen und Richter zuletzt sogar noch weiter ausgebaut. Aufgrund anhaltenden Drucks der EU trat im Juli 2022 zwar ein Gesetz zur Auflösung der besonders umstrittenen Disziplinarkammer in Kraft. Rechtsstaatliche Bedenken an der Unabhängigkeit der polnischen Justiz, deren Ausräumung die auf die Auszahlung von europäischen Corona-Hilfsgeldern hoffende PiS-Regierung hiermit anstrebte, bestehen jedoch fort.
Verschiedene europäische Institutionen haben sich bereits zu den rechtsstaatlichen Entwicklungen in Ungarn und Polen geäußert. Sowohl der EuGH als auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) haben Polen zur Zahlung von Zwangsgeldern bzw. Entschädigungen verurteilt. Auch die Venedig-Kommission – ein wichtiges Beratungsgremium des Europarats – äußerte sich in einem Dringlichkeitsgutachten äußerst kritisch zu den Vorgängen in Polen. Ungarn und Polen haben diese Vorwürfe stets zurückgewiesen. Zuletzt ging das mittlerweile von der PiS kontrollierte polnische Verfassungsgericht dabei sogar so weit, festzustellen, dass die Europäische Verfassung insoweit in Polen keinen Anspruch auf Wirksamkeit mehr erheben könne. Aus der Perspektive des europäischen Rechtsstaatsprinzips handelt es sich dabei um eine rote Linie, weil damit die polnische Bindung an die Europäische Verfassung in ihrem Grundsatz in Frage gestellt wird.
(© Bergmoser + Höller Verlag AG, Zahlenbild 714 070)
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Trotz aller kultureller, historischer und politischer Unterschiede zwischen Ungarn und Polen sind die rechtsstaatlich defizitären Entwicklungen in beiden EU-Mitgliedstaaten ähnlich gelagert. Im Zentrum des Handelns beider EU-Mitgliedstaaten steht eine systematische Schwächung der Kontrolle von Exekutive und Legislative durch die Judikative – sei es durch die Installation parteitreuer Amtsträger (Anpassung von Ruhestandsregelungen, Annullierung bestehender Richternominierungen, Einflussnahme auf Neubesetzungen), die Sicherstellung parteilinienkonformer Amtsführung (Disziplinarkammer), die Beschneidung judikativer Kompetenzen oder die Errichtung verfahrensrechtlicher Hürden (jeweils Erschwerung der Kontrolle von Gesetzen). Unabhängige Gerichte, die der Ausübung öffentlicher Gewalt Einhalt gebieten können, werden als Einfallstor für die Manipulation politischer Prozesse begriffen. Die Demokratie wird dabei schlicht (und fälschlicherweise) als der Prozess einer gänzlich ungehinderten Machtausübung der Mehrheit begriffen.
In den Bestrebungen der Fidesz und der PiS zeigt sich eine mitunter offene Ablehnung der liberalen (rechtsstaatlichen) Werte der EU. Aufschlussreich sind insoweit die Ausführungen des früheren polnischen Außenministers Witold Waszczykowski: "Als müsse sich die Welt nach marxistischem Vorbild automatisch in nur eine Richtung bewegen – zu einem neuen Mix von Kulturen und Rassen, eine Welt aus Radfahrern und Vegetariern, die nur noch auf erneuerbare Energien setzen und gegen jede Form der Religion kämpfen. Das hat mit traditionellen polnischen Werten nichts mehr zu tun." Ähnliche Tendenzen zeigt die Aussage des ehemaligen polnischen Botschafters in Berlin, Andrzej Przyłębski: "Rechtsstaatlichkeit, Unabhängigkeit der Justiz, Demokratie, Wahrung der Menschenrechte und Pressefreiheit […], alle diese Werte werden in Polen gepflegt. Das Problem ist die Interpretation. Brüssel ist zu sehr ideologisch geprägt." Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán beschrieb in einer Rede im Jahr 2014 seine Vision von der Zukunft Ungarns sogar ausdrücklich als "illiberale Demokratie" und meinte damit wohl eine Staatsform, in der zwar noch demokratische Wahlen abgehalten werden, die aus diesen Wahlen hervorgehende Regierung danach jedoch nur in reduzierter Weise rechtlichen Beschränkungen (insbesondere durch Menschenrechte) unterliegt.
QuellentextDie Dinge beim Namen nennen: Undemokratisch und nicht illiberal
Wo Sprache ist, da ist auch Subtext. Unausgesprochenes, Mitgedachtes. Vor allem dort, wo Sprache politisch wird. Zur Analyse dieser Subtexte hat sich in der Forschung in den vergangenen Jahren das Konzept des Framings etabliert. Framing meint einen Assoziations- und damit Deutungsrahmen für Begriffe: Wer zum Beispiel "Zitrone" hört, denkt vermutlich an "sauer" oder "gelb". Dieser Gedankenschluss lässt sich politisch instrumentalisieren. Frames definieren nämlich oft ein Problem – und liefern, wenigstens implizit, auch gleich die passende Lösung. Bei einem Begriff wie "Flüchtlingsstrom" sieht man vor dem geistigen Auge vermutlich große Menschenmassen heranrauschen. Eine Naturgewalt und darin ein Bedrohungsszenario. Was die vermeintliche Lösung "Abschottung" nahelegt.
Viele verwenden den Begriff illiberale Demokratie. Er ist eine feste Größe in der politischen Debatte und wird zum Beispiel regelmäßig mit Bezug auf Polen oder Ungarn, aber auch Russland, verwendet. Ungarns Premierminister Victor Orbán erklärte schon 2014, dass er einen illiberalen Staat aufbauen wolle.
Der Begriff suggeriert zwei gegensätzliche Demokratiemodelle. Das liberale Modell beruht auf Gewaltenteilung und Minderheitenrechten, das illiberale Modell hat eine starke Regierung, die den Mehrheits- oder vermeintlichen Volkswillen gegen eine liberale Elite durchsetzt. So oder ähnlich beschreiben auch liberale Wissenschaftler den Unterschied […].
Victor Orbán suggeriert, dass eine illiberale Demokratie nicht nur etwas mit dem Staatsaufbau zu tun hat, sondern auch für bestimmte illiberale oder konservative Politikentscheidungen steht: Zum Beispiel gegen Einwanderung und gegen die gleichgeschlechtliche Ehe.
Der Begriff schillert also zwischen der Idee eines starken Staats mit schwacher Gewaltenteilung und konservativen Politikentscheidungen. Politiker wie Orbán, die ihn positiv gebrauchen, behaupten, die liberale Demokratie sei von einer liberalen Clique beherrscht und sie ersticke in "politischer Korrektheit". Ohne echte Meinungsfreiheit sei sie im Ergebnis keine echte Demokratie. Sie sei überhaupt ermüdet und nicht mehr in der Lage, die Interessen der Nation zu schützen.
Es entsteht der Eindruck, dass sich das Verständnis von Demokratie aufgeteilt hat. Selbst Liberale beschreiben Ungarn oder Polen, manchmal sogar Russland, als illiberale Demokratie. Staaten also, die irgendwie anders sind, aber unterm Strich trotzdem Demokratien. […]
Der Begriff der "illiberalen Demokratie" macht unsichtbar, dass in Ungarn und Polen die Demokratie abgebaut wird. Als die polnische Regierungspartei die Rechte der Opposition im Parlament beschnitt, konnte diese sich nicht mehr, wie sonst, mit Aussicht auf Erfolg an das Verfassungsgericht wenden – das wird inzwischen von der Regierung kontrolliert. Eine Demokratie misstraut nicht ihren eigenen Bürger und der Opposition, sondern erleichtert es ihnen, ihre Rechte vor unabhängigen Gerichten durchzusetzen. Die Gleichschaltung von Gerichten ist entsprechend nicht illiberal, sondern undemokratisch.
Im Übrigen geht das Problem über die Gerichte hinaus: Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa kritisierte, dass bei den […] Parlamentswahlen [im April 2018] in Ungarn die Grenzen zwischen Regierungspartei und Staat so überlappten, dass die Opposition nicht mehr auf Augenhöhe konkurrieren kann. Die sogenannten illiberalen Demokratien haben also ein fundamentales Demokratieproblem.
Es gibt illiberale Politikentscheidungen, zum Beispiel gegen die gleichgeschlechtliche Ehe oder für restriktive Einwanderungsgesetze. Das ließe sich illiberale Politik nennen, sie ist aber nicht undemokratisch, wenn eine Mehrheit so entschieden hat. Wenn aber Regierungsparteien den Staat umbauen, um die Gerichte und die Medien zu kontrollieren, und wenn Bürgergruppen schikaniert werden, sollte man von einer beschädigten Demokratie sprechen, die zum autoritären Staat werden kann. Kurz: Ein illiberaler Staat ist oft undemokratisch oder autoritär. Undemokratisch oder autoritär sind die passenden Begriffe.
Nils Meyer-Ohlendorf und Michael Meyer-Resende sind Mitgründer von Democracy Reporting International, einer unabhängigen Organisation, die sich weltweit für politische Partizipation und Entwicklung von demokratischen Institutionen einsetzt.
Nils Meyer-Ohlendorf / Michael Meyer-Resende, "Nicht 'illiberal', sondern undemokratisch", in: Süddeutsche Zeitung vom 9. Oktober 2018
Resilienzen
Die EU steht einer Erosion ihrer in Art. 2 EUV niedergelegten Werte, insbesondere der Rechtsstaatlichkeit, jedoch nicht wehrlos gegenüber. Zuvorderst sieht die Europäische Verfassung in Art. 7 EUV ein politisches Verfahren vor, das Werteverstöße durch EU-Mitgliedstaaten konkret sanktionieren kann. Dieses politische Sanktionsverfahren ist aber nicht das einzige Mittel der EU, um auf die Einhaltung des europäischen Rechtsstaatsprinzips in den verschiedenen EU-Mitgliedstaaten hinzuwirken. Mit dem Vertragsverletzungsverfahren sieht die Europäische Verfassung daneben auch ein gerichtliches Verfahren vor, mit dem die Einhaltung unionsrechtlicher Verpflichtungen überprüft werden kann. Zusätzlich hat die EU mittlerweile – gerade auch als Antwort auf die Rechtsstaatskrise in Ungarn und Polen – weitere, spezifisch auf den Schutz der Rechtsstaatlichkeit zielende Mechanismen eingeführt: den Rechtsstaatlichkeitsmechanismus, den Rahmen zur Stärkung des Rechtsstaatsprinzips, den Bericht zur Rechtsstaatlichkeit und das Justizbarometer.
Politisches Sanktionsverfahren: Das wegen der weitreichenden möglichen Folgen auch als "schärfstes Schwert der EU" bezeichnete Sanktionsverfahren sieht einen gestuften Mechanismus vor, mit dem die EU auf schwerwiegende Verletzungen der in Art. 2 EUV genannten Grundwerte durch einen EU-Mitgliedstaat reagieren kann. Entscheidend ist, dass es sich auf allen Verfahrensstufen um ein politisches Verfahren handelt. Dies bedeutet, dass sich sowohl die Einleitung als auch das Betreiben und die Einstellung des Verfahrens in den politischen Institutionen der EU (Europäische Kommission, Europäisches Parlament, Europäischer Rat und Ministerrat) abspielen und auch nur dort verhandelt wird. Das Sanktionsverfahren ist in Art. 7 EUV geregelt.
Art. 7 EUV
(1) Auf begründeten Vorschlag eines Drittels der Mitgliedstaaten, des Europäischen Parlaments oder der Europäischen Kommission kann der Rat mit der Mehrheit von vier Fünfteln seiner Mitglieder nach Zustimmung des Europäischen Parlaments feststellen, dass die eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der in Artikel 2 genannten Werte durch einen Mitgliedstaat besteht. […]
(2) Auf Vorschlag eines Drittels der Mitgliedstaaten oder der Europäischen Kommission und nach Zustimmung des Europäischen Parlaments kann der Europäische Rat einstimmig feststellen, dass eine schwerwiegende und anhaltende Verletzung der in Artikel 2 genannten Werte durch einen Mitgliedstaat vorliegt, nachdem er den betroffenen Mitgliedstaat zu einer Stellungnahme aufgefordert hat.
(3) Wurde die Feststellung nach Absatz 2 getroffen, so kann der Rat mit qualifizierter Mehrheit beschließen, bestimmte Rechte auszusetzen, die sich aus der Anwendung der Verträge auf den betroffenen Mitgliedstaat herleiten, einschließlich der Stimmrechte des Vertreters der Regierung dieses Mitgliedstaats im Rat. […]
In einem ersten Schritt wird die bloße Gefahr der Verletzung eines in Art. 2 EUV aufgeführten Grundwertes der EU festgestellt. Dieser Feststellung kommt zunächst eine Warnfunktion zu. Sie soll die Möglichkeit der Einleitung des eigentlichen Sanktionsverfahrens ankündigen und den betroffenen EU-Mitgliedstaat eindringlich zum Ergreifen von Maßnahmen zum Schutz der bedrohten europäischen Grundwerte auffordern.
In einem zweiten Schritt wird dann festgestellt. ob tatsächlich ein Grundwert in einem EU-Mitgliedstaat verletzt wurde. Erforderlich hierfür ist ein systemisches Defizit von gewisser Intensität – so wie es, wie bereits beschrieben, gegenwärtig für die Rechtsstaatlichkeit in Ungarn und Polen der Fall ist. Eine nur punktuelle Verletzung eines europäischen Grundwertes reicht nicht aus.
Erst in einem dritten Schritt wird auf Grundlage der vorherigen Feststellung darüber, dass tatsächlich eine Grundwerteverletzung vorliegt, eine Sanktion verhängt. Diese Sanktion kann sogar in einer Aussetzung der Stimm- und Teilhaberechte des jeweiligen EU-Mitgliedstaates bestehen. Ein Ausschluss des betroffenen EU-Mitgliedstaates aus der EU ist hingegen nicht möglich.
Eine Besonderheit des Sanktionsverfahrens sind die hohen erforderlichen Mehrheiten bei den Abstimmungen (Abstimmungsquoren). Die Feststellung der Gefahr einer Grundwerteverletzung (erster Schritt) erfordert eine Vier-Fünftel-Mehrheit in dem durch die EU-Mitgliedstaaten besetzten Ministerrat. Die Feststellung des Vorliegens einer Grundwerteverletzung (zweiter Schritt) verlangt sogar die Einstimmigkeit in dem ebenfalls durch die EU-Mitgliedstaaten besetzten Europäischen Rat. Die tatsächliche Aussetzung der Stimm- und Teilhaberechte (dritter Schritt) setzt dann wieder "nur" eine qualifizierte Mehrheit im Ministerrat voraus. Zwar ist der betroffene EU-Mitgliedstaat logischerweise in allen Schritten von der Abstimmung ausgeschlossen. Dies schließt – gerade bei parallelen Verfahren gegen mehrere EU-Mitgliedstaaten – jedoch nicht aus, dass sich Allianzen bilden, die den Sanktionsmechanismus gezielt sabotieren. Insbesondere die für den zweiten Schritt erforderliche Einstimmigkeit im Europäischen Rat hat sich dabei als politische "Achillesferse" des Sanktionsverfahrens herausgestellt.
Im Zuge der Rechtsstaatskrise sind gegen Ungarn und Polen in den Jahren 2017 und 2018 mehrere Sanktionsverfahren eingeleitet worden. Aufgrund einer zwischen Ungarn und Polen bereits zugesicherten wechselseitigen Unterstützung (im Sinne einer Blockade) gelten diese Verfahren angesichts des Einstimmigkeitserfordernisses im Europäischen Rat jedoch als wenig aussichtsreich. Beide Verfahren sind daher vorerst auf der ersten Stufe zum Erliegen gekommen.
Gerichtliches Vertragsverletzungsverfahren: Das Vertragsverletzungsverfahren beim EuGH ist – anders als das Sanktionsverfahren – ein gerichtliches, kein politisches Verfahren. Geregelt ist es in Art. 258 und 259 AEUV. Das Verfahren kann von der Europäischen Kommission als "Hüterin der Europäischen Verfassung" eingeleitet werden. In diesem, die allgemeine Regel bildenden Fall wird von einer Aufsichtsklage gesprochen. Das Verfahren kann aber auch, was seltener vorkommt, von einem EU-Mitgliedstaat eingeleitet werden. Dann handelt es sich um eine sogenannte Staatenklage.
Das Vertragsverletzungsverfahren endet mit der rechtlich verbindlichen Feststellung, dass eine Verletzung unionsrechtlicher Verpflichtungen vorliegt oder nicht vorliegt. Stellt der EuGH eine Verletzung unionsrechtlicher Verpflichtungen durch den beklagten EU-Mitgliedstaat fest, so muss der verurteilte Mitgliedstaat die festgestellte Verletzung abstellen. Kommt er dieser Pflicht nicht nach, so kann der EuGH auf Antrag der Europäischen Kommission finanzielle Sanktionen verhängen – mehr jedoch nicht.
Gegen Polen und Ungarn sind im Kontext der Rechtsstaatskrise bereits mehrere erfolgreiche Verfahren geführt worden. So stellte der EuGH beispielsweise im Jahr 2021 fest, dass die Beeinträchtigungen des polnischen Justizwesens gegen Polens rechtsstaatliche Verpflichtungen aus der Europäischen Verfassung verstoßen. Die Arbeit der umstrittenen Disziplinarkammer zur Maßregelung von Richterinnen und Richtern sei abzuschaffen. Bereits entlassene Richter müssten wieder eingestellt werden. Weil sich Polen jedoch weigerte, die Entscheidungen des EuGH zu den umstrittenen Justizreformen umzusetzen, verurteilte dieser Polen im Oktober 2021 zur Zahlung eines Zwangsgeldes in Höhe von einer Million Euro täglich. Eine solch hohe Summe wurde zuvor noch gegen keinen anderen EU-Mitgliedstaat verhängt.
Rechtsstaatlichkeitsmechanismus: Neben den in der Europäischen Verfassung angelegten allgemeinen Verfahren zum Schutz der europäischen Wertegemeinschaft hat die EU mit dem Rechtsstaatlichkeitsmechanismus jüngst einen neuen Mechanismus geschaffen, der spezifisch auf die Sicherung der Rechtsstaatlichkeit in den EU-Mitgliedstaaten abzielt. Die rechtliche Grundlage des Rechtsstaatlichkeitsmechanismus ist die Verordnung 2020/2092 des Europäischen Parlaments und des Ministerrates vom 16. Dezember 2020. Weil dieser neue Rechtsstaatlichkeitsmechanismus die Auszahlung von Geldern aus dem europäischen Haushalt nun an die Existenz eines gewissen Niveaus an Rechtsstaatlichkeit in den EU-Mitgliedstaaten knüpft, die mitgliedstaatliche Rechtsstaatlichkeit also zu einer Bedingung für die Zuwendung europäischer Finanzmittel macht, wird er auch als "Konditionalitätsmechanismus" bezeichnet.
Art. 1 VO 2020/2092
In dieser Verordnung sind die Regeln festgelegt, die zum Schutz des Haushalts der Union im Falle von Verstößen gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit in den Mitgliedstaaten erforderlich sind.
Art. 3 VO 2020/2092
Für die Zwecke dieser Verordnung kann Folgendes ein Hinweis auf Verstöße gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit sein:
a) die Gefährdung der Unabhängigkeit der Justiz;
b) das Versäumnis, willkürliche oder rechtswidrige Entscheidungen von Behörden einschließlich Strafverfolgungsbehörden, zu verhüten, zu korrigieren oder zu ahnden, die ihre ordnungsgemäße Arbeit beeinträchtigende Einbehaltung finanzieller und personeller Ressourcen oder das Versäumnis, sicherzustellen, dass keine Interessenkonflikte bestehen;
c) die Einschränkung der Zugänglichkeit und Wirksamkeit von Rechtsbehelfen, auch mittels restriktiver Verfahrensvorschriften und der Nichtumsetzung von Gerichtsentscheidungen oder der Einschränkung der wirksamen Untersuchung, Verfolgung oder Ahndung von Rechtsverstößen.
Art. 4 VO 2020/2092
(1) Geeignete Maßnahmen sind zu ergreifen, wenn […] festgestellt wird, dass Verstöße gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit in einem Mitgliedstaat die wirtschaftliche Führung des Haushalts der Union oder den Schutz ihrer finanziellen Interessen hinreichend unmittelbar beeinträchtigen oder ernsthaft zu beeinträchtigen drohen.
Kernvoraussetzung für die Aktivierung des Rechtsstaatlichkeitsmechanismus ist dabei allerdings nicht "irgendein" Verstoß gegen das europäische Rechtsstaatsprinzip, sondern ein Verstoß, der – wie in Art. 4 dargelegt – die wirtschaftliche Führung des Haushalts der Union oder den Schutz ihrer finanziellen Interessen hinreichend unmittelbar beeinträchtigt oder ernsthaft zu beeinträchtigen droht.
(© LUFF / Baaske Cartoons Müllheim)
(© LUFF / Baaske Cartoons Müllheim)
Im Jahr 2021 hatten Polen und Ungarn sich mit einer Klage vor dem EuGH gegen die dem Rechtsstaatlichkeitsmechanismus zugrunde liegende europäische Verordnung gewendet. Beide Staaten argumentierten, dass der Rechtsstaatlichkeitsmechanismus die strengen Anforderungen an eine Sanktionierung im Rahmen des Sanktionsverfahrens nach Art. 7 EUV aushöhle. Diesem Vorbringen trat der EuGH im Jahr 2022 jedoch entgegen: Der Rechtsstaatlichkeitsmechanismus diene – anders als das Sanktionsverfahren – nicht primär der Bestrafung von Verstößen gegen den europäischen Grundwert der Rechtsstaatlichkeit, sondern dem Schutz des europäischen Haushalts vor einer den Zielen und Werten der EU widersprechenden Nutzung europäischer Finanzmittel. Kurz darauf wurde der Rechtsstaatlichkeitsmechanismus mit der formellen Einleitung eines Verfahrens gegen Ungarn im April 2022 erstmals ausgelöst.
Monitoringsysteme: Neben solchen "harten" Maßnahmen, die eine konkrete sanktionierende Wirkung entfalten, existieren auch "weiche" Maßnahmen, die auf die Beobachtung und Prävention rechtsstaatsgefährdender Tendenzen gerichtet sind.
Mit dem sogenannten Rahmen zur Stärkung des Rechtsstaatsprinzips hat die EU im Jahr 2014 ein strukturiertes Dialogverfahren eingeführt, das aufkommenden Gefahren für die Rechtsstaatlichkeit in einem EU-Mitgliedstaat früh entgegenwirken soll. Im Rahmen dieses Verfahrens bewertet die Europäische Kommission die Entwicklungen der Rechtsstaatlichkeit eines EU-Mitgliedstaates, formuliert Empfehlungen und begleitet deren Umsetzung. Bislang ist der Rahmen zur Stärkung des Rechtsstaatsprinzips nur einmal angewandt worden. Dies war im Jahr 2016 in Bezug auf Polen. Obwohl sämtliche Verfahrensstufen durchlaufen wurden, konnte eine weitgehende Erosion der Rechtsstaatlichkeit in Polen aber, wie bereits erläutert, nicht verhindert werden.
Darüber hinaus bemüht sich die EU darum, die Entwicklung der Rechtsstaatlichkeit in ihren Mitgliedstaaten transparent zu machen. Zwei Instrumente, die in diesem Zusammenhang besonders herausragen, sind der Bericht zur Rechtsstaatlichkeit und das Justizbarometer. Mit dem Bericht zur Rechtsstaatlichkeit veröffentlicht die Europäische Kommission seit 2020 jährlich eine Bewertung der Rechtsstaatlichkeit in den Mitgliedstaaten. Das Justizbarometer liefert seit 2013 Daten zur Unabhängigkeit, Qualität und Effizienz der mitgliedstaatlichen Justizsysteme.
QuellentextDas EU-Justizbarometer 2022
Die Europäische Kommission hat heute mit dem EU-Justizbarometer 2022 die zehnte Ausgabe dieses Instrumentariums veröffentlicht, das einen Jahresüberblick mit vergleichbaren Daten über die Effizienz, Qualität und Unabhängigkeit der Justizsysteme in allen Mitgliedstaaten liefert. […]
Die wichtigsten Ergebnisse des Justizbarometers 2022 im Überblick:
Spielraum für Verbesserungen bei der Digitalisierung der Justizsysteme: […] Mehrere Mitgliedstaaten haben neue Maßnahmen ergriffen, um ein ordnungsgemäßes Funktionieren der Gerichte und einen fortlaufenden und einfachen Zugang zur Justiz für alle zu gewährleisten. Dennoch zeigten die Ergebnisse des Justizbarometers 2022, dass die Mitgliedstaaten die Reformen zur Modernisierung in diesem Bereich beschleunigen müssen. So besteht insbesondere in einigen Mitgliedstaaten noch Verbesserungsbedarf.
Kein gleichberechtigter Zugang zur Justiz für Menschen mit Behinderungen: Im EU-Justizbarometer 2022 wird erstmals eine Bestandsaufnahme der bestehenden Regelungen zur Unterstützung von Menschen mit Behinderungen beim gleichberechtigten Zugang zur Justiz vorgenommen. Wenngleich alle Mitgliedstaaten zumindest einige (verfahrenstechnische) Vorkehrungen getroffen haben, so bietet nur die Hälfte der Mitgliedstaaten auch Brailleschrift oder Gebärdensprache auf Anfrage an.
Die Wahrnehmung der Unabhängigkeit der Justiz in der Bevölkerung nach wie vor problematisch: In 17 Mitgliedstaaten hat sich die Wahrnehmung der Unabhängigkeit der Justiz durch die breite Öffentlichkeit gegenüber 2016 verbessert. Seit dem letzten Jahr jedoch ist die von der breiten Öffentlichkeit wahrgenommene Unabhängigkeit der Justiz in 14 Mitgliedstaaten zurückgegangen. In einigen wenigen Mitgliedstaaten ist die Wahrnehmung der Unabhängigkeit der Justiz jedoch nach wie vor besonders gering.
Vorhandene Garantien zur Stärkung des Anlegervertrauens: Was den Zugang zur Justiz und seine Auswirkungen auf das Anlegervertrauen, das Unternehmensumfeld und das Funktionieren des Binnenmarkts anbelangt, so enthält das Justizbarometer 2022 auch Daten zur Verwaltungseffizienz, zu rechtlichen Garantien in Bezug auf Verwaltungsentscheidungen und zum Vertrauen in den Investitionsschutz. Die Ergebnisse zeigen, dass Unternehmen in fas allen Mitgliedstaaten eine finanzielle Entschädigung für Schäden erhalten können, die durch Verwaltungsentscheidungen oder die Untätigkeit der Verwaltung verursacht wurden, und die Gerichte können die Vollstreckung von Verwaltungsentscheidungen auf Antrag aussetzen. […]
Hintergrund
Das im Jahr 2013 erstmals erschienene EU-Justizbarometer ist Teil des Instrumentariums der EU, mit dem die Kommission die Justizreformen in den Mitgliedstaaten begleitet. Das Justizbarometer konzentriert sich auf die drei Hauptbausteine eines leistungsstarken Justizsystems:
Effizienz: Indikatoren für Verfahrensdauer, Verfahrensabschlussquote und Zahl der anhängigen Verfahren;
Qualität: Indikatoren für die Zugänglichkeit der Justiz, wie z. B. Prozesskostenhilfe und Gerichtsgebühren, Schulungen, finanzielle und personelle Ausstattung und Digitalisierung;
Unabhängigkeit: Indikatoren für die Wahrnehmung der richterlichen Unabhängigkeit in der breiten Öffentlichkeit und in Unternehmen, den Schutz von Richtern und die Garantien in Bezug auf die Arbeit der nationalen Strafverfolgungsbehörden.
Wie in früheren Ausgaben werden in der Ausgabe 2022 Daten aus zwei Eurobarometer-Umfragen vorgestellt, in denen es darum geht, wie die Unabhängigkeit der Justiz in den einzelnen Mitgliedstaaten von der Öffentlichkeit und den Unternehmen wahrgenommen wird.
Die Ergebnisse des EU-Justizbarometers 2022 sind in die länderspezifische Bewertung im Rahmen des Europäischen Semesters 2022 sowie in die Bewertung der Resilienz- und Aufbaupläne der Mitgliedstaaten eingeflossen, in denen die aus der Aufbau- und Resilienzfazilität zu finanzierenden Investitions- und Reformmaßnahmen aufgeführt sind. In der Jährlichen Strategie für nachhaltiges Wachstum 2021, in der die strategischen Leitlinien für die Implementierung der Aufbau- und Resilienzfazilität festgelegt sind und mit der sichergestellt wird, dass sich die neue Wachstumsagenda auf eine ökologische, digitale und nachhaltige Erholung stützt, wird auf die Verbindung zwischen leistungsfähigen Justizsystemen und dem Unternehmensumfeld in den Mitgliedstaaten hingewiesen. Gut funktionierende und vollständig unabhängige Justizsysteme wirken sich positiv auf Investitionsentscheidungen und die Schnelligkeit aller Akteure bei der Einleitung von Investitionsprojekten aus.
Im Rahmen des Programms "Justiz" 2021–2027 stellt die EU über 300 Mio. EUR für die Weiterentwicklung eines europäischen Rechtsraums bereit. Dies wird auch dazu beitragen, die Wirksamkeit der nationalen Justizsysteme zu verbessern und die Rechtsstaatlichkeit, die Demokratie und den Schutz der Grundrechte zu stärken, unter anderem durch die Gewährleistung eines effektiven Zugangs zur Justiz für die Bürgerinnen und Bürger und die Unternehmen. Mit dem Programm werden die Aus- und Fortbildung von Richtern und anderen Angehörigen der Rechtsberufe, gegenseitiges Lernen, die justizielle Zusammenarbeit und Sensibilisierungsmaßnahmen finanziert.
Europäische Kommission, "EU-Justizbarometer 2022: Zehn Jahre Beobachtung der Effizienz der Justizsysteme", Pressemitteilung vom 19. Mai 2022