Politik wird in den USA nicht – wie in parlamentarischen Regierungssystemen üblich – von den Parteien formuliert und gesteuert, sondern über "Themennetzwerke" und "Tendenzkoalitionen" ausgehandelt. In ihnen versuchen Gleichgesinnte aus den Bereichen Politikberatung und Wahlkampfmanagement, aus Lobbygruppen, Politik, Verwaltungseliten sowie aus dem Journalismus gemeinsam, ihre Ideen und Interessen durchzusetzen.
Schwache Parteien
Anders als Parteien in parlamentarischen Regierungssystemen, die in elementaren Bereichen umfassend funktionieren, sind US-Parteien aufgrund ihrer von den Verfassungsvätern institutionell angelegten Schwäche und ihrer weiteren Beschneidung im Laufe der Geschichte nicht in der Lage, gesellschaftliche Interessengegensätze auszutarieren und Politik zu gestalten. Die Parteien in den USA haben wenige Mittel, Abgeordnete bzw. Senatorinnen und Senatoren zu sanktionieren und disziplinierend einzugreifen, um politische Inhalte durchzusetzen. Im Gegensatz zu deutschen haben US-Parteien keine Gestaltungsmacht im Gesetzgebungsprozess.
Parteien spielen in den USA – mit Ausnahme ihrer Funktion bei den Wahlen – eine untergeordnete Rolle. Doch selbst bei ihrer Wahlfunktion sind US-Parteien eingeschränkt, vor allem im Vergleich zu parlamentarischen Systemen: In Deutschland wird der Wahlkampf fast ausschließlich über Parteien finanziert, und die Kandidatinnen und Kandidaten müssen für höhere Ämter nach wie vor die "Ochsentour" durchlaufen, indem sie im Wahlkampf oder in diversen Vorstufen auf Gemeindeebene, im Landtag oder Bundestag der Partei dienen, um einen begehrten Platz auf der Parteiliste oder ein Ministeramt zu erhalten. In den USA dagegen sind Quereinsteigerinnen und Quereinsteiger ohne langjährige Erfahrung in politischen Parteiämtern, sprich "Stallgeruch", Gang und Gäbe.
QuellentextWarum sind die nationalen Parteien so schwach?
Einer […] Stärkung [nationaler Parteiorganisationen] stehen […] erhebliche Probleme entgegen:
Zunächst die […] Dezentralisierung der amerikanischen Parteien selbst. Die einzelstaatlichen, regionalen und lokalen Parteiorganisationen sind nur bedingt bereit, auf bisherige Kompetenzen zugunsten einer Stärkung der nationalen Parteiorganisationen zu verzichten.
Watergate und Vietnam haben in den 1970er-Jahren zu einem deutlichen Vertrauensverlust der amerikanischen Parteien geführt. Die Anzahl der Bürger, die sich zu keiner Partei bekennen wollten, stieg damals beträchtlich; eine Tendenz, die sich seither verstetigt hat. Man orientiert sich bei der Wahlentscheidung an bestimmten Sachthemen oder an den zur Wahl stehenden Kandidaten. […]
Weiterhin ist die Institution der Vorwahlen zu nennen, die die Parteien zumindest teilweise einer ihrer zentralen Aufgaben – der Kandidatenaufstellung nämlich – berauben und sie Parteianhängern – und damit de facto ihren Wählern – überantworten.
Auch wirkt der zunehmende Einfluss der Medien im amerikanischen Wahlkampf – anders als vorerst in Europa – eher zugunsten der einzelnen Kandidaten als zugunsten der Parteiorganisationen.
Paradoxerweise muss das amerikanische Zweiparteisystem in diesem Zusammenhang selbst erwähnt werden. Das relative Mehrheitswahlsystem hat entscheidend dazu beigetragen, dass die Vereinigten Staaten von ihren Anfängen bis heute im Wesentlichen mit nur zwei Parteien – wenn auch mit wechselnden Benennungen und Zielsetzungen – ausgekommen sind. In dieser religiös und ethnisch heterogenen Gesellschaft hätte sich jedoch auch unter dem bestehenden Wahlsystem das Zweiparteiensystem auflösen müssen, wenn sich nicht – durch eine erzwungene innerparteiliche Toleranz – ein "innerparteiliches Mehrparteiensystem" hätte herausbilden können. Dieses gerät jedoch […] heute immer mehr in Gefahr.
Letztlich entscheidend für die Schwäche der nationalen amerikanischen Parteien ist jedoch […] das präsidentielle Regierungssystem. Der Präsident der USA bedarf – im Gegensatz zu einem Regierungschef in einem parlamentarischen Regierungssystem – nicht der dauerhaften Unterstützung seiner Partei im Kongress: Sie hat ihn nicht gewählt, sie kann ihn nicht entlassen. Geschlossene Parteifronten könnten im Gegenteil zu einer Gefahr für das präsidentielle Regierungssystem werden, wenn der Präsident einerseits und die Mehrheit eines oder beider Häuser des Kongresses andererseits von verschiedenen Parteien gestellt würden. Starre Parteifronten und mangelnde Kompromissbereitschaft führen dann – wie momentan zu beobachten – […] zu einem Stillstand und zur Unregierbarkeit des Systems.
Emil Hübner / Ursula Münch, Das politische System der USA. Eine Einführung, 7., überarb. u. aktual. Auflage, © Verlag C. H. Beck, München 2013, S. 80 f. (oben) u. S. 70 ff.
Im Zuge des progressive movement an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert wurden die Parteien noch weiter geschwächt, da sie durch die Einführung der Vorwahlen (primaries) die Allmacht bei der Kandidatenaufstellung verloren. Hatten früher die "Parteibosse" in rauchgeschwängerten Hinterzimmern die Entscheidungen getroffen, so werden die Parteien bei der Kandidierendenauswahl und der Wahlkampffinanzierung mittlerweile von Interessengruppen und deren Wahlkampfkomitees überboten. Dazu haben auch die Entscheidungen des Obersten Gerichts (grundlegend 1976 im Fall Buckley v. Valeo und zuletzt, am 21. Januar 2010, im Fall Citizens United v. Federal Election Commission) beigetragen; die Interpretationen der Obersten Richter haben dem Einfluss von Interessengruppen, Think Tanks und Politikunternehmern (policy entrepreneurs) Tür und Tor geöffnet.
Starke Interessengruppen
Anders als in den korporatistischen Strukturen Westeuropas, die gesellschaftliche Gruppen an politischen Entscheidungsprozessen beteiligen, sind Interessengruppen in den USA dezentral strukturiert. Dementsprechend viele gibt es; ihre Zahl wurde vom Verbandsforscher Martin Sebaldt in seinem 2001 erschienenen Buch "Transformation der Verbändedemokratie" auf über 200.000 geschätzt. Mittlerweile beteiligen sie sich auch verstärkt an der außenpolitischen Debatte.
Seit den 1960er- und 1970er-Jahren hat der Einfluss von Interessengruppen und Wirtschaftsvertretern auf das politische System deutlich zugenommen. "Wirtschaftsunternehmen haben eine Vielzahl von Lobbyistinnen und Lobbyisten sowie Anwältinnen und Anwälten beschäftigt, Büros in Washington eröffnet, political action committees (PACs) gegründet und finanziert, die Mitarbeiterstäbe ihrer government relations-Büros vergrößert, ausgefeilte Strategien entworfen, um die öffentliche Meinung zu beeinflussen, und gelernt, wie man Graswurzelbewegungen organisiert", erläuterte der amerikanische Interessengruppenforscher David Vogel (1996, S. 5 f.; 1989) ihr umfassendes Wirken.
Viele Interessengruppen und Verbände haben PACs etabliert, um direkt in die Wahlkämpfe einzugreifen. Diese Wahlkampfkomitees werden nicht nur von Unternehmen oder Wirtschaftsverbänden genutzt, sondern auch von religiösen oder ethnischen Interessengruppen in Stellung gebracht, um mit Anzeigenkampagnen (issue ads) die Wählerinnen und Wähler über die Kandidaten zu "informieren".
Außenpolitisch orientierte Interessengruppen in den USA (© Josef Braml)
Außenpolitisch orientierte Interessengruppen in den USA (© Josef Braml)
Betrachtet man das Wirken der PACs in ihrer Gesamtheit, "so übernehmen sie Aufgaben, die in westeuropäischen parlamentarischen Regierungssystemen von Parteien wahrgenommen werden: Sie sammeln und verteilen Wahlkampfspenden, sie bilden Wahlkampfmanager und Wahlhelfer aus; sie stellen den Kandidaten Dienstleistungen aller Art zur Verfügung (von Meinungsumfragen bis zur Produktion von Fernseh-Werbespots)", so Peter Lösche 2008.
Bis zur Jahrtausendwende stiegen sowohl die Anzahl als auch die Zuwendungen von PACs enorm an. Die Zuwendungen an Kandidierende für Wahlkämpfe auf nationaler Ebene verzeichneten einen Anstieg (inflationsbereinigt) von zwölf (1974) auf knapp 70 Millionen Dollar (1998) – das entspricht einer Erhöhung der "Kaufkraft" amerikanischer PACs um knapp 500 Prozent, die innerhalb dieses Vierteljahrhunderts in das politische System der USA eingeflossen ist.
Seitdem der Supreme Court den outside groups und deren Zuwendungen über dunkle Kanäle ("dark money") Tür und Tor öffnete, sind solche spezifischen Zahlen nicht mehr verfügbar. Das Center for Responsive Politics schätzte die Ausgaben der "non-party outside groups" bereits im Wahlkampf 2012 auf über eine Milliarde Dollar.
Das politische System der USA bietet diesen Politunternehmern ein optimales Betätigungsfeld: Ihr Spielraum ist in den USA weniger durch die potenzielle Machtrolle politischer Parteien – der traditionellen Türsteher (gatekeepers) – eingeschränkt, und sie haben leichteren Zugang zu einer größeren Zahl mitentscheidender Akteurinnen und Akteure. Neben der persönlichen Ansprache von Entscheidungsträgerinnen und -trägern in der Exekutive/Administration, in der Judikative und im Parlament in Washington bearbeiten Interessenvertreterinnen und -vertreter insbesondere die 435 Abgeordneten bzw. 100 Senatorinnen und Senatoren über ihre Wahlkreise bzw. Einzelstaaten. Sie zielen mit ihrem Graswurzel-Lobbying direkt auf die Basis und suchen eine enge Anbindung an die Wählerinnen und Wähler.
Ein besonders wirksames Mittel für Interessengruppen, um Einfluss auf den Gesetzgebungsprozess und die Wiederwahl zu nehmen, sind "Wählerprüfsteine" (scorecards oder voter guides). Interessengruppen der Christlich Rechten machen zum Beispiel kritische Abstimmungen publik, damit Abgeordnete sowie Senatorinnen und Senatoren wissen, dass ihre Bevölkerung im Wahlkreis genau erfahren wird, wie sie abgestimmt haben.
Dieser externe Einfluss einer Vielzahl unterschiedlicher und oft widerstreitender Interessen ist als erheblich einzuschätzen, vor allem bei den Kongresswahlen. Da US-amerikanische Abgeordnete bzw. Senatorinnen und Senatoren keiner Parteidisziplin unterworfen sind, können sie sich auch nicht hinter ihr verstecken. Einzelne Politiker laufen ständig Gefahr, im Rahmen einflussreicher Kampagnen an den Pranger gestellt und gegebenenfalls bei der Kandidatur um eine Wiederwahl persönlich zur Rechenschaft gezogen zu werden. Sie wägen deshalb bei jeder einzelnen Abstimmung gründlich ab, wie diese sich bei den nächsten Wahlen für sie persönlich auswirken könnte.
Think Tanks als Ideen- und Personalagenturen
Das checks and balances-System der Vereinigten Staaten eröffnet auch anderen zivilgesellschaftlichen Organisationen wie Think Tanks vielfältige Einwirkungsmöglichkeiten, insbesondere aufgrund seiner Durchlässigkeit: Sie bedingt eine hohe Rotation und erleichtert Karrierewechsel. In diesem System der revolving doors, des fortwährenden in-and-out, werden Personen und mit ihnen auch Ideen und Interessen ständig ausgetauscht. In keinem anderen Land als den USA wird ein derart breiter und offener (außen)politischer Diskurs gepflegt, an dem sich unzählige Interessengruppen und Think Tanks maßgeblich beteiligen und in dem sie ihre verschiedenen Kommunikationsrollen ausüben können.
Während in einem parlamentarischen Regierungssystem wie der Bundesrepublik Deutschland die politischen Parteien bei der Rekrutierung des Spitzenpersonals von zentraler Bedeutung sind und ohnehin ein großer Berufsbeamtenapparat von politischen Veränderungen unberührt bleibt, übernehmen in den USA Think Tanks die Rolle des Personaltransfers und damit auch der Ideengebung. Anders als in Deutschland, wo nur eine Handvoll Fachleute je die Seiten gewechselt haben, kommentieren US-amerikanische Expertinnen und Experten nicht nur am Seitenrand, sondern erhalten hin und wieder die Chance, sich selbst im Zentrum der Macht am politischen Spiel zu beteiligen. Indem sie eine politische Aufgabe übernehmen, können sie, selbstredend, auch ihre vorher im Think Tank erdachten Ideen in die Tat umzusetzen versuchen.
Dieser ständige Austausch von Personal und Ideen hat Vor- und Nachteile. So sind US-Sozialwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler, die häufig auch direkt von Elite-Universitäten rekrutiert werden, eher als ihre Kolleginnen und Kollegen in anderen Ländern geübt, praxisorientiert ein komplexes Problem zu analysieren und Lösungsansätze vorzuschlagen. Davon profitieren gleichermaßen Politik und Wissenschaft, insbesondere Universitäten, die die nächste Generation pragmatischer Fachleute ausbilden.
Doch auf dem "Marktplatz der Ideen" werden mittlerweile nicht nur Ideen gehandelt, die auf empirisch überprüfbaren Aussagen fußen, sondern auch solche, die ideologischer bzw. religiöser Natur und daher nicht logisch widerlegbar sind. In der Beratungslandschaft wuchern, dank üppiger finanzieller Zuwendungen der Privatwirtschaft, mittlerweile advokatische Think Tanks, die im "Krieg der Ideen" Partei ergreifen und als Advokaten die Partikularinteressen ihrer Geldgeber vertreten. Die Heritage Foundation, sicherlich das bis heute prominenteste Beispiel, beabsichtigte in den 1990er-Jahren gar, als Avantgarde der "Konservativen Revolution" in die Weltgeschichte einzugehen. Auch wenn die konservative Bewegung merklich an Boden und Einfluss gewonnen hat, bleibt doch festzuhalten, dass die zunehmende Politisierung nicht allein von der politischen Rechten ausgeht.
Advokatische Think Tanks wie die Heritage Foundation perfektionieren ähnlich wie Interessengruppen unter anderem auch Lobbying- und Graswurzelstrategien. Think Tanks – die in der US-amerikanischen Steuergesetzgebung als sogenannte 501(c)(3)-Organisationen firmieren – dürfen zwar kein Lobbying betreiben (das einen "substanziellen Anteil" ihrer Aktivitäten ausmacht), um nicht ihren steuerlich vorteilhaften Status zu verlieren. Doch mittlerweile gibt es laut US-amerikanischer Steuergesetzgebung zahlreiche "zivilgesellschaftliche Vereinigungen oder Organisationen, die nicht nach Gewinn, sondern ausschließlich nach Förderung sozialer Wohlfahrt streben." Das sind Organisationen, die dort unter Paragraph 501(c)(4) subsummiert werden – und deren Lobbying keine steuerlichen Konsequenzen nach sich zieht.
Es ist sehr schwierig, den wirklichen Einfluss von Interessengruppen und Think Tanks zu ermessen. Die meisten Politikwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler halten es für "zwecklos", nach direkten Auswirkungen von Think Tank-Aktivitäten zu fragen: "Solche Fragen könne nur stellen, wer die Komplexität des politischen Prozesses nicht in Rechnung stelle. In einzelnen Fallstudien seien Nachweise durchaus möglich, systematisch überzeugende Erklärungen (aber) wohl eine Illusion", so der mittlerweile verstorbene Nestor der US-amerikanischen Politikwissenschaft Nelson Polsby im Gespräch mit Winand Gellner (1995, S. 22).
Gleichwohl ist es offensichtlich, dass sich in den vergangenen Jahrzehnten die Eigenschaften und Arbeitsweisen von Think Tanks grundlegend verändert haben, was sich in einer Politisierung der Beratung US-amerikanischer Politik widerspiegelt. In dem 1998 von Andrew Rich und Kent Weaver verfassten Grundlagenwerk der Think Tank-Forschung heißt es entsprechend: "In den ersten Jahrzehnten bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts wurden Think Tanks allgemein als objektive und sehr glaubwürdige Produzenten von Expertisen für politische Akteure angesehen. In der heutigen, viel dichter besiedelten Think Tank-Landschaft werden sie zunehmend zu streitsüchtigen Advokaten in balkanisierten Debatten über politische Richtungsentscheidungen, oder werden zumindest so wahrgenommen." (Quelle siehe Literatur)
Das ist genau das Ziel advokatischer Institute: Ihre klare politische Positionierung beschert ihnen bessere Sichtbarkeit in den Medien. Damit haben sie auch bessere Karten beim Fundraising. Denn die Geldgeber nehmen an, dass Think Tanks nicht nur direkt, sondern vor allem auch über die Medien indirekt Einfluss auf politische Entscheidungen nehmen können.
Medien als vierte Gewalt?
Nicht erst seit Orson Welles‘ 1938 ausgestrahlter Radiosendung "Invasion from Mars", nach der viele Hörerinnen und Hörer voller Angst auf die Straßen liefen, weil sie das, was ihnen vermittelt wurde, für real hielten, existiert der Mythos von der Macht der Medien. Er wurde bereits zuvor mit der Erforschung der Wirkung von Werbung und Propaganda verfestigt. Die Annahme omnipotenter Medien beherrschte auch lange Zeit die Medienwirkungsforschung.
Mittlerweile wird der Medieneinfluss differenzierter gesehen: Zum einen bemühen sich die Medien selbst – oder werden von anderen als Medium bemüht –, um auf politische Entscheidungen Einfluss zu nehmen. Zum anderen können sie aber auch mitentscheiden, worüber entschieden wird: indem sie ein Thema problematisieren oder ein zu lösendes Problem auf die politische Tagesordnung bringen. Neben dieser Agenda Setting-Funktion, wie sie 1972 die US-Forscher Maxwell E. McCombs und Donald L. Shaw beschrieben, können die Medien auch noch den Rahmen des Vorstellbaren abstecken: sprich mit Begriffen oder Metaphern das Problem und dessen Lösung begreifbar machen und dabei Einfluss nehmen oder manipulieren.
In seiner analytischen Betrachtung der menschlichen Kommunikation unterschied der Journalist Walter Lippmann bereits 1922 zwischen der "Außenwelt" und den "Bildern in unseren Köpfen". Die Realität ist laut Lippmann zu groß, zu komplex und zu vergänglich, als dass sie von uns direkt wahrgenommen werden könnte. Da wir jedoch in ihr handeln müssen, behelfen wir uns damit, sie durch ein einfacheres Modell zu rekonstruieren, damit sie uns vertraut und umgänglicher wird. Diese Modelle, sprich (Sprach-)Bilder, liefern uns die Medien und die Medienmacher.
Politik liegt für die meisten Menschen außerhalb ihres Erfahrungshorizonts, sodass sie von anderen erforscht und berichtet werden muss. Wie alle anderen sind auch die meisten US-Amerikanerinnen und US-Amerikaner auf die Medien angewiesen, weil die wenigsten von ihnen sich ein eigenes Bild von dem machen können, was in ihrer Hauptstadt oftmals auch hinter den Kulissen politisch geschieht. Gleichwohl sind sie alle zwei bzw. vier Jahre aufgerufen, ihren politischen Willen in der Wahlkabine kundzutun. Zudem werden sie laufend von Demoskopen gebeten, zu allen möglichen Themen und Problemen ihre Meinung abzugeben. Die Medien, die Meinungsumfragen zum Teil auch selbst in Auftrag geben, konfrontieren Politiker dann gerne mit dieser "öffentlichen Meinung".
US-Politikerinnen und -Politiker sind damit verpflichtet, ganz im Sinne der Gründerväter, stets ihren Bürgerinnen und Bürgern Rede und Antwort zu stehen. In der heutigen Mediendemokratie sind sie aber ebenso gezwungen, sich an den täglich von Demoskopen ermittelten und oft widersprüchlichen Befindlichkeiten ihrer Wählerschaft zu orientieren. Die öffentliche Meinung und die veröffentlichte Meinung, sprich die Meinungsmachenden in den mittlerweile auch Sozialen Medien, gewinnen dadurch immer mehr Einfluss auf die Politik.
Auch im (permanenten) Wahlkampf spielen Medien eine wichtige Rolle. Indem sie "Ereignisse" inszenieren, versuchen Politikerinnen und Politiker ständig durch Pressemitteilungen in die Nachrichten zu kommen – oder mithilfe Sozialer Netzwerke selbst zum Medium zu werden. Donald Trump beherrschte (bis zu seiner Aussperrung vom Mikroblogging-Dienst Twitter) wie wenige andere Politiker die Kunst der Kurz-"Nachrichten", die permanente emotionale Ansprache seiner Fangemeinde. Das kostet wenig und erhöht den Bekanntheitsgrad. Umso schwieriger und teurer ist es nun für ihn und andere in den Sozialen Medien weniger sichtbare Kandidierenden, im Wahlkampf interessant zu bleiben. Die Werbespots in Radio und Fernsehen verschlingen nach wie vor das meiste der für den Normalbürger unvorstellbaren Summen an Wahlkampfgeldern, die die Kandidierenden – auch auf Kosten ihrer Regierungsarbeit – ständig einwerben müssen.
Die Medien, die von diesem Geldsegen profitieren, sind verständlicherweise die verlässlichsten Anwälte der Redefreiheit (freedom of speech) und politisieren gegen jegliche Beschränkung von Wahlkampfspenden. Nach wiederholten Auslegungen des Obersten Gerichts der USA würde mit der Begrenzung von Wahlkampfspenden der erste Verfassungszusatz, das Grundrecht auf Redefreiheit, beschnitten.
Indem Interessengruppen und deren PACs den Kandidierenden direkt Geld geben oder als sogenannte unabhängige externe Organisationen die Qualitäten des einen preisen oder die Unfähigkeit des anderen anprangern, üben sie, selbstredend, ihr verfassungsmäßiges Recht auf Redefreiheit aus. "Money talks", das trifft oft im wahrsten Sinne des Wortes zu. Geld kann dafür sorgen, dass in der politischen Auseinandersetzung einigen Interessen mehr Gehör verschafft wird als anderen. So werden mit Wahlkampfgeldern teure Werbespots finanziert und über eine Vielzahl privater Fernsehsender verbreitet.
Seit den 1960er-Jahren hat das Fernsehen die Zeitungen in puncto Glaubwürdigkeit abgelöst. Laut Angaben der Politikwissenschaftlerin Ursula Münch bezogen bereits 2010 knapp 60 Prozent der US-Amerikanerinnen und -Amerikaner ihre Informationen aus dem Fernsehen; nur noch ein Drittel informierte sich über die Tageszeitungen, genauso viele nutzten Radio und Internet. Angesichts des Kommunikationsverhaltens von Jugendlichen laufen die etablierten Medien, insbesondere das Fernsehen und die Tageszeitungen, Gefahr, künftig nur noch wenige Menschen zu erreichen. Aber auch die ältere Generation bezieht ihre politisch relevanten Informationen immer häufiger im Internet und dabei vor allem über die Sozialen Netzwerke.
Da die in hart umkämpften Einzelstaaten lebenden Zuschauerinnen und Zuschauer in Wahlkampfzeiten mit politischer Werbung überhäuft und abgestumpft werden, ist auch die persönliche Ansprache der Wählenden wieder "modern" geworden: zum einen durch freiwillige Wahlkampfhelferinnen und -helfer, die von Haus zu Haus gehen (canvassing), zum anderen durch direct mail, ehedem über Datenbanken generierte und per Post versendete "persönliche Massenbriefe", die nunmehr in Form von E-Mail-Kampagnen und über Soziale Netzwerke wie Twitter oder Facebook an die Menschen gebracht werden.
Mit den neuen zielgruppenspezifisch einsetzbaren Medien und Kampagnen über das Internet können sich Politikerinnen und Politiker immer mehr von den klassischen Massenmedien unabhängig machen und ihre Wahlkampfhelferinnen und -helfer, Finanziers und potenziellen Wählerinnen und Wähler direkt und permanent ansprechen. Trumps Kommunikationsverhalten führte jedoch dazu, dass er in den letzten Tagen seiner Präsidentschaft seine größte Plattform verlor: Am 8. Januar 2021, zwei Tage nachdem Trump-Anhänger das Kapitol stürmten, gab Twitter bekannt, dass Donald Trumps privater Account "@realDonald-Trump" mit fast 89 Millionen Followern ab sofort und zeitlich unbegrenzt gesperrt sei. Der US-Präsident hatte zuvor mit Tweets wie "Be there, will be wild" (Geht hin, es wird wild) seine Fangemeinde unverhohlen zum Aufstand angestiftet. Selbst nach dem Sturm auf das Kapitol, der Menschenleben kostete, lobte Trump in einer weiteren Twitter-Nachricht die Aufständischen als "Patrioten". Damit habe Trump, so die Verantwortlichen von Twitter, gegen das Verbot verstoßen, Gewalt zu verherrlichen.
Seitdem tobt vor allem auch in den USA eine Debatte über die Grenzen der Meinungsfreiheit. Im Kongress gibt es Bestrebungen, Social Media-Unternehmen, darunter auch Facebook, stärker zu regulieren, um die Verbreitung von Hass-Botschaften und Falschinformationen (fake news) über deren Netzwerke einzudämmen. Doch solange sich Demokraten und Republikaner auch in dieser Frage nicht einigen können, werden diese Initiativen erfolglos bleiben.
Von Vertreterinnen und Vertretern etablierter Medien wird gerne eingewendet, dass mit der Beliebigkeit der Angebote im Internet, vor allem durch die Verbreitung sogenannter "alternativer Fakten" und "fake news", die Qualität verloren gehe. Doch die Qualitätsberichterstattung wurde aufgrund der Kommerzialisierung und Konzentration der Medienwelt ohnehin schon längst ausgedünnt. Bereits vor einem Jahrzehnt wurde der US-amerikanische Medienmarkt von fünf Medienimperien (Time Warner, Disney, Murdoch’s News Corporation, General Electric/NBC und CBS Corp.) mit 90 Prozent der Marktanteile beherrscht. Die Lockerung gesetzlicher Regulierungen, etwa 1996 mit dem Telecommunications Act, hat es den Megakonzernen erleichtert, auch ihre vertikalen Integrationsstrategien durchzusetzen, das heißt Produktion und Verteilung von Medieninhalten unter einem Firmendach zu vereinen.
Der politisch interessierte Fernsehzuschauer hat seitdem die Wahl zwischen wenigen kommerziellen Stationen: der ABC (American Broadcasting Company), dem CBS (Columbia Broadcasting System) und der NBC (National Broadcasting Company), dem vom Medienmogul Ted Turner geschaffenen Nachrichtensender CNN (Cable News Network) sowie dem vom australischen Geschäftsmann Rupert Murdoch finanzierten Fox TV. Staatlich geförderte Qualitätssender wie PBS (Public Broadcasting System), C-SPAN (Cable-Satellite Public Affairs Network) oder NPR (National Public Radio) sind in ihrer Existenz gefährdet da sie laufend Schwierigkeiten mit ihrer Finanzierung haben.
Mittlerweile bringt die Coronavirus-Pandemie auch die kommerziellen Medienimperien in Bedrängnis. Wegen sinkender Werbeeinnahmen haben sie ebenfalls mit Finanzierungsproblemen zu kämpfen. Ihre Einnahmen werden umso mehr schrumpfen, je stärker ihr bislang lukratives Geschäft mit Kabelabonnements durch die Streaming-Konkurrenz, allen voran von Netflix, untergraben wird. Die Konsumpräferenzen verändern sich hin zu Streaming-Diensten – ein Trend, der durch die Coronavirus-Pandemie forciert wird.
Auch der Zeitungsmarkt konzentriert sich auf immer weniger Anbieter. Vier von fünf Tageszeitungen in den USA befinden sich in der Hand von Konzernen; dem größten, der Thompson-Gruppe, gehören mittlerweile über 100 Tageszeitungen. Die Kommerzialisierung hat zur Konzentration und Ausdünnung der Medienvielfalt geführt. Es gibt in den USA heute nur noch wenige Städte, in denen die Bewohner mehr als eine Tageszeitung zu lesen bekommen. Auch die überregionalen, landesweit verbreiteten Blätter wie das Wall Street Journal, USA Today, die New York Times, die Los Angeles Times und die Washington Post kann man an einer Hand abzählen. Hinzu kommen die Wochenmagazine Time, Newsweek und US News and World Report.
QuellentextEine Zeitung in der Identitätskrise: die New York Times
[…] Wahrscheinlich ist es kein Zufall, dass die "New York Times" ausgerechnet mit dem Ende der Regierungszeit von Trump in eine Identitätskrise stürzt. Der Präsident war für das Blatt Feindbild und Glücksfall zugleich. Im Laufe seiner Amtszeit hat die Zeitung mehr als vier Millionen neue Abonnenten gewonnen. Zugleich trieb der Populist im Weißen Haus die Redakteure zu journalistischen Glanzleistungen an. Es war die "New York Times", die mit einer hartnäckigen Recherche an Trumps Steuerunterlagen herankam. Allein im vergangenen Jahr gewann das Blatt drei Pulitzerpreise.
Aber die Präsidentschaft Trumps stellte auch die Frage nach dem journalistischen Selbstverständnis in einer bisher nie gekannten Dringlichkeit. Die "New York Times" hat über Jahrzehnte peinlich genau auf ihre parteipolitische Unabhängigkeit geachtet. Ihr Ruhm speiste sich aus Recherchen, nicht aus der politischen Haltung der Redakteure. Bis heute gibt es Reporter wie den Washingtoner Chefkorrespondenten Peter Baker, der nie wählen geht, um seine Unabhängigkeit zu demonstrieren.
Seit einigen Jahren aber dringt eine neue Generation in den Newsroom, die diese Ideale für ein Zeichen mangelnden politischen Bewusstseins hält – und zugleich geprägt ist von der Erregungsbereitschaft in den sozialen Medien. "Insofern wird die ‚New York Times‘ nicht vom Chefredakteur Baquet geführt und auch nicht vom Herausgeber Arthur Sulzberger, sondern von Twitter" sagt Yascha Mounk, Professor für Politikwissenschaft an der Johns Hopkins University. […]
Der Zeitung stehen nun schwere Zeiten bevor. Sie hat Hunderttausende junge, akademisch gebildete Leser gewonnen, die das Abonnement auch als Teil des Widerstands gegen Donald Trump begriffen haben. "Nun gibt es die Versuchung, diesen Lesern genau das zu geben, was sie erwarten: eine linke Haltung", sagt eine ehemalige Führungskraft der "Times". Ben Smith, der Medienredakteur des Blatts, formulierte es so: Die Zeitung habe die Wahl, den alten Weg der Meinungsvielfalt zu halten – oder sich zu einem linken Blatt wie dem britischen "Guardian" zu wandeln. […]
Wenn man so will, wird das Blatt von einem Konflikt erschüttert, der das ganze Land zerreißt. Trump hat mit seinen Lügen und seiner Rhetorik die Nation polarisiert, aber es gibt auch einen Dogmatismus von links, der es schwer macht, dass das Land wieder zusammenfindet. Die Rechte konnte Cancel Culture nur deshalb zum Kampfbegriff formen, weil viele Firmen in den USA ihre Mitarbeiter inzwischen schon bei der kleinsten Aufregung im Netz vor die Tür setzen.
[…] Erst vor ein paar Tagen machte eine interne Umfrage die Runde, wonach angeblich fast die Hälfte der "Times"-Redakteure das Gefühl haben, sich im Haus nicht mehr offen äußern zu können. "Als reger Leser der Zeitung frage ich mich da", so Mounk: "Wie kann ich noch ihren Artikeln vertrauen, wenn die Journalisten schon unter sich eingestehen, dass sie nicht mehr ihre eigene Meinung aussprechen können?"
René Pfister; "Haus der Angst", in: DER SPIEGEL Nr. 8 vom 20. Februar 2021, S. 76 f.
QuellentextSpaltung als Geschäftsmodell: Fox News
[…] Am 7. Oktober 1996 geht Fox News auf Sendung. Rupert Murdoch, Medienunternehmer und Selfmade-Milliardär mit einem Hang zum Boulevard und einem entschiedenen Interesse an der Beeinflussung von Politik, hatte auf der Suche nach einem eigenen Nachrichtenkanal zunächst versucht, CNN zu kaufen, doch ohne Erfolg. Also verlegte er sich auf eine Neugründung. Sie gelingt ihm mit Roger Ailes, einem Fernseh-Aficionado und ultrakonservativen Spindoktor der ersten Stunde.
Ailes besitzt ein atemberaubendes Gespür für effektive Inszenierungen. […]. Langeweile sei eine Todsünde auf dem Bildschirm. Von ihm, dem Mann des Spektakels, stammt die sogenannte Orchestergraben-Theorie der Medienwirkung. "Wenn man zwei Leute auf die Bühne stellt", pflegte der 2017 verstorbene Ailes zu dozieren, "und einer sagt: ‚Ich habe eine Lösung für das Problem im Mittleren Osten‘, und der andere fällt in den Orchestergraben: Wer, glauben Sie, wird in den Abendnachrichten gezeigt?"
[…] Ailes ist überzeugt: Das konservative, hart arbeitende, christliche, im Zweifel weiße Amerika brauche endlich einen eigenen Fernsehsender. Und er hat genau beobachtet, wie seit der Aufhebung der sogenannten Fairness-Doktrin im Jahr 1987 (einer Regelung, die die politische Ausgewogenheit von Radiobeiträgen sichern sollte) mit Rush Limbaugh der Typus des rechten, wüst polemisierenden Talkmasters zum Publikumsmagneten im Radiogeschäft aufgestiegen ist. […]
[…] Roger Ailes […] kombiniert, wie bereits die Protagonisten des Talkradios, Ideologie und Entertainment, eben darin liegt sein Erfolgsrezept. Seine Star-Moderatoren – Medienaktivisten der zweiten Generation – haben nicht in Yale oder Harvard studiert, sondern wurden auf dem Boulevard sozialisiert. Erst diese Mischung aus Spektakel, politischem Furor und ideologiekonformem Relativismus verändert das Kommunikationsklima fundamental.
Das bedeutet nicht, dass bei Fox News nicht auch Journalisten arbeiten, die sich gegen Exzesse der Agitation […] positionieren. […]. Aber ihre Stimmen fallen in der Summe nicht ins Gewicht. Sie haben eher Feigenblatt-Funktion. Prägend für den Sender ist die schrittweise Demontage des klassischen Journalismus mit seinem Bemühen um Faktizität und Fairness, Proportionalität und Relevanz. Man zieht Spektakelthemen hoch und berichtet in steter Routine von verkommenen Liberalen und brandgefährlichen Linken. Man lässt vermeintlich neutrale Experten auftreten, die tatsächlich von ultrakonservativen Lobbyorganisationen bezahlt werden. Und man verwischt die Grenze zwischen Nachricht und Meinung durch einen Stil bombastischer Ankündigungen, der als brisante Enthüllung verkauft, was bei näherer Betrachtung bloße Behauptung ist ("schlimmer als Watergate" – "der größte Skandal der amerikanischen Geschichte").
[…] In der Rückschau gibt es einige symptomatische Ereignisse, die die schrittweise Radikalisierung und spätere Trump-Fixierung von Fox News als ein Zusammenspiel von individueller Skrupellosigkeit und stramm konservativer Ideologie begreifbar machen, als ein Gemisch aus Quoten- und Erregungsgier.
2001: Nach den Anschlägen vom 11. September verschärft Fox News seine Attacken auf einen angeblich verweichlichten, unpatriotischen Journalismus, der sich nicht mehr traue, Terroristen auch Terroristen zu nennen. Es regiert nun dröhnende Kriegsrhetorik. Die Einschaltquoten schnellen in die Höhe. Fox News überholt in dieser Zeit CNN und wird zum meistgesehenen Kabelsender der USA.
2004: Die Angriffe auf den demokratischen Präsidentschaftskandidaten John Kerry werden zum Musterbeispiel einer brutalen Schmutzkampagne. Kerry habe seine militärischen Auszeichnungen nicht verdient und über seine Rolle im Vietnamkrieg gelogen, heißt es bei Fox News. Das ist falsch. Aber was die von einem republikanischen Großspender finanzierten Vertreter der sogenannten Swift Boat Veterans for Truth (»Schnellboot-Veteranen für die Wahrheit«) und ihre Unterstützer in Fox News-Sendungen behaupten, zeigt trotzdem Wirkung. Swiftboating bezeichnet seitdem frei erfundene, gleichwohl vernichtende Lügenstorys.
2008: Ein weiterer Markstein ist die Wahl Barack Obamas. Vom ersten Tag seiner Präsidentschaft an erscheint er im Kosmos von Fox News als der fremde, womöglich muslimische Präsident, der insgeheim den Sozialismus einführen will. […]
Von 2011 an schließlich wirbt der Quotenbringer Donald Trump bei Fox & Friends für seine Reality-TV-Sendung The Celebrity Apprentice auf NBC. Gleichzeitig kolportiert er Woche für Woche die bizarre Annahme der Birther-Bewegung, Barack Obama sei nicht in den USA geboren und habe daher das Präsidentenamt zu Unrecht inne. […] Zugleich werden hier die Auswirkungen der digitalen Revolution greifbar. Die bizarren Ideen der Birther diffundieren blitzschnell von randständigen Netzplattformen ins Zentrum des Diskurses. […]
In diesem Paralleluniversum einer radikal parteiischen Publizistik ist Fairness eine Schwäche und die Spaltung der Gesellschaft Geschäftsmodell und Lebenselixier. […]
Bernhard Pörksen ist Professor für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen und Fellow des Thomas Mann House in Los Angeles.
Bernhard Pörksen, "Wut schlägt Wahrheit", in: Die Zeit N. 43 vom 15. Oktober 2020
Kommerzialisierung und Konzentration haben ihren Preis: weniger Auswahl und noch weniger Qualität. Die Medienlandschaft in den USA hat sich in den letzten Jahren merklich politisiert. Weit entfernt vom Ideal unabhängiger Berichterstattung verhalten sich viele US-Journalisten wie Gegner im politischen Zweikampf. Viele sind Teil von Koalitionen, die bestimmte Themen oder politische Tendenzen befördern (issue networks; advocacy coalitions). Die Grenzen zwischen Journalismus und politischem Aktionismus sind häufig nicht mehr erkennbar. Die offensichtlichsten Beispiele sind die TV-Sender Fox und MSNBC (ein Gemeinschaftsunternehmen von NBC Universal und Microsoft).
Die Einseitigkeit der Medienangebote führt dazu, dass auch die Rezipientinnen und Rezipienten in jeweils eigenen Welten leben. Sie lassen sich mit anderslautenden Meinungen nicht mehr behelligen. Die Republikaner informieren sich über Fox News, während MSNBC den Demokraten als Informationsquelle dient. Beide Lager können sich mittlerweile auch im Alltag nicht mehr über die gleiche Realität unterhalten, weil die Wahrnehmungsunterschiede zu groß geworden sind.
Ebenso wenig werden Kompromisse in der politischen Praxis belohnt, im Gegenteil: Der pragmatische Gedanke, bei einem "Deal" die Hälfte des Kuchens zu bekommen, werde sofort mit einem "Bannfluch der konservativen Medien" belegt, sagte Tom Cole, ein ehemaliger Politikprofessor, der heute Teil der Führungsriege der Republikaner im Abgeordnetenhaus ist. Damit tragen auch die Medien zur Polarisierung bei, die mittlerweile das politische System der USA lähmt.
QuellentextProtest im Zerrspiegel politisierter Medienberichterstattung
Als Demonstranten am 8. Juni [2020] nach tagelangen Auseinandersetzungen mit der Polizei ein Viertel in Seattle besetzten und zur polizeifreien Zone erklärten, zog das viel Medienaufmerksamkeit auf sich – noch bevor Seattles Bürgermeisterin Jenny Durkan das Gebiet nach Schießereien mit zwei Todesopfern am 1. Juli durch die Polizei räumen ließ. Aber was sich hinter den Barrikaden von Chaz, der Capitol Hill Autonomous Zone, später in Chop, Capitol Hill Organized Protest, umbenannt, abspielte, das war gar nicht so leicht auszumachen. An den "Black Lives Matter"-Demonstrationen entzünden sich in Amerika die politischen Gemüter, und das ließ unglücklicherweise auch die Medien nicht unberührt.
Bei Fox News offenbarten die Bilder einen Blick in die Hölle: Zu dräuender Musik sah man hier Junkies, die ins Leere stierten, einen Halbnackten, der mit einer leeren Flasche umhertanzte, eingenässte Hosen. Man sah finster dreinblickende, schwergewichtige Afroamerikaner mit einem Gewehr im Arm durch die Straßen marschieren und mehrere Handgemenge. Demnach war das Leben in der selbsterklärten autonomen Zone in Seattles Innenstadt zweifellos eine Ansammlung von Anarchisten und Suchtkranken, von Elend und Gewalt und Nihilismus – ein einziger Albtraum.
Doch der britische "Guardian" zeigte in einem am selben Tag, dem 16. Juni, veröffentlichten Video komplett andere Bilder aus der Zone: Aktivisten mit bunten Blümchenmasken, Jogger mit Hunden, Menschen, die Kinderwagen und Fahrräder durch eine Gegend schieben, die wie ein Straßenfest wirkt. "Schauen Sie nur!", sagt der Fotoreporter Alex Garland zu Aufnahmen von Straßenbemalungen, Musikbühnen und einem Stand mit Gratissnacks und -getränken. Rund um einen Gemeindegarten waren Dutzende Zelte aufgebaut, die Sonne schien, fröhliche Musik klimperte im Hintergrund. Hier wurde gezeigt, dass in der autonomen Zone von Seattle hoffnungsvolle Weltverbesserer agieren.
[…] Die Lage in Seattle legte allerlei Klischees nahe. Und die Medien gaben sich wenig Mühe, diese nicht auszubeuten. Fox News stellte Chaz/Chop als Anarchisten-Mekka dar und veröffentlichte am 12. Juni auf seiner Website eine Reihe von gefälschten oder aus dem Kontext gerissenen Bildern – darunter digital manipuliertes Material mit einem eingefügten Bewaffneten sowie Bilder von brennenden Gebäuden und Autos, die in Minnesota aufgenommen worden waren. Der Sender entschuldigte sich später, aber beim Publikum hatten die Bilder ihre Wirkung schon getan. Auch die konservative Presse sah Apokalyptisches – die "Washington Times" beschrieb die Zone als Szene aus dem Film "Mad Max", einer anarchistischen Dystopie.
Die "New York Times" dagegen berichtete, die Demonstranten hätten hier ein "Heimatland ethnischer Gerechtigkeit" geschaffen. "USA Today" sprach von einer "Demonstranten-Oase". Die "Washington Post" schrieb über die lange Tradition "kommunaler Experimente", die bis zu der "City upon a Hill" des Puritaners John Winthrop im Jahr 1630 zurückreiche. Als die Zone schließlich geräumt wurde, ereiferte sich ausgerechnet Fox News, dass hier einmal mehr die Informationen der Mainstream-Medien als "fake news" deutlich geworden seien. Und doch müssen sich manche den Vorwurf undifferenzierter Berichterstattung gefallen lassen.
Alex Garland, der Reporter, der das Video für den "Guardian" drehte, ist in Seattles Capitol Hill ansässig. "Ich habe Beziehungen zu diesen Leuten", sagt Garland im Gespräch. Er findet, dass man sie vielfach in ein falsches Licht gerückt hatte. Es habe enorm viel irreführende Berichterstattung gegeben – etwa das Bild eines Mannes, der von Demonstranten aus der Zone hinausgedrängt wird. Es war unkommentiert in dem Fox-News-Video zu sehen. "Das war ein Straßenprediger, der mit seinen Lautsprechern alles übertönte und der mehrfach aufgefordert worden war, Rücksicht zu nehmen", sagt Garland. Dass ihm selbst die Distanz gefehlt habe, glaubt er nicht. "Ich ziehe kommunalen Journalismus solcher Berichterstattung vor, in der Fremde kurzfristig in eine Situation eintauchen." Natürlich hätte er den Blick auch aufs Negative richten können, sagt Garland. "Aber ich habe die Geschichte erzählt, die hier aus meiner Sicht dominierte." Über das, was der "Guardian" aus seinem Material machte, sagt Garland, er sei "froh, dass das, was gesagt werden musste, gesagt wurde". […]
An dem Wochenende, an dem Alex Garland und Fox News in Capitol Hill filmten, war auch Isaac Rosenbaum vor Ort. Rosenbaum ist Anthropologiestudent der UCLA in San Diego und veröffentlicht auf seinem Youtube-Kanal "Connect Culture" Videos über Besuche in kulturellen Enklaven: New-Age-Kommunen, Anarchisten-Dörfer, Flüchtlingslager. Als er von Chaz hörte, machte er sich Mitte Juni auf den Weg nach Seattle und fand ebenfalls zunächst Straßenfestatmosphäre vor. Aber er sah auch anderes: einen Mann, der seine Feuertreppe verbarrikadierte etwa oder Auseinandersetzungen, bei denen Fäuste flogen. "Spannungen machten sich breit, nachdem die Wochenendtouristen verschwunden waren, es gab viel Wut", sagt Rosenbaum. Einiges erschien ihm ironisch – etwa dass Leute, die von Liebe und Einigkeit sprachen, andere anschrien. All das zeigt er auf seinem Kanal. Er filmte, wie ein Mann in einem Trump-T-Shirt bedrängt wurde, während andere ihn schützten. Als er seine Videos veröffentlichte, präsentierte er eine der differenziertesten Darstellungen, die über die Enklave in Seattle zu sehen waren. Sie ließ die Profis der Presselandschaft ziemlich alt aussehen.
Nina Rehfeld, "Auf den Straßen von Seatte. Zone der Gewalt oder Ort des Friedens?", in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 16. Juli 2020; © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv