Die Entwicklung der Rechtsstaatlichkeit war stets eng mit den großen sozialen Umbrüchen der Menschheitsgeschichte verbunden – allem voran sei hier auf die Aufklärung und ihre politischen Revolutionen als Ursprünge der modernen Idee rechtsstaatlicher Ordnung verwiesen. Dies wird auch für das 21. Jahrhundert gelten, in dem sich die Rechtsstaatlichkeit vor allem mit den Auswirkungen der digitalen Revolution auseinandersetzen und arrangieren muss.
Bei der digitalen Revolution handelt es sich im Wesentlichen um den gegen Ende des 20. Jahrhunderts begonnenen Prozess der erheblichen Beschleunigung des Fortschritts im Bereich der Informations- bzw. Computertechnologie (Hardware) und der damit verbundenen Programme (Software), die Erfindung und globale Verbreitung des Internets sowie die jüngsten Entwicklungen im Bereich der künstlichen Intelligenz. Diese Digitalisierung im weiteren Sinne wirkt heute in nahezu alle Bereiche des wirtschaftlichen, politischen, wissenschaftlichen, sozialen und kulturellen menschlichen (Zusammen-)Lebens hinein.
Auch für die Rechtsstaatlichkeit, der es um die freiheitliche, insbesondere von Anarchie und Tyrannei befreite Organisation von Gemeinschaften geht, ist die digitale Revolution von erheblicher Bedeutung. Dabei schafft die Digitalisierung nicht nur Chancen, sondern birgt in mindestens gleichem Maße auch Risiken für den Rechtsstaat.
Digitale Gewinne für Rechtsordnung und Staatsgewalt
Zugänglichkeit der Rechtsordnung
Ein Blick auf den rechtsstaatlichen Aspekt einer funktionierenden und gut zugänglichen Rechtsordnung zeigt, dass die Digitalisierung durchaus Potenziale für eine weitere Verbesserung der Rechtsstaatlichkeit bereithält.
Heute haben alle Bürgerinnen und Bürger über ihre Computer, insbesondere auch ihre Smartphones und den damit verbundenen Internetzugang die Möglichkeit, sich schnell und unmittelbar über die geltenden Gesetze zu informieren oder im Parlamentsfernsehen die Prozesse der Rechtsetzung selbst mitzuverfolgen. Die Rechtsordnung wird für die Menschen so greifbarer und nachvollziehbarer. Auch die Rechtspflege und die Rechtswissenschaft profitieren vom vereinfachten Zugriff auf bestehendes juristisches Wissen im Internet und der vernetzten wissenschaftlichen Auseinandersetzung.
Einen wesentlichen Beitrag zur Stärkung einer funktionierenden Rechtsordnung kann auch die sogenannte Rechtsinformationstechnologie (legal tech) leisten. Als Kombination aus den Begriffen legal services und technology beschreibt legal tech den Einsatz der Digitalisierung für das juristische Arbeiten. Schon heute werden einige rechtliche Dienstleistungen nicht mehr unmittelbar durch Anwältinnen und Anwälte erbracht, sondern in automatisierten digitalen Prozessen. Dies betrifft etwa die standardisierte Gestaltung von Verträgen oder die Erstellung einfacher Klageschriften für die Einleitung von Gerichtsverfahren. Perspektivisch könnte die Nutzbarmachung von legal tech sogar noch wesentlich weiter gehen und über die Lernprozesse künstlicher Intelligenz sogar komplexere rechtsanwaltliche Beratungsleistungen ersetzen. Soweit gesichert ist, dass bei der Nutzung von legal tech die Qualität der rechtlichen Dienstleistungen nicht auf der Strecke bleibt, kann so der Zugang zu rechtlichen Dienstleistungen für Bürgerinnen und Bürger einfacher, effizienter und kostengünstiger gestaltet werden. Für den Rechtsstaat ist dies von Vorteil.
Beispiel Fluggastrechte: Besonders deutlich werden die heute bereits bestehenden Möglichkeiten von legal tech etwa bei den im Internet existierenden Verbraucherportalen für Fluggastrechte. So können Geschädigte einer Flugverspätung oder eines Flugausfalls mit der Eingabe weniger Daten zunächst in kürzester Zeit eine Einschätzung der Aussichten eines rechtlichen Vorgehens erlangen und ihre Rechte dann im Anschluss vollautomatisiert geltend machen. Die Arbeit leisten dabei nicht etwa Anwältinnen oder Anwälte, sondern eine zuvor (natürlich mithilfe von Anwältinnen und Anwälten) programmierte Software, welche aufgrund der Vielzahl der vorhandenen Daten zur Rechtslage und Rechtsprechung zügig und zuverlässig entscheiden kann, mit welcher Wahrscheinlichkeit eine Klage erfolgreich sein wird.
Digitalisierung der Verwaltung
Aber nicht nur im Bereich der Zugänglichkeit der Rechtsordnung für die Bürgerinnen und Bürger können sich positive Effekte der Digitalisierung ergeben. Auch die mit der Ausführung und Durchsetzung der Rechtsordnung betraute staatliche Exekutivgewalt kann von der Digitalisierung profitieren.
Ein solcher Fall liegt vor, wenn Digitalisierungsprozesse in der Verwaltung die Umsetzung geltenden Rechts vereinfachen und beschleunigen. Dies kann ganz praktische Dinge betreffen, wie die Möglichkeit, Anträge bei Behörden digital zu stellen und deren anschließend ebenfalls automatisiert ablaufende Bescheidung – etwa im Bereich von einfachen Bauanträgen und -genehmigungen. Die Digitalisierung kann aber auch hochkomplexe Maßnahmen der Verwaltung, etwa der Polizeibehörden im Bereich der Gefahrenabwehr, umfassen.
(© DER SPIEGEL GmbH & Co. KG)
(© DER SPIEGEL GmbH & Co. KG)
Beispiel predictive policing: Ein Beispiel für diesen hochkomplexen Einsatz digitaler Prozesse im Bereich der polizeilichen Gefahrenabwehr bildet die sogenannte vorhersagende Polizeiarbeit (predictive policing). Auf der Grundlage einer Vielzahl durch Polizeibehörden eingespeister orts- und personenbezogener Falldaten ermittelt dabei eine Software zeitliche und örtliche Wahrscheinlichkeiten zukünftiger Straftaten. Anhand dieser Prognosen kann dann der gezielte Einsatz von Polizeikräften effektiver organisiert werden. Einige deutsche Länder wenden diese digital gestützte Vorgehensweise bereits (in Pilotprojekten) erfolgreich an. Dies betrifft bisher vor allem zeitliche und örtliche Prognosen von Wohnungseinbrüchen.
Nichtsdestotrotz gilt es sich klarzumachen, dass jedenfalls solche Entscheidungen im Bereich der Ausführung und Durchsetzung des Rechts, die in erheblichem Umfang auf menschliches Ermessen angewiesen sind, aus rechtsstaatlicher Perspektive gegenwärtig (noch) nicht befriedigend durch digitale Prozesse ersetzt werden können. Die Entwicklungen im Bereich der künstlichen Intelligenz sind noch nicht so weit fortgeschritten, dass dem Einzelfall gerecht werdende und vor allem auch für die Bürgerinnen und Bürger transparent nachvollziehbare Ermessensentscheidungen möglich sind. Deutlich wird dies beispielsweise bei der zwingend auf menschliche Empathie angewiesenen Entscheidung eines Jugendamtes über die Einleitung von Maßnahmen wegen der Gefährdung des Wohles eines Kindes.
Digitalisierung der Justiz
In besonderem Maße könnte die Digitalisierung auch im Bereich der Justiz der Rechtsstaatlichkeit zugutekommen. Dies gilt vor allem dort, wo digitale Lösungen die Arbeit der notorisch überlasteten Justiz beschleunigen und so den Zugang der Bürgerinnen und Bürger zu zügiger gerichtlicher Streitbeilegung verbessern können. Ähnliches gilt für die Digitalisierung der Staatsanwaltschaften und die daraus resultierende Beschleunigung strafrechtlicher Ermittlungen und Anklageerhebungen. Zu nennen sind dabei insbesondere die innerhalb der deutschen Justiz (wenn auch langsam) anlaufende Einführung elektronischer Akten oder die Durchführung von Gerichtsverhandlungen per Videoschalte. Hinzu kommen die stetig fortschreitenden Möglichkeiten für Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte, auf elektronischem Wege mit der Justiz zu kommunizieren und auch ihre Schriftsätze in elektronischer Form einzureichen. All dies hilft dem Rechtsstaat in seinen bereits erläuterten Elementen.
QuellentextRechtsberatung per App
Urlaubsflug verspätet, aber die Fluggesellschaft will keine Entschädigung zahlen? Ärger mit dem Vermieter über notwendige Schönheitsreparaturen? Oft scheuen Verbraucher den Gang zur Rechtsanwältin oder zum Rechtsanwalt – auch weil Gerichtsprozesse langwierig und teuer werden können. Im Durchschnitt wird erst geklagt, wenn es um mindestens 1840 Euro geht. Das hat eine Umfrage des Allensbach-Instituts ergeben.
Seit ein paar Jahren bieten spezialisierte Internetdienstleister Verbrauchern schnellere und billigere Hilfe bei juristischem Ärger: sogenannte Legaltechs […] haben erkannt, dass es sich bei den meisten Streitigkeiten um juristische Massenware handelt, die sich immer stärker automatisch bearbeiten lässt. Manchmal geht das sogar per App: Dokumente hochladen, Sachverhalt schildern, fertig. […]
Nun könnte die Automatisierung des Rechts einen weiteren Schritt vorankommen. Der Bundesgerichtshof (BGH) entscheidet am […] [8. September 2021] über ein Legaltech namens Smartlaw. Es will keine Streitfälle lösen – sondern diese von vornherein verhindern.
Smartlaw ist ein digitaler Vertragsgenerator, der Verbrauchern Fragen stellt und online rechtssichere Dokumente erstellt: Miet- und Kaufverträge, Vollmachten, Patientenverfügungen und Testamente. Doch Verträge zu gestalten gehört – ebenso wie Gerichtsprozesse zu führen – zur klassischen Arbeit von Rechtsanwälten: Sie erstellen die Dokumente angepasst an die Bedürfnisse ihrer jeweiligen Mandanten. Genau darum geht es nun vor dem BGH.
Die Hanseatische Rechtsanwaltskammer aus Hamburg klagt gegen Smartlaw. Dem Gesetz nach dürfen nämlich nur Anwälte juristische Dienstleistungen erbringen, die eine rechtliche Prüfung im Einzelfall erfordern. "Komplexe Verträge können nicht standardisiert erstellt werden", sagt Kammerpräsident Christian Lemke. "Die konkreten Bedürfnisse der Mandanten brauchen eine individuelle Beratung durch einen Anwalt oder eine Anwältin."
Die Macher von Smartlaw argumentieren, dass der Vertragsgenerator mithilfe von Rechtsanwältinnen entwickelt worden sei. Bei Steuererklärungen gebe es ja auch standardisierte Unterstützung per Software – warum also nicht auch bei Verträgen?
Als "digitale Hilfe zur Selbsthilfe" bezeichnet Dirk Hartung, Legaltech-Experte an der Bucerius Law School in Hamburg, das neue Angebot. Es sei vergleichbar mit Musterverträgen oder Formularhandbüchern, die man in jeder Buchhandlung kaufen kann. Hartung hält das für zulässig. "Meine eigenen rechtlichen Angelegenheiten zu regeln, kann, sollte und braucht mir der Staat nicht verbieten. Wenn meine juristische Lage doch komplizierter ist, als Smartlaw abbilden kann, gehe ich einfach zum Anwalt."
Wie bei jeder Innovation geht es natürlich auch um wirtschaftliche Interessen. Aus Sicht von Verbraucherinnen und Verbrauchern ist der Unterschied gewaltig. So liegt der durchschnittliche Stundensatz eines Rechtsanwalts bei 180 Euro, so lange kann die Prüfung eines Mietvertrags dauern. Smartlaw verkauft Abos. Für 3,90 Euro monatlich erhalten private Nutzer Zugriff auf 80 gängige Vertragstypen.
Schon bei den ersten Legaltechs hatte es immer Streit ums Geld gegeben. Firmen […], die Schadensersatz bei Fluglinien oder Autokonzernen eintreiben, arbeiten typischerweise gegen Provision. Scheitern sie, bezahlt der Verbraucher nichts. Haben Sie Erfolg, behalten die Anbieter bis zu 30 Prozent des Geldes. Anwälten war so etwas lange verboten, die Bundesrechtsanwaltskammer kritisiert dieses Modell bis heute. […] Im Oktober [2021] wird jedoch das Legaltech-Gesetz in Kraft treten, das Erfolgshonorare erleichtert.
Verbraucherschützerinnen begrüßen die Entwicklung von Legaltech-Angeboten grundsätzlich. Besser wäre es allerdings, der staatliche Schutz wäre so gut, dass viele Probleme gar nicht erst entstehen. Der Experte Dirk Hartung von der Bucerius Law School plädiert für Experimentierfreude: "Was den Verbraucherschutz am besten fördert, wissen wir nicht. Da hilft nur ausprobieren und die Zügel für die Rechtdienstleister in Deutschland etwas zu lockern."
[Der BGH erlaubte Smartlaw – Anm.d. Red.]
Paul Stegemann, "Lassen sich Juristen durch Software ersetzen?", in: ZEIT ONLINE vom 8. September 2021
Beispiel (COMPAS): Andernorts geht die Nutzung digitaler Anwendungen in der Justiz bereits ein ganzes Stück weiter. So setzen beispielsweise bereits eine Reihe von US-amerikanischen Bundesstaaten die Software COMPAS (Correctional Offender Management Profiling for Alternative Sanctions) ein. Auf der Grundlage der Beantwortung von circa 140 Fragen ermittelt die Software – unter Einbeziehung der Strafakte – eine Rückfallwahrscheinlichkeit der antwortenden Straftäterinnen und Straftäter. Die Ergebnisse dieses softwarebasierten Wahrscheinlichkeitswertes werden dann etwa bei der gerichtlichen Strafzumessung am Ende eines Strafverfahrens oder bei der Entscheidung über Anträge auf vorzeitige Haftentlassung berücksichtigt.
Die Software sieht sich jedoch einigen Vorwürfen ausgesetzt. So wird zum einen kritisiert, dass COMPAS von einem Privatunternehmen entwickelt wurde und deren Quellcode daher als Geschäftsgeheimnis insbesondere auch für die auf dieser Grundlage beurteilten Straftäterinnen und Straftäter nicht einsehbar ist. Dies genüge dem rechtsstaatlichen Grundsatz der Öffentlichkeit der Ausübung aller Staatsgewalt und einem fairen Verfahren nicht. Hinzu kommt, dass einige empirische Untersuchungen der Software zur Last legen, Ergebnisse zu produzieren, die eine überdurchschnittlich hohe (und insoweit nachweislich fehlerhafte) Rückfallwahrscheinlichkeit nicht-Weißer Straftäterinnen und Straftäter ausweisen. Legal tech kann demnach auch rassistische Stereotype und Diskriminierungen reproduzieren – oder: Auch eine Software ist nur so unvoreingenommen wie ihr Entwickler.
Perspektivisch sind allerdings auch noch wesentlich grundlegendere Einflüsse der Digitalisierung auf die Justiz denkbar. Vereinzelt wird etwa die Möglichkeit der teilweisen Ersetzung menschlicher Richterinnen und Richter durch künstliche Intelligenz diskutiert, um so zumindest einfachere Rechtsstreitigkeiten schneller zu entscheiden. Wie bereits bei der Einführung künstlicher Intelligenz im Bereich von verwaltungsrechtlichen Ermessensentscheidungen ausgeführt, ist jedoch auch hier darauf hinzuweisen, dass solche Szenarien angesichts der dafür notwendigen Entwicklungen im Bereich der künstlichen Intelligenz gegenwärtig schlicht unrealistisch sind. Es bestünden (neben erheblichen ethischen) auch rechtsstaatliche Bedenken. Diese beträfen etwa die Überwachung der Unabhängigkeit der (notwendigerweise durch einen Menschen programmierten) "Richter-Software". Auch würde sich in Bezug auf die Gewaltenteilung die Frage stellen, wer denn für die Programmierung der verwendeten Software und die weitere kontinuierliche Einspeisung der erforderlichen Daten zuständig wäre.
Das Herrschaftsmonopol im digitalen Raum
Die Digitalisierung ist der Staatsgewalt im Rechtsstaat jedoch nicht nur zu Diensten. Vielmehr stellt sie diese auch vor erhebliche neue Herausforderungen – so etwa, wenn es um das Herrschaftsmonopol des Staates im digitalen Raum geht. Dass in einem Rechtsstaat die Staatsgewalt die effektive und exklusive Zuständigkeit für die Setzung und Durchsetzung des geltenden Rechts für sich in Anspruch nimmt bzw. nehmen muss, wurde bereits erläutert. Sind diese Effektivität und Exklusivität nicht gewährleistet, kommt es zu chaotischen Zuständen und schon der rechtsstaatliche Ausgangspunkt einer allgemeinen, einheitlichen und unterschiedslos geltenden Rechtsordnung kann nur schwer verwirklicht werden.
Fehlende Effektivität
Während die Effektivität der Staatsgewalt in der Realität allerdings zumeist gewährleistet ist, gestaltet sich die Situation im digitalen Raum und dabei vor allem im Internet etwas anders.
Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG) regelt den Umgang der Betreiber von sozialen Netzwerken mit Hassrede und strafbaren Inhalten. Mit ihm können erstmals Bußgelder verhängt werden. (© picture-alliance, dieKLEINERT.de / Kos- tas Koufog|Kostas Koufogiorgos)
Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG) regelt den Umgang der Betreiber von sozialen Netzwerken mit Hassrede und strafbaren Inhalten. Mit ihm können erstmals Bußgelder verhängt werden. (© picture-alliance, dieKLEINERT.de / Kos- tas Koufog|Kostas Koufogiorgos)
Dies gilt vor allem für den Bereich der Verfolgung von Internetkriminalität. Wie in der analogen Welt werden auch im Internet Straftaten begangen. Dies betrifft in erheblichem Umfang zum Beispiel die Verletzung von Urheberrechten, die Abwicklung des Verkaufs illegaler Gegenstände, Verstöße gegen das Verbot der Verbreitung strafrechtlich relevanter Medien oder das Ausspähen von Daten. Das Internet ist aber keineswegs ein rechtsfreier Raum. Eine digitale Anarchie existiert gerade nicht. Die deutschen Strafgesetze gelten auch für Straftaten, die "im" Internet begangen werden (solange die Täterin oder der Täter deutsch ist, sich während der Tathandlung in Deutschland aufhält oder die Tat sich gegen eine deutsche Staatsbürgerin oder einen deutschen Staatsbürger richtet).
Anders als in der analogen Realität, fällt es der Staatsgewalt im Internet jedoch häufig schwer, die Durchsetzung des Rechts auch tatsächlich zu betreiben. Die Schwierigkeiten der staatlichen Rechtsdurchsetzung ergeben sich dabei aus einem Zusammenspiel unterschiedlicher Gründe. Diese liegen vor allem in der grundsätzlich globalen Struktur des Internets und der damit verbundenen Möglichkeit, dass Straftaten letztlich von jedem Ort der Welt aus begangen werden können, während die verschiedenen Staatsgewalten in ihrer Zuständigkeit auf ihre Territorien beschränkt sind. Hinzu treten die nach wie vor (auch in der Bundesrepublik Deutschland) bestehenden Möglichkeiten von Straftäterinnen und Straftätern, ihre Identitäten im Internet erfolgreich zu verschleiern.
Beispiel Hassrede und Hasskommentare: Ein aus rechtsstaatlicher Perspektive besonders unerfreuliches digitales Durchsetzungsproblem besteht etwa im Bereich von Hassrede und Hasskommentaren im Internet. Darunter wird etwa die Äußerung oder Verbreitung strafrechtlich relevanter, insbesondere extremistischer, rassistischer, antisemitischer, sexistischer, homophober, holocaustleugnender oder gewaltverherrlichender Sprache oder Bilder in sozialen Netzwerken, Onlineforen oder auf Blogs verstanden.
(© picture-alliance/dpa, dpa-infografik GmbH | Globus 015048)
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Statistisch gesehen stammen dabei über drei Viertel des Anteils an Hassrede aus dem rechtsextremen Spektrum. Nicht selten folgen auf die Hassrede im Internet auch Straftaten in der analogen Realität. Ein besonders schreckliches Beispiel hierfür ist die Ermordung des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke, der sich um die Unterbringung von Geflüchteten bemüht hatte. Der Ermordung durch einen Rechtsextremisten im Juni 2019 waren größte Mengen von rechtsextremer Hassrede im Internet vorausgegangen.
Selbst dort, wo Hassrede und Hasskommentare im Internet klar die Grenze zur Strafbarkeit überschreiten, fällt es den deutschen Strafverfolgungsbehörden jedoch mitunter schwer, die Täterinnen und Täter zu ermitteln bzw. auch strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen. Wie bereits erläutert, liegt dies zunächst teilweise darin begründet, dass sich die im Internet handelnden Täterinnen und Täter schlicht nicht in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten und damit dem direkten Zugriff der auf das deutsche Territorium beschränkten Strafverfolgungsbehörden entzogen sind. Zudem gelingt es gerade Täterinnen und Tätern aus dem extremistischen Spektrum immer wieder, ihre Identität im Internet zu verschleiern. Die Situation wird dadurch weiter verkompliziert, dass die Strafverfolgungsbehörden für die Ermittlung der Identität häufig auch auf die Mitwirkung der privaten Internetkonzerne angewiesen sind, die die sozialen Netzwerke betreiben. Diese sitzen jedoch überwiegend ebenfalls nicht in der Bundesrepublik Deutschland und zeigen sich (deshalb) häufig nur bedingt kooperativ. Hinzu kommt schließlich, dass die Menge von Hassrede und Hasskommentaren im Internet mittlerweile einen so immensen Umfang angenommen hat, dass die Strafverfolgungsbehörden personell nicht immer zu einer effektiven Verfolgung in der Lage sind – ein für den Rechtsstaat unhaltbarer Zustand.
QuellentextDer Mord an Walter Lübcke
Es ist der 14. Oktober 2015, 20 Uhr. Im Bürgerhaus der hessischen Gemeinde Lohfelden beginnt eine Versammlung, Thema ist eine Erstaufnahmeunterkunft des Landes für Flüchtlinge im ehemaligen Hornbach-Gartenmarkt im Ort. Walter Lübcke berichtet als Vertreter der Landesregierung über die Pläne. Es ist eine der vielen Informationsveranstaltungen, wie sie zu dieser Zeit an vielen Orten in Deutschland stattfinden. Die Behörden versuchen, mit den Menschen zu reden, ihnen zu erklären, wer in die Notunterkünfte in ihrer Nachbarschaft einziehen wird, woher die künftigen Bewohner kommen, wie lange sie bleiben werden. Aufklärung, so die Hoffnung, werde die Emotionen dämpfen, die Ängste verringern.
Doch Rechte nutzen diese Veranstaltungen für das Gegenteil. Sie wollen Angst schüren, wollen aufwiegeln. Auch in Lohfelden. Lübcke wird an diesem Abend immer wieder unterbrochen und beschimpft. Bis er diesen einen Satz sagt, von dem sich Rechte im ganzen Land provoziert fühlen und den sie nutzen, um Stimmung gegen ihn und gegen die Pläne der Regierung zu machen.
Noch am selben Tag wird ein knapp einminütiges Video der Veranstaltung auf YouTube hochgeladen. Es ist bis heute online. Der Ausschnitt ist kurz, er zeigt vor allem Lübckes Äußerung, man müsse für Werte eintreten, wer das nicht wolle, könne das Land jederzeit verlassen, das sei die Freiheit eines jeden. "Buh, Pfui, Verschwinde!", rufen Leute im Saal. In den Kommentaren unter dem Video werden viele eindeutiger. Sie zeugen von Hass. "Dreckiges Arschloch! Verpiss dich selber!", ist noch einer der harmloseren.
Am Tag darauf berichtet die extrem rechte und viel gelesene Website PI News über die Veranstaltung. Unter dem Artikel veröffentlicht PI News die Büroadresse Lübckes samt seiner Telefonnummer und seiner E-Mail-Adresse. Kommentiert ist das nicht, doch ganz offensichtlich ist das als Aufruf gemeint, diesem Menschen mal so richtig die Meinung zu sagen und zu schreiben. In einem zweiten Text wird das Video verbreitet mit dem Zusatz: "Sie sollten sich was schämen, Herr Lübcke!!! (Abgelegt unter Volksverräter)"
Andere rechte Medien greifen das am 16. Oktober auf, mit ähnlichem Tenor. […]
Lübckes Sprecher sagte damals laut Süddeutscher Zeitung, in der Zeit nach der Veranstaltung habe der Regierungspräsident eine Welle von Hassmails und Drohungen bekommen, auch aus dem Milieu sogenannter Reichsbürger. […]
Dabei hören die Beleidigungen an die Adresse des Regierungspräsidenten nie auf. […]
Immer wieder wird der einminütige Clip in den folgenden Jahren von unterschiedlichen Menschen auf YouTube veröffentlicht […].
[…] Am 2. Juni wird Walter Lübcke auf der Terrasse seines Hauses in den Kopf geschossen. Er stirbt wenig später im Krankenhaus.
Und noch immer posten Nutzer unter den YouTube-Videos Kommentare. Vor wenigen Tagen schrieb "Der teutonische Berserker82": "Ein Verräter weniger!! Aufrechte Deutsche werden ihm nicht eine Träne hinterher trauern."
[Anm. d. Red.: Im Januar 2021 befand das OLG Frankfurt den Hauptangeklagten Stephan E. im Mordfall Walter Lübcke für schuldig und verurteilte ihn zu lebenslanger Haft. Da alle Beteiligten (Angeklagte, Geschädigte, aber auch der Generalbundesanwalt) Rechtsmittel eingelegt hatten, soll im Sommer 2022 das Revisionsverfahren stattfinden.]
Kai Biermann / Frida Thurm: "Angestachelt zur Gewalt", in: DIE ZEIT vom 18. Juni 2019
QuellentextPolizeibehörden bei der Verfolgung von Hass im Netz
"Sie haben was im Internet gefunden? Vielleicht mal beim Verbraucherschutz fragen." Will man eine Straftat zur Anzeige bringen, ist eine solche Aussage vielleicht die letzte, die man in der zuständigen Polizeiwache hören möchte.
Trotzdem soll es sich so zugetragen haben, als eine Korrespondentin des "ZDF Magazin Royale" sieben Anzeigen zu unterschiedlichen Hasskommentaren aus dem Internet bei der Polizei in Sachsen-Anhalt anzeigen wollte. Der Polizeibeamte soll die Frau einfach weggeschickt haben, lehnte die Anzeige ab. Sie solle den Betreiber der Internetseite kontaktieren, sei ihr geraten worden. Die Kommentare seien zwar strafbar, "aber das ist doch keine Polizeiarbeit", erinnert sich die Korrespondentin an die Aussage des Beamten.
Im Vorfeld der Sendung hatte es zunächst Verwirrung gegeben, als Moderator Jan Böhmermann auf seinem Instagram-Profil ein Foto einer Vorladung zur Zeugenanhörung bei der Polizei Neubrandenburg (Mecklenburg-Vorpommern) postete.
Was hatte Böhmermann angestellt? "Wohl leider Stress wegen des 'ZDF Magazin Royale' morgen", kommentierte Böhmermann nur knapp.
Doch es kam anders: Das "ZDF Magazin Royale" unter Leitung Böhmermanns wollte für seine letzte Sendung vor der Sommerpause untersuchen, ob das Internet tatsächlich ein rechtsfreier Raum, oder nur ein "rechtsdurchsetzungsfreier" Raum sei, wie es Elisa Hoven, Strafrechtsprofessorin an der Universität Leipzig, formuliert. Die Ergebnisse der monatelangen Recherche sind zum Teil erschreckend.
Sieben verschiedene Hasskommentare oder -bilder aus sozialen Netzwerken wollte das Team der Sendung jeweils in den 16 Bundesländern zur Anzeige bringen, am selben Tag und zur selben Uhrzeit Anfang August des vergangenen Jahres. Monatelang dauerte die Recherche dann offenbar vor allem wegen der langsamen Ermittlungen der Polizei – wenn diese überhaupt stattgefunden haben.
In Brandenburg, Sachsen und Sachsen-Anhalt nahm man die Anzeigen gar nicht erst auf. In Mecklenburg-Vorpommern verliefen die Ermittlungen im Sande, Nachfragen wurden nur nebulös beantwortet. Der dortige zuständige Polizeibeamte soll sogar schon bei Aufgabe der Anzeigen angekündigt haben, dass diese entweder direkt an die Kriminalpolizei gingen oder "im Papierkorb" landen würden.
Dabei stellte das Rechercheteam fest, dass es in Deutschland keine bundeseinheitliche Verfolgung für Straftaten im Internet gebe. In sechs von 16 Bundesländern konnte man demnach nicht einmal Anhänge bei Onlineanzeigen auf den Internetwachen hochladen. Vielmehr mussten Screenshots der Straftaten offenbar tatsächlich physisch als Ausdruck bei den Wachen eingereicht werden. In Bremen habe man die Anzeige wegen eines Ausfalls des Computersystems zunächst gar nicht aufgeben können, stellte Böhmermann angesichts seiner Heimatstadt belustigt fest. Erst zwei Monate später seien Ermittlungen aufgenommen worden – auf Nachfrage.
Zudem gelang es laut dem Bericht nur der Polizei in Baden-Württemberg, den Autoren eines Hasskommentars zu ermitteln – er wurde zu einer Geldstrafe verurteilt. Dabei handelte es sich um einen Post auf dem Messengerdienst Telegram, der sowohl das in Deutschland verbotene Hakenkreuz als auch den Wahlspruch der nationalsozialistischen Schutzstaffel (SS) beinhaltete.
Die Personen, die die Hasskommentare und -posts verfasst haben, seien teils mit Klarnamen aufgetreten, berichtete Böhmermann. Der Moderator zeigte in seiner Sendung sogar private Videos, die der Verfasser eines gegen türkische Staatsbürger hetzenden Kommentars auf seinen Social-Media-Profilen veröffentlicht hatte. Die Polizeien der Bundesländer konnten diesen Mann dennoch offenbar nicht ausfindig machen. Jan Böhmermann äußerte daraufhin seinen "begründeten Verdacht": "Die deutsche Polizei kann nichts im Internet."
Für zwei der Polizeibehörden und zuständigen Beamten könnte ihre Untätigkeit immerhin nun Konsequenzen haben: in Sachsen und Bremen haben die Staatsanwaltschaften Ermittlungen wegen möglicher Strafvereitelung aufgenommen. Die Polizei Leipzig behauptet hingegen, die Anzeigen seien nie aufgegeben worden.
RND/sic, "Jan Böhmermanns Polizeitest: Warum Internethasskommentare in Deutschland kaum verfolgt werden" vom 28. Mai 2022; online unter: Externer Link: https://www.rnd.de/medien/zdf-magazin-royale-jan-boehmermann-prueft-polizei-arbeit-zu-hasskommentaren-im-netz-U7T7WEE64VHNLHFYW6JDSWTPQI.html
QuellentextBeratungsstelle "HateAid"
rbb: Frau von Hodenberg, bestätigt diese Recherche des "ZDF Magazin Royale" Ihre Erfahrungen, dass Hasskriminalität im Internet in den Bundesländern sehr unterschiedlich gehandhabt wird?
Anna-Lena von Hodenberg [Gründungsgeschäftsführerin der gemeinnützigen Organisation "HateAid", Anm. der Redaktion]: Absolut, in den Bundesländern und zum Teil auch von Woche zu Woche ist es total unterschiedlich. Die Recherche [zdf.de] hat uns am Ende nicht überrascht, weil wir wöchentlich Betroffene in der Beratung haben, die von schlechten Erfahrungen mit der Polizei berichten. Das reicht von "von der Wache weggeschickt" bis hin zu: "Das wird klein gemacht". Oder es wird den Leuten geraten, das doch nicht anzuzeigen, sondern einfach seinen Facebook-Account oder seinen Twitter-Account zu löschen. Das sind Dinge, die wir hier in der Beratung immer wieder erlebt haben.
Woran liegt das? An mangelndem Wissen und Verständnis, also wissen die zum Beispiel einfach nicht, dass sie zuständig sind? Oder an mangelndem Willen, an Faulheit? Was sagen Sie?
Wie immer liegt die Wahrheit irgendwo dazwischen. Mangelnde Sensibilisierung ist auf jeden Fall ein großer und wichtiger Grund. Wir haben eben dieses Feld Tatort, Internet und diesen massiven Hass erst seit einigen Jahren, vor allem aus dem rechten und rechtsextremen Spektrum, wir haben das ja auch in den Kommentaren gesehen, die in der Sendung gezeigt wurden. Da ist die Frage: Bilde ich meine Polizei weiter aus, sensibilisiere ich die dafür, kennt die die Straftatbestände, ist klar, wie das gemeldet werden muss, was man dafür braucht? Wie kläre ich Zeug:innen auf? Das ist in vielen Bundesländern gar nicht geschehen und wurde eben ignoriert. Jetzt wird es langsam besser.
Man hat das auch an Schlaglichtern gesehen. Hessen zum Beispiel ist ein Bundesland, mit dem wir zusammenarbeiten. Da hat sich schon einiges verändert. Also ich glaube, ein wichtiger Punkt ist eben Sensibilisierung dafür, dass mit dem Thema noch überhaupt nicht umgegangen wurde. Das andere ist, dass das Internet auch bei der Polizei als so ein anderer Raum wahrgenommen wird, dass es wie eine Bagatelle wahrgenommen wird. Man hat jetzt noch drei wichtige andere Dinge und dieses Internet – das ist ja irgendwie noch nicht das richtige Leben. Das Bewusstsein, dass das Internet tatsächlich das richtige Leben ist und dass hier eben auch Straftaten passieren, das ist bei vielen einfach noch nicht da.
rbb: Wenn man sich dann aber den Umgang der einzelnen Bundesländer mit diesen Fällen der Recherche der Redaktion von Jan Böhmermann genauer anguckt, dann sieht man zum Beispiel, dass in Brandenburg erst gar keine Anzeige aufgenommen wurde. Auch in Sachsen-Anhalt wurde die Anzeige verweigert, in Sachsen verschwand sie. Können Sie aus Ihrer Erfahrung von Ost-West-Unterschieden in den Ermittlungen berichten? Oder war das jetzt Zufall?
Ich finde es ist verfrüht zu sagen, dass es tatsächlich systematische Ost-West-Unterschiede gibt. Es kann auch sein, dass wir Betroffene haben, die auch in westdeutschen Bundesländern wie Nordrhein-Westfalen nach Hause geschickt werden. Das kann überall passieren. Es ist eben nur eine Stichprobe. Aber man kann sich natürlich angucken: Welche Bundesländer haben tatsächlich schon in das Thema investiert, haben das in ihren Landtagen besprochen, Maßnahmenpakete aufgelegt, beschäftigen sich schon lange mit dem Thema?
Hessen ist so ein Beispiel. Der Mord an Walter Lübcke hat dazu geführt, dass eine große Schwerpunktstaatsanwaltschaft aufgesetzt wurde. Es gibt das Netzwerk "Hessen gegen Hetze", das ein Meldeportal hat. Auch dort kann es passieren, dass Sie auf die Polizeidienststelle gehen und abgewiesen werden. Aber es ist schon ein großer Unterschied, wenn dieses Thema auch im Polizeiapparat, den Staatsanwaltschaften und Richter:innen zu einem Thema geworden ist.
Im Netzwerkdurchsetzungsgesetz heißt es eigentlich, dass die Betreiber von sozialen Medien strafbare Inhalte dem BKA melden müssen. Das passiert aber nicht, oder?
Genau. Am Anfang sollten laut des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes nur die Inhalte gelöscht werden. Die Betreiber sollten gucken: Ist jetzt dieser Inhalt strafbar? Wenn ja, dann löschen wir den. Danach hat man gesagt: Okay, wenn jetzt klar ist, dass das ein strafbarer Inhalt ist, dann muss er ja auch strafverfolgt werden, dann sollen auch Täter:innen verfolgt werden. Das war auch das Ziel des "Böhmermann-Experiments": zu zeigen, dass im Netz die gleichen Gesetze gelten wie im analogen Leben. […]
"Bewusstsein, dass das Internet das richtige Leben ist, ist bei vielen noch nicht da". Dörthe Nath im Gespräch mit Anna-Lena von Hodenberg, Geschäftsführerin der Initiative "Hate Aid", in: rbb24 Inforadio vom 30. Mai 2022
Anna-Lena von Hodenberg, Geschäftsführerin von HateAid, bei der Arbeit. Rechts oben ist das Logo der Organisation (Externer Link: https://hateaid.org) zu sehen. (© Luca Abbiento)
Herausgeforderte Exklusivität
Die sich aus der digitalen Revolution ergebenden Herausforderungen für die Staatsgewalt betreffen jedoch nicht nur die Effektivität der Rechtsdurchsetzung im Internet, sondern teilweise auch deren Exklusivität – also das staatliche Herrschaftsmonopol selbst.
Dies zeigt sich vor allem dort, wo sich in globalen sozialen Netzwerken mittlerweile digitale Parallelwelten gebildet haben, die tief in das analoge Leben der Menschen integriert sind und die sich stetig weiter verdichten. Heute verbringen Menschen in diesen digitalen Räumen große Teile ihres sozialen Lebens, treffen Freunde, verlieben und streiten sich, beziehen oder verbreiten Informationen und Meinungen, kaufen ein oder sind politisch aktiv. Es überrascht daher nicht, dass das Handeln im digitalen sozialen Raum zu unmittelbaren und mitunter erheblichen Folgen in der analogen Realität führen kann – beispielhaft seien hier die digitalen Aufrufe zur Erstürmung des Kapitols in Washington durch den ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump genannt. Digitale soziale Räume verschränken sich folglich immer mehr mit dem analogen gemeinschaftlichen Leben der Menschen – mit dem Unterschied, dass diese digitalen sozialen Räume nicht an Staatsgrenzen enden und mitunter auch wesentlich größer sind als einzelne Staaten (das soziale Netzwerk Facebook etwa wurde im Jahr 2021 von knapp zwei Milliarden Menschen täglich genutzt; das ist mehr als ein Viertel der Weltbevölkerung). Soziale Netzwerke bilden daher heute nicht mehr nur privatwirtschaftliche Angebote des Zeitvertreibs, sondern ernstzunehmende soziale Gemeinschaften, in denen Menschen – wenn auch nicht unmittelbar physisch – umfassend miteinander agieren. Der internen Organisation und Verwaltung dieser sozialen Netzwerke kommt daher eine immense Bedeutung und Verantwortung zu. Sie entscheidet etwa darüber, wer wann wie mit wem kommunizieren kann oder zu welchen Informationen und Inhalten Milliarden von Nutzerinnen und Nutzern Zugang bekommen.
Nach der Idee der Rechtsstaatlichkeit würde in einem solch umfassenden sozialen Raum die Organisation der Verhaltensregeln idealerweise einer (institutionell den Mitgliedern übergeordneten, zugleich aber auch strukturell begrenzten) öffentlichen Gewalt überantwortet. Und selbstverständlich nehmen die bereits existierenden Staatsgewalten durchaus für sich in Anspruch, den durch die sozialen Netzwerke geschaffenen digitalen Raum – zumindest soweit er, etwa über Serverstandorte, in ihre territoriale Zuständigkeit fällt – ihren jeweiligen Gesetzen zu unterwerfen und diese Gesetze (wenngleich mehr schlecht als recht) dort auch selbstständig durchzusetzen.
Tatsächlich besitzen angesichts der globalen Spannweite dieser sozialen Netzwerke jedoch vor allem ihre privaten Betreiberinnen und Betreiber die Fähigkeit, allgemeingültige Verhaltensregeln zu etablieren und effektiv durchzusetzen. Bei der Setzung und Durchsetzung des geltenden "Rechts" kommt es im digitalen sozialen Raum so zu einer teilweisen Überlappung bzw. Konkurrenz zwischen den Regelungsansprüchen staatlicher öffentlicher Gewalten einerseits und der tatsächlichen Regelungsmacht der Internetkonzerne andererseits. Damit ist nicht gemeint, dass sich die Internetkonzerne über das in verschiedenen Staaten geltende Recht hinwegsetzen oder dieses gar ersetzen. Gemeint ist – vereinfacht gesagt –, dass es für den digitalen sozialen Raum schlicht wichtiger ist, wenn der ein soziales Netzwerk betreibende Internetkonzern das Konto eines Mitglieds weltweit sperrt, als wenn dies ein Staat für seine territorial begrenzte Zuständigkeit anordnet (und der Internetkonzern dies dementsprechend auch nur für diesen begrenzten staatlichen Raum umsetzen muss).
Aus der Perspektive der rechtsstaatlichen Präferenz einer exklusiven Zuständigkeit der öffentlichen Gewalt für die Setzung und Durchsetzung der verbindlichen Verhaltensordnung ist dies nicht unproblematisch. Das ergibt sich vor allem daraus, dass die über die tatsächliche Regelungsmacht verfügenden privaten Internetkonzerne im Grunde gar nicht zum Zweck der Ordnung des digitalen sozialen Raums existieren, sondern in ihrer gewinnorientierten Logik bei der Gestaltung und Durchsetzung der Regeln der sozialen Netzwerke letztlich doch stets ihren eigenen wirtschaftlichen Interessen verpflichtet sind. Hinzu kommt, dass sich die Regelungsmacht der Internetkonzerne im digitalen sozialen Raum auch keinerlei strukturellen Begrenzungen (etwa einer Gewaltenteilung oder ähnlichem) ausgesetzt sieht. "Geherrscht" wird letztlich nach freiem Ermessen.
(© Credit to Dalbert B. Vilarino)
(© Credit to Dalbert B. Vilarino)
Beispiel Facebook-Gerichtshof: Ein besonders eindrückliches Beispiel dieser rechtsstaatlich bedenklichen Überlappung bzw. Konkurrenz von öffentlicher Gewalt einerseits und der Regelungsmacht von Internetkonzernen andererseits zeigt sich etwa im Rahmen des durch den Internetkonzern Meta Platforms betriebenen, weltweit größten sozialen Netzwerks Facebook.
Im Jahr 2020 gründete Meta Platforms einen Facebook-Gerichtshof (Facebook Oversight Board). Dieser Gerichtshof besteht aus 20 Personen und umfasst unter anderen eine frühere dänische Premierministerin, Universitätsprofessorinnen und -professoren, ehemalige Richterinnen und Richter, Anwältinnen und Anwälte sowie Journalistinnen und Journalisten. Der Facebook-Gerichtshof trifft auf Antrag von Facebook selbst oder von Facebook-Mitgliedern Einzelentscheidungen über die Anwendung der Facebook-Regeln innerhalb des sozialen Netzwerks – so etwa bei Fragen der Sperrung von Facebook-Mitgliedskonten oder der Löschung von Inhalten. Im Grundsatz spricht der Gerichtshof dabei nicht nur Empfehlungen aus, sondern entscheidet verbindlich. Er kann sogar die Entscheidungen der Konzernführung von Meta Platforms überstimmen – wobei es Meta Platforms aber faktisch zweifelsohne möglich wäre, den durch sie eingesetzten und bezahlten Gerichtshof letztlich einfach zu ignorieren. Eine ernstzunehmende Teilung der Regelungsmacht im Konzern ist insoweit also nur sehr bedingt gegeben.
Der Facebook-Gerichtshof hat mittlerweile über 20 Fälle entschieden. Dazu gehört unter anderem auch der vom ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump gestellte Antrag, der Gerichtshof möge feststellen, dass die Sperrung seines Facebook-Kontos – als Reaktion auf seine Aufrufe zur Erstürmung des Kapitols in Washington am 6. Januar 2021 – gegen die Facebook-Regeln verstoßen hat. Der Gerichtshof lehnte diesen Antrag zwar weitestgehend ab. Gleichwohl zeigt der Fall, welches Ausmaß an realer gesellschaftlicher Bedeutung den Entscheidungen des Facebook-Gerichtshofs unter Umständen zukommen kann.
Das sich aus der Einrichtung dieses Facebook-Gerichtshofs ergebende Konkurrenzverhältnis zwischen dem Anspruch eines staatlichen Herrschaftsmonopols einerseits und der realen Regelungsmacht von Internetkonzernen andererseits könnte kaum deutlicher sein. Zwar stellt Meta Platforms das geltende Recht der verschiedenen Staaten, in denen es sein soziales Netzwerk Facebook anbietet, keineswegs ausdrücklich in Frage. Wohl aber macht der Internetkonzern mit der Schaffung einer quasi-judikativen globalen Institution deutlich, dass Facebook letztlich als ein aus der einzelstaatlichen Sphäre zumindest teilweise entkoppelter selbstständiger sozialer Raum zu begreifen ist, dessen Regeln der selbst setzt und durchsetzt. Und vielleicht hat Meta Platforms mit dieser Einschätzung sogar Recht. Dann aber müssten aus der Perspektive der Idee rechtsstaatlicher Ordnung wesentlich umfassendere Anforderungen an die übergeordneten Institutionen der sozialen Gemeinschaft Facebook formuliert werden. Mit den letztlich doch immer auf Gewinnmaximierung gerichteten Intentionen eines Internetkonzerns wird dies jedoch kaum jemals zu vereinbaren sein.
Die Gefahr eines digitalen Überwachungsstaates
Die Digitalisierung fordert den Rechtsstaat jedoch nicht nur hinsichtlich der Begründung öffentlicher Gewalt heraus. Auch für den wichtigen rechtsstaatlichen Aspekt der Begrenzung öffentlicher Gewalt birgt die digitale Revolution Risiken. Dies gilt insbesondere dann, wenn es durch die Möglichkeiten der Digitalisierung zu einem Machtzuwachs der öffentlichen Gewalt kommt, der über das für die effektive Setzung und Durchsetzung der Rechtsordnung erforderliche Maß weit hinausgeht. Zwar beruht der Rechtsstaat im Grundsatz auf einem starken Staat – dies allerdings nur insoweit, als es für die Herstellung friedlicher und geordneter Zustände tatsächlich erforderlich ist. Die Ordnungs- und Sicherheitsgewinne durch eine Ausweitung der digitalen Befugnisse des Staates dürfen also nicht in einem Ungleichgewicht zu den damit einhergehenden Beeinträchtigungen für die Freiheiten der Bürgerinnen und Bürger stehen.
(© picture-alliance, dieKLEINERT.de/Paolo Calleri|Paolo Calleri)
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Die Frage nach der übermäßigen Ausweitung der Staatsgewalt stellt sich heute im Bereich der Digitalisierung deshalb besonders dringlich, weil gerade durch die im Rahmen des digitalen Fortschritts entwickelten Möglichkeiten der Herrschaftsausübung eine besondere Gefahr des Missbrauchs besteht (digitale Tyrannei). Dies gilt vor allem dort, wo digitale Instrumente zur übermäßigen staatlichen Überwachung der Bürgerinnen und Bürger genutzt werden können.
Ein deutliches Beispiel für solche Strukturen ist die digitale Massenüberwachung in der autokratischen Volksrepublik China. Anhand umfassender öffentlicher Kamerasysteme mit modernen Gesichtserkennungsprogrammen und der vollständigen Kontrolle des Internetverhaltens der chinesischen Staatsbürgerinnen und Staatsbürger hat die digitale Überwachung dabei heute ein Ausmaß angenommen, das durch rechtsstaatliche Ordnungs- und Sicherheitsgewinne in der Volksrepublik China nicht mehr gerechtfertigt werden kann. Der Kommunistischen Partei geht es allerdings letztlich auch gar nicht um Freiheitsgewinne, die sich aus Sicherheit und Ordnung ergeben, sondern zuvorderst um die Unterdrückung jeglichen politischen Widerstands und damit der Festigung des autokratischen (auch in sich selbst bereits rechtsstaatswidrigen) Herrschaftssystems.
Es sind aber keineswegs allein autokratische staatliche Strukturen, in denen sich rechtsstaatlich bedenkliche Ausweitungen digitaler Überwachung zeigen.
Beispiel PRISM: Ein wichtiges Beispiel dafür ist das geheime US-amerikanische Überwachungsprogramm PRISM (Planning Tool for Resource Integration, Synchronization, and Management). Durch die Enthüllungen des ehemaligen CIA- und NSA-Mitarbeiters Edward Snowden wurde im Jahr 2013 bekannt, dass sich die US-amerikanischen Geheimdienste unter Mithilfe großer US-amerikanischer Internetkonzerne umfassenden Zugriff auf die digitale Echtzeitkommunikation von Personen innerhalb und außerhalb der USA verschafft hatten. Weit über 100000 Personen standen bei Bekanntwerden von PRISM unter heimlicher US-amerikanischer Echtzeitüberwachung. Obwohl Geheimdienste in Ausnahmefällen zum Zwecke der Gefahrenabwehr in gewissem Umfang auf die Möglichkeit der verdeckten Überwachung digitaler Kommunikation angewiesen sind, zeigt das riesige Ausmaß der Überwachung höchstpersönlicher individueller Daten im Rahmen von PRISM, wie schnell das rechtsstaatliche Erfordernis des angemessenen Verhältnisses von Zweck und Mittel in Schieflage geraten kann.