Konkurrenz und Kontrolle: temporale Macht durch Wahlen
Josef Braml
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Die wahlberechtigten Bürgerinnen und Bürger verleihen die Macht an ihre Repräsentanten nur auf Zeit. Heutzutage bilden sie zwei etwa gleichgroße politische Lager und sind immer weniger kompromissbereit.
Alle Macht geht vom Volke aus. Indem Macht nur für eine bestimmte Zeit gewährt wird, soll sie vom Volkssouverän unmittelbar kontrolliert werden können. So wird der US-Präsident für eine Amtszeit von vier Jahren gewählt; seit dem 22. Verfassungszusatz von 1951 ist die maximale Amtszeit auf zwei Perioden – also acht Jahre – begrenzt. Die Amtszeit der 435 Repräsentanten des Abgeordnetenhauses beträgt zwei Jahre, jene der 100 Senatorinnen und Senatoren sechs Jahre. Alle zwei Jahre steht ein Drittel der Senatssitze zur Wiederwahl an. Während bei den Kongresswahlen in den jeweiligen Wahlkreisen und Einzelstaaten wenig Wettbewerb zwischen den Parteien herrscht und die Amtsinhaber hohe Wiederwahlchancen haben, ist die Nation bei Präsidentschaftswahlen mittlerweile in zwei etwa gleich große Lager gespalten.
QuellentextAktives und passives Wahlrecht
Aktives Wahlrecht: Das Mindestalter für das aktive Wahlrecht wurde mit dem 1971 erlassenen 26. Verfassungszusatz von 21 auf 18 Jahre gesenkt. Wahlberechtigt sind alle Männer und, seit dem 19. Verfassungszusatz von 1920, auch Frauen. Wahlberechtigte müssen sich in Wahlregister ihres Bundesstaates bzw. Wahlkreises eintragen lassen. Dabei muss man sich als potenzieller Wähler/potenzielle Wählerin der Demokraten, Republikaner oder als Unabhängiger identifizieren. Die Registrierung und Angabe der Parteipräferenz ist nötig, um sich an den Vorwahlen beteiligen zu können, in denen die Kandidaten der Parteien gekürt werden. Bei geschlossenen Vorwahlen (closed primaries) dürfen nur Wählerinnen und Wähler teilnehmen, die sich als Anhängerinnen bzw. Anhänger der jeweiligen Partei registriert haben. Bei offenen Vorwahlen (open primaries) hingegen darf jeder registrierte Wähler teilnehmen. Da die Organisation der Wahlen – auch von denen der nationalen Ebene – im Kompetenzbereich der Einzelstaaten liegt, gibt es kein einheitliches, bundesweites Wahlverfahren. In der heutigen Praxis gelten vielfältige Einzelbestimmungen, etwa bei der Registrierung und technischen Durchführung von Wahlen. Die mancherorts für US-amerikanische Verhältnisse hohen Auflagen (etwa die Pflicht, einen gültigen Ausweis oder Urkunden vorzulegen) hemmen die Wahlbeteiligung, insbesondere jene sozial schwacher Schichten. Mit dem Urteil des Supreme Court im Juni 2013 im Fall Shelby County v. Holder ist diese Problematik erneut zum Gegenstand heftiger politischer Auseinandersetzungen geworden, nicht zuletzt zwischen dem Bund und den Einzelstaaten.
Passives Wahlrecht: Die Auflagen für das Recht, gewählt zu werden, sind je nach Amt verschieden: Das Mindestalter, um Präsident zu werden, beträgt 35 Jahre, Senatoren müssen 30, Abgeordnete mindestens 25 Jahre alt sein. Um sich für das höchste Amt im Staate, die Präsidentschaft, zu bewerben, muss der Kandidat oder die Kandidatin die US-amerikanische Staatsangehörigkeit von Geburt an besitzen und in den zurückliegenden 14 Jahren in den USA gelebt haben.
Josef Braml
Wettbewerbsverzerrungen bei Kongresswahlen
Kritische Stimmen fordern seit längerem ein sogenanntes term limit, sprich eine maximale Amtsdauer von Mitgliedern des Kongresses, um mehr Wettbewerb bei den Wahlen zu ermöglichen. Denn nur Sitze, die frei werden (open seats) – wenn ein Abgeordneter oder Senator etwa aus Altersgründen nicht mehr zur Wiederwahl antritt –, sind wirklich umstritten. Die Amtsinhaber (incumbents) genießen einen Amtsbonus aufgrund ihres Bekanntheitsgrades, ihrer Erfahrung sowie ihrer Wohltaten in ihren Wahlkreisen bzw. Einzelstaaten während ihrer bisherigen Mandatstätigkeit. Zudem gehen die üppigen Wahlkampfzuwendungen von Interessengruppen ungeachtet der Parteizugehörigkeit fast ausschließlich an die incumbents, Herausforderer haben somit nur Außenseiterchancen.
Der Wettbewerb bei den Wahlen zum Abgeordnetenhaus wird zudem durch das Zuschneiden der Wahlkreise eingeschränkt. Nach jeder alle zehn Jahre stattfindenden Volkszählung sind die Parlamente und/oder Regierungen der Einzelstaaten angehalten, die Wahlkreisgrenzen für die Wahl ihrer Repräsentanten in Washington den demografischen Entwicklungen anzupassen. Dabei versuchen diese seit jeher, Vorteile für die eigene Partei herauszuschlagen. Seitdem der Gouverneur von Massachusetts, Elbridge Gerry, Anfang des 19. Jahrhunderts einen Wahlkreis derart zuschnitt, dass er – wie ein zeitgenössischer Zeitungskarikaturist ironisch bemerkte – wie ein Salamander aussah, wird diese Manipulation als "gerrymandering" bezeichnet (eine Kombination aus "Gerry" und dem Wortende von "Salamander"). Mittlerweile ist die Technik des Zuschneidens derart verfeinert worden, dass in vielen Wahlkreisen der eigentliche Wettbewerb nicht mehr zwischen den Parteien, sondern innerhalb des jeweiligen Lagers ausgetragen wird.
Zudem grenzen sich die Lebensräume der beiden politischen Lager immer stärker voneinander ab. Viele US-Amerikaner wählen ihren Wohnort nach sozialen, ethnischen, religiösen und politischen Kriterien, sie lassen sich dort nieder, wo sie Gleichgesinnte vermuten. Damit werden die Wahlkreise homogener. Die Bewohnerinnen und Bewohner von Demokratischen oder Republikanischen "Inseln" haben so noch weniger Möglichkeiten, sich im Alltag mit der Meinung Andersdenkender auseinanderzusetzen, zumal viele auch aufgrund ihrer Berufswahl und ihres Medienkonsums in verschiedenen Welten leben.
Diese beiden Entwicklungen, das politische gerrymandering und die gesellschaftliche Abgrenzung, haben dazu beigetragen, dass sich in den Vorwahlen immer mehr Kandidierende mit extremen Positionen durchgesetzt haben, weil sie nunmehr alles daran setzen mussten, den harten Kern der homogeneren eigenen Wählerschaft, die sogenannte Basis (base), anzusprechen und sich weniger um heterogenere und gemäßigtere Wählerschaften der Mitte bemühen müssen.
Die so gewählten Repräsentanten sind bei ihrer Tätigkeit im Parlament dann auch gut beraten, extreme Positionen zu vertreten. Sie haben keine Anreize, in der Gesetzgebung die nötigen Kompromisse mit dem anderen Lager einzugehen, weil sie damit Gefahr laufen, bei der nächsten Vorwahl von einem parteiinternen Herausforderer angegriffen zu werden, der vorgibt, die Interessen des Wahlkreises kompromissloser zu vertreten. Die sogenannte Polarisierung, das Auseinanderdriften der Positionen in der politischen Auseinandersetzung im Abgeordnetenhaus, hat demnach auch strukturelle, im Wahlsystem und in der Gesellschaft angelegte Gründe.
QuellentextAuswirkungen der Bevölkerungsentwicklung auf die Politik
[…] Am [26. April 2021] […] wurden erste Daten der alle zehn Jahre stattfindenden Volkszählung aus dem vergangenen Jahr veröffentlicht. Der Befund: Der Süden und der Westen Amerikas wachsen kräftig und werden politisch im Vergleich zum Nordosten und Mittleren Westen immer bedeutsamer. Insgesamt ist die Einwohnerzahl in den Vereinigten Staaten zwischen 2010 und 2020 um 7,4 Prozent auf 331 Millionen gestiegen. Es ist das zweitniedrigste Wachstum seit 1790, teilte das "US Census Bureau" mit. Nur in den dreißiger Jahren war die Wachstumsrate niedriger. Seinerzeit hing dies mit der Großen Depression zusammen. Heute ist das für amerikanische Verhältnisse niedrige Wachstum eine Folge der restriktiveren Migrationspolitik und einer niedrigen Geburtenrate. Hinzu kommt, dass die Alterskohorte der Nachkriegsgeneration allmählich aus dem Leben scheidet. […]
Die Ergebnisse der Volksbefragung sind Grundlage für die Vergabe der Bundesmittel. Nach ihr berechnet sich zudem die Zuteilung der Kongressbezirke zu den Bundesstaaten. Die Zahl der Mitglieder des Repräsentantenhauses ist nämlich auf 435 festgelegt. Durch diese Zuteilung hat die Volkszählung auch Einfluss auf die Wahlmännerstimmen in Präsidentenwahlen. Das Resultat der jüngsten Zählung verschiebt sieben Sitze: Texas erhält künftig zwei zusätzliche Mandate, Florida, Colorado, Montana, North Carolina und Oregon gewinnen jeweils einen weiteren Sitz hinzu. Dagegen werden Kalifornien, Illinois, Michigan, New York, Ohio und Pennsylvania [und West Virginia] je einen Sitz verlieren. Kurzum: der "Sunbelt" gewinnt, der "Rustbelt" verliert. Die demographische Verlagerung spiegelt die wirtschaftliche Entwicklung in Amerika wider.
Texas hat seine Zahl an Kongresssitzen in den vergangenen hundert Jahren fast verdoppelt; Florida sogar mehr als verfünffacht. Zwar sind die gering besiedelten Bundesstaaten Utah (plus 18 Prozent) und Idaho (plus 17 Prozent) im vergangenen Jahrzehnt die am stärksten wachsenden Regionen gewesen. In absoluten Zahlen wächst jedoch kein Staat so schnell wie Texas (plus 16 Prozent): Mehr als 29 Millionen Einwohner leben dort. Es ist der bevölkerungsreichste Staat nach Kalifornien mit 39,5 Millionen Einwohnern. Seit den siebziger Jahren erhielt der "Lone Star State" nach jeder Volkszählung mehr Sitze; Florida, das nun New York überrundet hat und mit 21,5 Millionen Einwohnern der drittgrößte Bundesstaat ist, hat nach jedem "Census" seit 1890 Kongresssitze dazugewonnen.
Auch Kalifornien hat im zwanzigsten Jahrhundert die Zahl seiner Sitze fast verfünffacht. Nach der Zählung von 2010 blieb die Kongressdelegation der Westküste aber erstmals gleich groß; nun verliert der "Golden State" sogar einen Sitz und verfügt künftig nur noch über 52, da die Bevölkerung lediglich um sechs Prozent wuchs. Freilich hat Kalifornien immer noch die mit Abstand größte Delegation; Texas wird künftig 38 [40 – Anm. J.B.] Mitglieder des Repräsentantenhauses stellen. An der Ostküste setzt sich der Abwärtstrend fort: New York (plus vier Prozent) verliert nun zum achten Mal hintereinander einen Kongresssitz, Pennsylvania (plus zwei Prozent) sogar nach jeder Zählung seit hundert Jahren. Einen tatsächlichen Bevölkerungsrückgang gibt es nur im wirtschaftlich gebeutelten West Virginia sowie in Illinois und Mississippi. […]
QuellentextAuswirkungen der Bevölkerungsentwicklung auf die Gesellschaft
In den USA sind die Ergebnisse des jüngsten Zensus veröffentlicht worden.
Demnach ging der Anteil der Weißen an der Gesamtbevölkerung zwischen 2010 und 2020 um 8,6 Prozent zurück – auf rund 204 Millionen Menschen. […]
Nach offiziellen Angaben stellen sie jedoch weiter die größte Bevölkerungsgruppe dar: mit einem Anteil von 61,6 Prozent an der Gesamtbevölkerung von rund 330 Millionen Menschen. […]
Die Statistiker stellten allerdings fest, dass die US-Bevölkerung deutlich gemischter und vielfältiger sei, als es Zählungen in der Vergangenheit ergeben hätten. Das liege sowohl an demografischen Veränderungen als auch an neuen Erhebungsmethoden.
Weitere Ergebnisse im Überblick:
Die Zahl der Menschen mit spanischen oder lateinamerikanischen Wurzeln wuchs in den USA seit 2010 um 23 Prozent auf rund 62 Millionen. Sie machen damit 18,7 Prozent der Gesamtbevölkerung aus.
In Kalifornien ist diese Gruppe inzwischen die größte: Die Zahl der Menschen mit spanischen oder lateinamerikanischen Wurzeln in dem Bundesstaat stieg auf 39,4 Prozent, während der Anteil der Weißen im selben Zeitraum auf 34,7 Prozent sank.
Der Anteil der Afroamerikaner an der Gesamtbevölkerung liegt bei 12,4 Prozent.
Asiatischstämmige Menschen machen sechs Prozent der Bevölkerung aus.
Einen bedeutsamen Sprung machte die Zahl jener, die sich in den USA als Angehörige mehrerer dieser und anderer Bevölkerungsgruppen identifizieren – in verschiedensten Kombinationen. Ihre Gruppe wuchs laut Zensus von 9 Millionen im Jahr 2010 auf 33,8 Millionen im Jahr 2020 – ein Anstieg um 276 Prozent. […]
Amerika kennt kein Meldewesen. Deshalb schreibt die Verfassung vor, dass alle zehn Jahre die in Amerika lebenden Menschen gezählt werden müssen. Der erste Zensus fand 1790 statt.
Die Ergebnisse der Volkszählung sind von größter Bedeutung: Jährlich werden mehr als 400 Milliarden Dollar für Kliniken, Schulen, Straßen und andere Infrastruktur nach Maßgabe des Zensus verteilt. […]
"Zahl der Weißen in den USA geht erstmals zurück", in: DER SPIEGEL Online vom 13. August 2021 aar/dpa
Bei den Präsidentschaftswahlen ist der Wettbewerb zwischen den beiden Parteilagern sehr viel härter. Die USA scheinen sich zu einer "50:50-Nation" entwickelt zu haben. Seit den Wahlen von 1984, bei denen der Republikaner Ronald Reagan seinen Demokratischen Herausforderer Walter Mondale deklassierte, gab es keinen Sieger mehr, der viel mehr als 53 Prozent der Stimmen auf sich vereinen konnte. Einige haben sogar mit weniger als der Hälfte der abgegebenen Stimmen (popular vote) gewonnen, so zweimal Bill Clinton (1992 und 1996) sowie George W. Bush (2000) und Donald Trump (2016).
Der Demokrat Joe Biden wurde hingegen mit einer Rekordzahl von etwas über 81 Millionen, also der knappen Mehrheit von 51 Prozent der Stimmen, zum Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika gewählt. Trotz der von seinem Vorgänger Donald Trump geschürten Befürchtungen vor einer umstrittenen Wahl wurde Biden letztendlich am 14. Dezember 2020 mit einer deutlichen Mehrheit von 306 der insgesamt 538 Wahlleute des electoral college zum Präsidenten gekürt und am 20. Januar 2021 vereidigt und inauguriert, also ins Amt eingeführt.
Doch bei genauerer Betrachtung war Bidens Wahlsieg hauchdünn. Trump fehlten in Georgia, Arizona und Wisconsin, den drei Staaten mit den knappsten Wahlausgängen, zusammengenommen weniger als 45.000 Stimmen, um die Wahl doch noch für sich zu entscheiden. Hätten also nur 45.000 Wählerinnen und Wähler mehr für Trump gestimmt, hätte er im Wahlkollegium 37 weitere Stimmen erhalten und die Präsidentschaftswahl gewonnen. Denn bei einem Gleichstand von jeweils 269 Stimmen wäre laut Verfassung die Wahl dann vom Repräsentantenhaus entschieden worden, wobei jede Einzelstaatsdelegation nur eine Stimme erhalten hätte. Obwohl die Demokraten über eine Mehrheit im Repräsentantenhaus verfügen, haben mehr Einzelstaatsdelegationen Republikanische Mehrheiten. Trump wäre wiedergewählt worden.
QuellentextWahlrechtsänderungen als Mittel zum Machterhalt?
[…]. Die Parlamentsmehrheit [in Talahassee, Florida] verabschiedete [im April 2021] Änderungen des Wahlgesetzes. Florida folgt damit dem Beispiel Georgias, wo eine ähnliche "Wahlrechtsreform" gebilligt worden war. […]
Worum geht es? Das Gesetz erschwert vor allem die Möglichkeiten der Brief- und Frühwahl, von der im vergangenen Jahr pandemiebedingt überproportional Demokraten Gebrauch gemacht hatten. Es sieht vor, dass Wähler sich – anders als bisher – nicht mehr generell als Briefwähler registrieren lassen können, sondern bei jeder einzelnen Wahl die Briefwahl beantragen müssen. Zudem werden die Regularien für Frühwähler verschärft: So sollen mobile Wahllokale verboten werden und feste Standorte für Wahlurnen nur noch zu bestimmten Tageszeiten geöffnet sein. Wähler müssen sich künftig mit einem in Florida ausgestellten Führerschein ausweisen – bislang reichte die Registrierung des Wählers und der Unterschriftenabgleich aus. Letzterer wird künftig zudem auf die letzte elektronisch erfasste Unterschrift beschränkt, was nach Meinung der Kritiker die Möglichkeit der Nichtübereinstimmung erhöht. Auch soll es Familienmitgliedern nur noch eingeschränkt möglich sein, verschlossene Stimmzettel etwa für die Großeltern oder erkrankte Verwandte abzugeben.
Die Änderungen orientieren sich an dem Gesetz von Georgia, das noch weitgehender ist. In dem Südstaat, in dem es nach dem 3. November zu den schärfsten Auseinandersetzungen kam und Trump die republikanischen Wahlbehörden in Atlanta massiv unter Druck setzte, ausreichend Stimmzettel "zu finden", damit er vorne liege, wird künftig die Zahl der Wahllokale, in denen Frühwähler ihre Stimmzettel abgeben können, erheblich reduziert. So gab es in den vier bevölkerungsreichsten Kreisen Georgias – allesamt Hochburgen der Demokraten – im Jahr 2020 94 Wahllokale zur vorzeitigen Stimmabgabe; 2022 werden es nur noch 23 sein. Schon im vergangenen Herbst war es zu langen Schlangen vor den Wahllokalen gekommen, in denen ältere Bürger zum Teil stundenlang warten mussten. Künftig ist es in Georgia verboten, dass Wahlhelfer der Parteien den Wählern Getränke oder Snacks anbieten – offiziell um Wählerbeeinflussung zu unterbinden.
Aus deutscher Sicht erscheint es zunächst unproblematisch, dass sich Wähler mit einem Personalausweis identifizieren müssen. Auch lässt der Umstand, dass eine Briefwahl eigens beantragt werden muss, noch keine Alarmglocken schlagen. Warum geißelt Präsident Biden dann die Maßnahmen als neue "Jim Crow"-Gesetze – in Anlehnung an Bestimmungen in den Südstaaten nach der Abschaffung der Sklaverei, mit denen Afroamerikanern etwa über schikanöse Lese- und Schreibtests das Wahlrecht genommen wurde? Warum wenden sich auch Unternehmen gegen "Wählerunterdrückung" und drohen damit, ihre Standorte in Georgia aufzugeben?
Kritiker der Wahlrechtsänderungen verweisen darauf, dass es überhaupt keine Beweise für Wahlbetrug in einer Größenordnung gegeben habe, die das Resultat hätte beeinflussen können. Die Summe der Einzelmaßnahmen ziele darauf, insbesondere Afroamerikanern und anderen "persons of color" die Stimmabgabe zu erschweren. Die Mehrheit der republikanischen Wähler sei weiß, lebe in Vororten, wähle am eigentlichen Wahltag und verfüge über einen Führerschein, der in Amerika als Ausweisdokument gilt.
Afroamerikanische Bürger, die zu achtzig Prozent den Demokraten zuneigen, sind traditionell schwerer zu mobilisieren. Für diese werden die Wahlhürden nun erhöht: sei es durch die restriktiven Öffnungszeiten der Wahllokale für Frühwähler, die Bürger, die zwei oder drei Jobs haben, um über die Runden zu kommen, entmutigen. Sei es durch die Reduzierung der Wahllokale oder durch verschärfte Ausweispflichten. So manche ältere schwarze Dame etwa, die zum Beispiel weder Auto fährt noch je das Land verlassen hat und folglich auch keinen Pass besitzt, verfügt über gar kein Ausweisdokument. Ihre historisch bedingt geringe Neigung, sich an die Behörden zu wenden, wird durch weite Wege nicht größer. In mehrheitlich schwarzen Wohngegenden ist nicht nur die Dichte an Wahllokalen, sondern auch jene an Bürgerämtern geringer. […]
QuellentextZentrale Ergebnisse einer Nach-Wahl-Analyse des Pew Research Center
Joe Biden konnte bei den Wählerinnen und Wählern in den Vororten zulegen. Während 2016 nur 45 Prozent der Wählerinnen und Wähler in Vororten Hillary Clinton unterstützten, erhielt Biden vier Jahre später 54 Prozent der Stimmen dieser Wählerschaft. Gleichzeitig steigerte Trump seinen Stimmenanteil unter den ländlichen Wählenden von 59 (2016) auf 65 Prozent (2020).
Donald Trump machte Zugewinne bei der hispanischen Wählerschaft. Zwar erhielt Biden 2020 die Mehrheit der Stimmen der hispanischen Wählerinnen und Wähler. Doch Trump erzielte Zuwächse in dieser Gruppe. Dabei schnitt Trump bei Latinas und Latinos ohne College-Abschluss wesentlich besser ab als bei hispanischen Wählerinnen und Wählern mit College-Ausbildung (41 versus 30 Prozent).
Abgesehen von der kleinen Verschiebung unter der hispanischen Wählerschaft war Joe Bidens Wahlkoalition ethnischer Minderheiten der von Hillary Clinton sehr ähnlich. Schwarze Wählerinnen und Wähler blieben der Demokratischen Partei mit überwältigender Mehrheit treu und stimmten mit 92 Prozent für Biden.
Biden erzielte Gewinne bei Männern, während Trump sich bei Frauen verbesserte und sich somit die Kluft zwischen den Geschlechtern verringerte. Im Jahr 2020 waren die Stimmen der Männer fast gleichmäßig zwischen Trump und Biden aufgeteilt, anders als 2016, als Trump deren Stimmen noch mit 11 Punkten Vorsprung gewann. Trump erzielte 2020 einen etwas größeren Anteil an Frauenstimmen als 2016 (44 versus 39 Prozent), während Bidens Anteil unter den Frauen fast identisch mit dem von Clinton war (55 versus 54 Prozent).
Biden verbesserte sich gegenüber Clinton unter Weißen Wählenden ohne College-Abschluss. Weiße Wählerinnen und Wähler ohne College-Abschluss waren entscheidend für Trumps Sieg im Jahr 2016, als er diese Gruppe mit 64 zu 28 Prozent gewann. Im Jahr 2020 verbesserte Biden Clintons Leistung bei den Wahlen 2016, indem er 33 Prozent dieser Stimmen erhielt. Aber Trumps Stimmenanteil in dieser Gruppe – die in diesem Jahr 42 Prozent der gesamten Wählerschaft ausmachte – war fast identisch mit seinem Stimmenanteil im Jahr 2016 (65 Prozent).
Biden erhielt etwas größere Unterstützung bei einigen religiösen Gruppen, während Trump seinen Vorsprung behauptete. Trumps ohnehin starke Unterstützung unter Weißen evangelikalen Protestantinnen und Protestanten stieg weiter an (von 77 Prozent im Jahr 2016 auf 84 Prozent im Jahr 2020). Hingegen unterstützten mehr Wählende, die sich als Atheisten und Agnostiker verstehen, Biden als vier Jahre zuvor Clinton.
Dass es trotz eines deutlichen Vorsprungs bei den Gesamtstimmen (popular vote) einmal mehr zu einer knappen Entscheidung beim Wahlausgang kam, liegt an der Zusammensetzung des Wahlkollegiums (electoral college) und dessen entscheidender Abstimmung (electoral vote). Mit zwei Ausnahmen – Maine und Nebraska, die ihre Stimmen entsprechend den Mehrheiten in kleineren Einheiten (Wahlkreisen) auf beide Kandidaten verteilen – erhält der Gewinner eines Einzelstaates alle Wahlleutestimmen, die dieser zu vergeben hat: "The winner takes it all" lautet das Prinzip. Gewählt ist schließlich derjenige, der mindestens 270 Stimmen, also mehr als die Hälfte der zu vergebenden 538 Wahlleutestimmen, erzielt.
Bevölkerungsreiche Staaten zählen mehr als spärlich besiedelte: Nach der jüngsten Volkszählung im Jahr 2020 entsendet Kaliforniern künftig 54, Wyoming dagegen nur drei Wahlmänner und -frauen ins Kollegium. Letzten Endes ist jedoch weniger die Größe der Einzelstaaten als vielmehr ein anderes Kriterium von Bedeutung: Da aufgrund des bisherigen Wählerverhaltens viele Staaten ohnehin als vergeben anzusehen sind (zum Beispiel gehen die Wahlleutestimmen Kaliforniens und New Yorks regelmäßig an die Demokraten, die Stimmen von Texas an die Republikaner), sind nur einige hart umkämpfte Einzelstaaten (battleground states) wirklich wahlentscheidend. Das sind vor allem solche, die in der Vergangenheit zwischen den beiden Parteien hin- und hergependelt sind und deshalb auch als swing states bezeichnet werden.
Während die meisten Bürgerinnen und Bürger der Vereinigten Staaten von Amerika von den Wahlkampagnen mehr oder weniger unbehelligt bleiben, konzentriert sich die Aufmerksamkeit und geballte Finanzkraft der Präsidentschaftskandidaten und der sie unterstützenden sogenannten externen Organisationen auf etwas mehr als ein Dutzend hart umkämpfter Staaten: Florida (mit 30 Wahlleutestimmen), Pennsylvania (19), Ohio (17), Michigan (15), Georgia (16), North Carolina (16), Virginia (13), Arizona (11), Wisconsin (10), Minnesota (10), Colorado (10), Iowa (6), Nevada (6) und New Hampshire (4). Um aussagekräftige Prognosen zu gewinnen, sollte man sich daher weniger – wie in Deutschland üblich – auf nationale Umfragen stützen, sondern auf jene Einzelstaaten konzentrieren, die letzten Endes ausschlaggebend sind.
Was vielen Menschen, die nur alle vier Jahre das Kopf-an-Kopf-Rennen der beiden Präsidentschaftskandidaten verfolgen, nicht bewusst ist: Mindestens genauso wichtig wie der Wettkampf um das Weiße Haus sind die Kongresswahlen. 435 Sitze im Abgeordnetenhaus und ein Drittel des 100-köpfigen Senats stehen alle zwei Jahre zur Wiederwahl.
Mit den Zwischenwahlen, das heißt den Wahlen zum Abgeordnetenhaus und Senat, die nicht mit den Präsidentschaftswahlen zusammenfallen und somit zwei Jahre nach Beginn der Amtszeit des Präsidenten stattfinden, können die Wählerinnen und Wähler den Spielraum der Exekutive einmal mehr in ihrem Sinne beeinflussen: indem sie dem Präsidenten zu Mehrheiten seiner Partei in beiden Kammern des Kongresses, also zu einem unified government, verhelfen, oder aber ihn durch ein divided government hemmen. Bei dieser Konstellation wird mindestens eine Kammer des Kongresses von der anderen Partei kontrolliert.
Ob die Wählerinnen und Wähler bei ihrer Entscheidung wirklich die Gewaltenkontrolle im Sinn haben, ist jedoch fraglich. Vielmehr dürften sie ihre Abgeordneten bzw. Senatorinnen und Senatoren nach ihren Fähigkeiten und Leistungen beurteilen, um so die wirtschaftliche und soziale Lage in ihrem Wahlkreis bzw. Einzelstaat zu verbessern – nach Kriterien also, die die Wählerschaft unmittelbar persönlich betreffen.
Wahlkämpfe: Finanzierung und Mobilisierung
Die Wählenden, aber auch Interessengruppen können ihrer Stimme mit Geldspenden noch mehr Gehör verschaffen. Im sogenannten permanenten Wahlkampf müssen 435 Abgeordnete und ein Drittel der 100 Senatorinnen und Senatoren einmal mehr – ohne große Hilfestellung ihrer Parteien – als politische Einzelunternehmer schier unvorstellbare Geldsummen einwerben, um ihre Wiederwahl zu sichern. Ebenso sind die Bewerber um die Präsidentschaft immer wieder angehalten, neue Rekorde bei der Einwerbung von Spenden zu brechen. Damit sind Politiker in den USA sehr offen für die "Kommunikation" der Interessengruppen geworden, zumal die Obersten Richter finanzielle Zuwendungen im Wahlkampf wiederholt als Ausdruck der Meinungsfreiheit (freedom of speech) interpretiert haben, die nicht gesetzlich reglementiert werden dürfe.
Als der Supreme Court 1976 im Fall Buckley v. Valeo die gesetzliche Regelung der Politikfinanzierung (die Wahlkampfspenden und die Ausgaben der Kandidaten begrenzt hätte) wegen Einschränkung der persönlichen Meinungsfreiheit für verfassungswidrig erklärte, wurde die rechtliche und institutionelle Position von Partikularinteressen entscheidend aufgewertet. Die spezifische US-amerikanische Interpretation der freedom of speech bedeutet zum einen, dass Meinungen und Interessen bestimmter Gruppen mehr Gehör finden als die anderer. Es wird zum anderen auch zunehmend schwierig, in dem immer größer werdenden Chor von political action committees (PACs) (siehe auch S. 52), Super PACs, Wirtschaftsvertretern, Interessengruppen und betuchten Privatleuten die Stimme der politischen Parteien herauszuhören.
Seitdem der Supreme Court am 21. Januar 2010 im Fall Citizens United v. Federal Election Commission einmal mehr den ersten Verfassungszusatz der Meinungsfreiheit hochhielt, sind alle Dämme gebrochen. Der infolge des Skandals um die Bilanzfälschungen und politischen Verbindungen des texanischen Energiehandelsunternehmens Enron im März 2002 verabschiedete Bipartisan Campaign Reform Act wurde in seinen wesentlichen Bestimmungen wieder aufgeweicht. Die gesetzliche Regulierung, die sogenannte unabhängige Ausgaben (independent expenditures) sowie Themen- und Anzeigenkampagnen (electioneering communication) von Unternehmen, Gewerkschaften und auch gemeinnützigen Organisationen einschränkte, wurde für verfassungswidrig erklärt. Das Center for Responsive Politics schätzte die Ausgaben der "non-party outside groups" bereits im Wahlkampf 2012 auf über eine Milliarde Dollar. Freilich dürfen diese sogenannten externen Organisationen ihre Aktivitäten nicht mit den Kandidaten koordinieren, wenn sie etwa in Schlammschlachten deren Gegner mit Negativ-Anzeigenkampagnen (negative ads) überziehen. Doch wer will das kontrollieren, bei der Vielzahl interessierter Akteure, die electioneering communication betreiben?
Selbst die nachprüfbaren Zuwendungen – sowohl für die Präsidentschaftswahlkämpfe als auch für die Kongresswahlen – haben mittlerweile astronomische Höhen erreicht.
Es gibt noch andere Machtwährungen. Wer über ein politisches Netzwerk von Basisorganisationen verfügt, kann über eine Vielzahl Gleichgesinnter, die von Haus zu Haus gehen, potenzielle Wählerinnen und Wähler direkt ansprechen und ist nicht auf die diffuse und teure Massenkommunikation der Fernsehsender angewiesen.
Bereits in den 1970er-Jahren kommunizierten die Pioniere der Christlich Rechten mit Gleichgesinnten unmittelbar über sogenannte Direct-Mail-Kanäle. Zielgruppenspezifische Kommunikationsformen mit geringen Streuverlusten wie Briefappelle, die mittlerweile durch E-Mail-Kommunikation und Soziale Netzwerke wie Facebook und Twitter ersetzt wurden, sind besonders gut geeignet, kostengünstig den harten Kern der Stammwählerschaft zu mobilisieren und Wahlkampfgeld zu akquirieren. Neue Verkehrs- und Kommunikationswege erhöhten nicht nur die physische, sondern auch die soziale Mobilität der Menschen und damit auch die Dynamik in der politischen Parteienlandschaft.
Wanderung der Wählerschaft
Sehr deutlich wurden die Veränderungen sozialer und politischer Mobilitätsmuster bereits durch die Auflösung von Roosevelts "New Deal"-Koalition. Sie hatte bis in die 1960er-Jahre Bestand und umfasste neben Katholiken, Juden, afroamerikanischen und (liberalen) Mainline-Protestanten auch (konservative) Evangelikale, insbesondere in den Südstaaten. Ausschlaggebend war vor allem die Umorientierung evangelikal-protestantischer, teilweise auch katholischer Wählerinnen und Wähler von der Demokratischen zur Republikanischen Partei. Diese Umorientierung bei zentralen Wählergruppen, das sogenannte realignment, war in den Südstaaten sehr ausgeprägt.
Die Umorientierung hatte mehrere Beweggründe: Zum einen setzte nach dem Zweiten Weltkrieg eine Binnenmigration ein. Teile der afroamerikanischen Landbevölkerung des Südens suchten Arbeit im industrialisierten Nordosten des Landes. Umgekehrt kamen viele Weiße im Zuge der wirtschaftlichen und infrastrukturellen Entwicklung in den Süden.
Aus Protest gegen den Civil Rights Act von 1964 wechselten zahlreiche "Dixiecrats", konservative Südstaaten-Demokraten, die sich für Rassentrennung stark machten, ins Lager der Republikaner. Das Abtreibungsurteil des Obersten Gerichts im Fall Roe v. Wade (1973), die Infragestellung der Steuerbegünstigung christlicher Schulen (1978) sowie das politische Engagement der Frauenrechts- und der Schwulenbewegung brachte all jene Christlich Rechten auf den Plan, die die traditionellen Werte (family/moral values) gefährdet sahen.
Religiös-konservatives Milieu
Die Republikanische Partei konnte in den vergangenen Jahrzehnten starke Zugewinne im "Bible Belt" verzeichnen, in den ländlichen Gegenden des Südens und Teilen des Mittleren Westens, in denen der evangelikale Protestantismus am stärksten verbreitet ist. "Wenn die Republikanische Partei konservative religiöse Wähler benötigt, so gilt auch umgekehrt: Evangelikale, Sozial-/Moralkonservative und vor allem die Christlich Rechte benötigen die Republikaner. Religiöse Konservative sind am einflussreichsten, wenn sie Teil einer größeren konservativen Koalition sind, und die Republikanische Partei ist dafür die zugänglichste Institution" so der Politikwissenschaftler John C. Green 1994. Dieses pragmatische Verständnis bildet bis heute die Grundlage für die Machtsymbiose zwischen der Republikanischen Partei und dem Organisationsgeflecht der Christlich Rechten.
Sie ist das Ergebnis eines langwierigen Lernprozesses sowohl der Republikanischen Parteistrategen als auch der Christlich Rechten, der sie von den Anfängen fundamentalistischen Sektierertums in ein Stadium des politischen Pragmatismus führte. Politische Unternehmer, die religiöse Autorität sowie Hochachtung unter evangelikalen Christen genießen, gaben der abstrakten Idee der "Christian Right" Gestalt und inneren Zusammenhalt, indem sie ein Organisationsgeflecht an der politischen Basis schufen. Unter ihnen sind Persönlichkeiten wie der Fernsehprediger Pat Robertson oder James Dobson, der Think Tanks wie Focus on the Family oder den Family Research Council gründete, sowie der politische Netzwerker Gary Bauer – um einige der prominentesten zu nennen, die gleichwohl der allgemeinen Bevölkerung wenig bekannt sind.
"Betrachtet man die Gesamtheit der Organisationen auf der Neuen Rechten, so übernehmen diese Aufgaben, die in westeuropäischen parlamentarischen Regierungssystemen überwiegend oder ausschließlich von Parteien wahrgenommen werden", brachte es bereits in den 1980er-Jahren der Parteienforscher und Kenner US-amerikanischer Politik Peter Lösche auf den Punkt. "In ihnen sind häufig junge, hochintelligente, eiskalte Politmanager tätig, die nicht nur wissen, wie man organisiert, mobilisiert, manipuliert und Wahlkämpfe führt, sondern dabei auch die neuen Technologien einsetzen."
Noch umtriebiger und erfolgreicher war Steve Bannon, der ehemalige Chef der rechtspopulistischen Website Breitbart News Network. Bannon förderte die Alt-Right (kurz für alternative right, deutsch: alternative Rechte). Diese unter anderem auch rassistische und antisemitische Bewegung sieht die Identität der Weißen christlichen Bevölkerung Amerikas bedroht. Auch Bannon selbst vermengte biblisches Endzeitvokabular mit rassistischem Denken: Die Weißen Bürger Amerikas, des von Gott auserwählten Volkes, müssen gegen das "Biest" kämpfen. Im Entscheidungskampf des Guten gegen das Böse sah Bannon sowohl innere als auch äußere Feinde. Sein nationalistischer Rassismus richtete sich im Inneren gegen Schwarze und Feministinnen und in verklausulierter Sprache auch gegen Juden. Denn das Böse in der Welt sei durch die "Globalisten" verursacht und dem internationalen Finanzkapital geschuldet, das er zum Wohle der amerikanischen Arbeiter bekämpfen müsse. Bevor er Trumps Chefpropagandist wurde und diesem in der entscheidenden Phase zum Wahlsieg verhalf, hatte Bannon zur Durchsetzung seiner populistisch-nationalistischen Agenda zeitweilig auf Vertreterinnen der Tea-Party-Bewegung wie Sarah Palin und Michele Bachmann gesetzt.
Verbindung Religiös-Konservativer und Wirtschaftslibertärer
Politisch verwandt mit den Christlich Rechten sind die Libertären, die mit gleichbleibend üppiger Finanzierung, aber wechselnden, jeweils medienwirksamen Bezeichnungen, unter anderem als sogenanntes Tea Party Movement, in Aktion treten. Die Übergänge beider Gruppierungen sind fließend. Während Christlich Rechte sich vor allem gegen Abtreibung und gleichgeschlechtliche Eheschließungen einsetzen, sind die libertären Aktivisten bestrebt, den Staat so klein wie möglich zu machen, damit man ihn "wie ein Baby im Bade ertränken" könne, so Grover Norquist, Chef der Vereinigung Americans for Tax Reform und Stratege der libertären Bewegung. Norquist hat die große Mehrheit der Republikaner im Abgeordnetenhaus und im Senat dazu gebracht, einen öffentlichen Eid (pledge) zu leisten, dass sie keiner Steuererhöhung zustimmen werden. Damit begrenzt der Lobbyist Norquist den Republikanischen Abgeordneten sowie Senatorinnen und Senatoren ihren politischen Bewegungsspielraum, der nötig wäre, um Kompromisse in der Gesetzgebung zu finden.
Anders als in der Sexualmoral stimmen die Vorstellungen der rechten Christen bei wirtschaftspolitischen Themen durchaus mit dem Denken libertärer Republikaner überein. Sie sind sich einig in der Zielsetzung, den Einfluss des Staates auf die Wirtschaft zu reduzieren. Während wirtschaftslibertär überzeugte Republikaner an die "unsichtbare Hand" des Marktes glauben, sind für überzeugte Evangelikale persönliche Verfehlungen und unmoralisches Handeln die Ursache für wirtschaftliches Versagen. Staatliche Sozialleistungen und Wohlfahrt haben in diesem Denken keinen Platz.
"Defunding the government", lautet ihr Slogan, und das bedeutet, dem Staat keine Mittel zur Verfügung zu stellen, es sei denn, die Finanzierung betrifft militärische oder sicherheitspolitische Belange. "Weniger Sozialstaat" und "weniger Steuern" sind Glaubenssätze konservativen Wirtschaftsdenkens in den Vereinigten Staaten. Wirtschaftssubjekte gelten als Individuen in freier Verantwortung. Staatliche Interventionen durch Wirtschafts- oder gar Sozialpolitik sind demzufolge überflüssig, ja kontraproduktiv.
Konservative und liberale Demokraten
Dieses staatskritische Gedankengut war auch Thema des Buches "Losing Ground", das Mitte der 1980er-Jahre erschien und das in den USA als eines der einflussreichsten Werke des 20. Jahrhunderts gilt. Sein Autor, Charles Murray, nahm darin eine gnadenlose Abrechnung mit der amerikanischen Sozialpolitik der vergangenen drei Jahrzehnte (1950–1980) vor. Das Buch wurde zum Ausgangspunkt einer nachhaltigen Debatte, die gemäß dem Slogan "Ideen haben Konsequenzen" durch konservative, von Privatinteressen finanzierte Think Tanks auch über Parteigrenzen hinweg verbreitet und in praktische Politik übersetzt wurde.
Denn augenscheinlich trug diese Debatte wesentlich dazu bei, dass die Regierung von Bill Clinton 1996 dem Wohlfahrtsstaat ein "Ende" bereitete. Einen Beleg dafür zitiert das Manhattan Institute, einer der konservativen Think Tanks, die Murrays Schaffen gefördert haben, in seinem Nachwuchsnetzwerk. Danach lobte Clinton im Dezember 1993, in einem Interview mit dem Sender NBC News, Murrays Gedanken: "Er hat dem Land einen großen Dienst erwiesen. Ich meine, er und ich haben oft unterschiedliche Meinungen, aber ich denke, dass seine Analyse im Wesentlichen richtig ist."
Dagegen fordert eine neuere Generation von Demokratinnen und Demokraten, die Bernie Sanders‘ sozial-liberale politische Ideen vertreten, insbesondere seit den gravierenden sozio-ökonomischen Auswirkungen der Wirtschafts- und Finanzkrise 2007/2008 wieder mehr staatliche Interventionen in Form von Wirtschafts- und Sozialpolitik. Sie versuchen die Zentristen Clintonscher Prägung herauszufordern, die ihrerseits freie Märkte und Deregulierung befürworten. Letztere sitzen jedoch bis heute am längeren Hebel, zumal sie sich bei den immer teurer werdenden Wahlkämpfen auf die finanziellen Zuwendungen der Wall Street, von Großunternehmen und Vermögenden stützen können.
QuellentextDie Entwicklung der Republikanischen Partei
[…] Um die Mitte des 20. Jahrhunderts sahen sich die US-Konservativen zu einer kleinen, bedrängten Minderheit geschrumpft. Die Große Depression der Dreißigerjahre, die Sozialreformen des New Deal unter dem Demokraten Franklin D. Roosevelt und der Zweite Weltkrieg hatten ihre Prinzipien zutiefst erschüttert: Der Glaube an den freien Markt, das Ideal einer lokalen Selbstregierung und die selbstgewählte außenpolitische Isolation waren auch in weiten Teilen der Republikanischen Partei [Grand Old Party, GOP] diskreditiert. […]
Das Problem der US-Konservativen bestand darin, dass Libertäre, die unbeschränkte persönliche und wirtschaftliche Freiheit propagierten, wenig mit religiösen Traditionalisten gemeinsam hatten, die den Menschen Tugend und Moral vorschreiben wollten. So war der amerikanische Konservatismus zwar kein Widerspruch in sich, aber in sich voller Widersprüche. Als Klammer bot sich das Feindbild des Kommunismus an, der die Freiheit des Einzelnen, das Christentum und die Sicherheit der USA bedrohte. Und bei allen Unterschieden teilten libertäre und religiöse Konservative die Überzeugung, dass nicht staatliche Fürsorge, sondern individuelle Tugend und harte Arbeit die Grundlage für das Glück des Einzelnen wie der Gemeinschaft seien. […]
1964 schließlich zettelten konservative Aktivisten die offene Revolte gegen das republikanische Ostküsten-Establishment an. […] Zündstoff boten die radical sixties genug: Die Demokraten bauten unter dem Banner der "Great Society" den Sozialstaat aus. "Vaterlandsverräter" demonstrierten gegen den Vietnamkrieg. Der Oberste Gerichtshof untersagte Schulgebete, und die linke Kulturrevolution stellte die Rassen- und Geschlechterbeziehungen auf den Kopf. Nicht einmal mit dem 1968 ins Weiße Haus gewählten Republikaner Richard Nixon wurden überzeugte Konservative glücklich, denn der machte […] "big government" noch größer, kungelte mit den Erzfeinden in Moskau und Peking und versetzte der konservativen Sache 1974 durch seinen schmählichen Abgang nach der Watergate-Affäre einen herben Schlag.
Dennoch trat die konservative Bewegung in den Siebzigerjahren ihren Siegeszug an. Während die Linke ihren enttäuschten Hoffnungen hinterhertrauerte, erprobten rechte Aktivisten neue Mobilisierungstechniken wie direct mailing und gründeten mithilfe potenter Geldgeber Denkfabriken wie die Heritage Foundation und das libertäre Cato Institute, die dem Konservatismus wieder intellektuellen Einfluss verschafften. Steuerrebellen machten gegen hohe Grundsteuern mobil. Und die Katholikin Phyllis Schlafly organisierte eine Kampagne gegen einen Verfassungszusatz zur Gleichberechtigung der Geschlechter, weil sie die "Privilegien" der Hausfrauen und Mütter gefährdet sah.
Schlafly spielte auch eine führende Rolle im Kampf gegen das umstrittene Urteil Roe versus Wade des Obersten Gerichtshofs aus dem Jahr 1973, das ein eingeschränktes Recht auf Abtreibung festschrieb. Der Widerstand dagegen vereinte fromme Katholiken und evangelikale Protestanten zur sogenannten religiösen Rechten. Die lange Zeit eher unpolitischen Evangelikalen wurden nun zu einer tragenden Säule der konservativen Wahlkoalition. Ihre Politisierung spiegelte das Gefühl vieler christlicher Amerikaner wider, dass sie in einer säkularisierten und freizügigen Gesellschaft in die Defensive geraten seien. "Televangelists" mit eigenen Fernsehsendern erreichten ein Millionenpublikum und sammelten Millionenspenden. Der Reverend Jerry Falwell gründete 1979 die Moral Majority, die selbst ernannte moralische Mehrheit, die im Wahljahr 1980 wesentlich zum triumphalen Wahlsieg des konservativen Republikaners Ronald Reagan beitrug. Mit Reagans Einzug ins Weiße Haus sahen sich viele Konservative am Ziel. Der Ex-Schauspieler, der in zahlreichen Western mitgewirkt hatte, verkörperte perfekt die Synthese aus traditioneller Moral, freiem Markt und militantem Antikommunismus.
[…] Amerikas Triumph im Kalten Krieg schließlich bestätigte zwar das konservative Weltbild von der Überlegenheit des individualistisch-kapitalistischen Gesellschaftsmodells, doch mit dem äußeren Feind entfielen auch die ideologische Klammer des Antikommunismus und der Zwang zur überparteilichen Kooperation.
Bei den Republikanern gewannen nun Isolationisten alter Schule wieder an Einfluss, die den Rückzug aus internationalen Organisationen und Bündnissen forderten. Die sogenannten Neokonservativen ["Neocons"], die nach den Anschlägen des 11. September 2001 die ideologische Rechtfertigung für den "globalen Krieg gegen den Terror" lieferten, waren demgegenüber Apologeten einer machtgestützten Weltpolitik und hatten wenig für die religiöse Rechte oder rechte Globalisierungskritiker übrig. […]
Bis zum Ende des 20. Jahrhunderts beruhte die Erfolgsstrategie der Republikaner darauf, alle konservativen Strömungen zu versammeln und die Mehrheit der weißen Wähler an sich zu binden. Doch angesichts des demografischen Wandels – zwischen 1960 und 2020 schrumpfte der weiße Bevölkerungsanteil in den USA von 90 auf 60 Prozent – erschien eine Öffnung unumgänglich. Der republikanische Präsident George W. Bush (2001–2009) propagierte deshalb einen "mitfühlenden Konservatismus" und bemühte sich um die für traditionelle Familienwerte empfänglichen Hispanics. […]
Nach der Wahl Barack Obamas brach an der Basis dann regelrecht Panik aus. Der erste afroamerikanische Präsident wurde zur Projektionsfläche wilder Verschwörungsfantasien. […] Dass die Republikaner im Kongress kompromisslose Obstruktion gelobten, bewahrte das GOP-Establishment nicht vor dem Furor der Rechtspopulisten. Die Tea-Party-Bewegung – benannt nach der Boston Tea Party von 1773 während der Amerikanischen Revolution – machte Front gegen die lauwarmen Rinos (Republicans in name only) und brachte die Partei auf Rechtskurs. Als Organisation war die Tea Party kurzlebig, aber ihre Massengefolgschaft unter den Wählern hatte nachhaltige Folgen: Sie ermöglichte den Aufstieg Donald Trumps. Weder libertär noch traditionell konservativ, profitierte der von der jahrzehntelangen Radikalisierung der Partei [...]. [...]
[Die] Republikaner [sind] schon lange nicht mehr die Partei Abraham Lincolns oder Ronald Reagans. Sie sind die Partei Donald Trumps, dessen Anhänger unter Konservatismus die Bereitschaft verstehen, den traditionellen American Way of Life und die weiße Hegemonie mit allen Mitteln, einschließlich gewaltsamer Rebellion, zu verteidigen. Ob der Konservatismus in den USA noch eine Zukunft als respektable demokratische Kraft hat?
Das ist eine offene Frage.
Manfred Berg ist Professor für Amerikanische Geschichte an der Universität Heidelberg Manfred Berg, "Jenseits von Law and Order", in: DIE ZEIT Nr. 15 vom 8. April 2021
Demokratisierung des Wahlkampfes durch Kleinspenden?
Auch das Wirken von den Republikanern nahestehenden Milliardären wie den Brüdern Charles und (dem mittlerweile verstorbenen) David Koch, die neben libertären Think Tanks wie Cato auch die Tea-Party-Bewegung finanziell unterstützen, verdeutlicht, dass sich in den USA der politische Prozess nicht, wie es die politikromantische Bezeichnung "Graswurzelbewegung" suggeriert, von der Basis her wildwüchsig formiert, sondern "von oben" gesteuert wird. Das mittlerweile bestehende Netzwerk vieler Kleinspender an der Basis musste mit Startkapital finanzkräftiger Unternehmen, das im Englischen bezeichnenderweise "seed money" (Saatgeld) genannt wird, kultiviert und zur Blüte gebracht werden.
Gleichwohl begrüßen einige Fachleute diese Entwicklung als Demokratisierung der Wahlkampffinanzierung: durch sogenanntes crowdfunding habe die Macht der Kleinspender zugenommen. So machten erstmals auch viele Anhänger der Demokratischen Partei ihrem Unmut über die Politik des Republikaners George W. Bush Luft, indem sie via Internet den Demokraten Geld spendeten. Durch den Einsatz solch moderner Kommunikationsmittel gelang es dem Herausforderer John Kerry im Präsidentschaftswahlkampf 2004, den traditionellen Vorsprung der Republikaner beim Eintreiben von Wahlkampfspenden wettzumachen. Dabei waren Einzelspenden über das Internet Kerrys am üppigsten sprudelnde Finanzierungsquelle, wie in der Washington Post vom 17. Juni und 21. Juli 2004 nachzulesen war.
Doch die Republikaner unter der Führung von Karl Rove, dem "Architekten" des Wahlsiegs von George W. Bush, waren noch effektiver, ihre vor allem religiös-rechte Basis an Kleinspendern zu erweitern und mit Hilfe des Internets zu mobilisieren. Als großer Vorteil erwies sich dabei, dass bei der persönlichen Ansprache der religiösen Kernklientel über die digitalen Medien die moderate Wählerschaft nicht verprellt oder weitere politische Gegner aktiviert wurden, was bei diffus gestreuten Fernsehkampagnen häufig der Fall war.
Die Wahlkämpfer von Barack Obama perfektionierten diese Strategie. In den Präsidentschaftswahlkämpfen 2008 und 2012 gelang es ihnen, jeweils sowohl im Vor- als auch später im Hauptwahlkampf gegen John McCain bzw. Mitt Romney ein Drittel ihrer Wahlkampfgelder in kleineren Beträgen von bis zu 200 Dollar einzuwerben, so der Politikwissenschaftler Michael J. Malbin und das Center for Responsive Politics 2012.
Obamas ehemaliger Vizepräsident Joe Biden konnte dann im Wahlkampf 2020 wieder auf dieses Netzwerk zurückgreifen und fast 40 Prozent seiner Wahlkampfgelder in Form von Kleinspenden einwerben. Das war auch nötig, denn laut den Daten des Center for Responsive Politics verdankte sein Konkurrent Donald Trump sogar die Hälfte seiner Wahlkampfmittel Kleinspendern.
Das Organisationsgeflecht Gleichgesinnter auf der sogenannten Graswurzelebene ist also in mehrfacher Hinsicht nützlich und vorteilhaft: zum einen bei der Wahlkampffinanzierung, zum anderen bei der direkten permanenten Wählermobilisierung.
Doch häufig werden Politikerinnen und Politiker die vielen gleichgesinnten Geister, die sie vor der Wahl gerufen haben, danach nicht mehr los. Diese Organisationen können nämlich ebenso wie andere wirtschaftliche Interessengruppen massiven Druck auf die Politik ausüben, nicht zuletzt indem sie damit drohen, ihre Unterstützung bei den nächsten Wahlen wieder zu entziehen.
Dr. Josef Braml ist seit Januar 2020 Generalsekretär der Deutschen Gruppe der Trilateralen Kommission – einer einflussreichen globalen Plattform für den Dialog eines exklusiven Kreises politischer und wirtschaftlicher Entscheider/innen Amerikas, Europas und Asiens zur kooperativen Lösung geopolitischer, wirtschaftlicher und sozialer Probleme.
Zuvor war er von 2006 bis 2020 bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) als Geschäftsführender Herausgeber und Redakteur des „Jahrbuch Internationale Politik“ und Leiter des Amerika- Programms tätig. Davor war er von 2002–2006 wissenschaftlicher Mitarbeiter der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), Projektleiter des Aspen Institute Berlin (2001), Visiting Scholar am German-American Center (2000), Consultant der Weltbank (1999), Guest Scholar der Brookings Institution (1998–1999), Congressional Fellow der American Political Science Association (APSA) und legislativer Berater im US-Abgeordnetenhaus (1997–1998).
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