Konkurrenz und Kontrolle: vertikale Gewaltenteilung
Josef Braml
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Die föderale Verfassung der USA weist der Bundesebene und den Einzelstaaten unterschiedliche Befugnisse zu. Zunehmende Abhängigkeit vom Big Government Washingtons sorgt dabei immer wieder für Konflikte.
Die Geschichte des US-amerikanischen Föderalismus
Wie ein roter Faden durchziehen die Konflikte zwischen den Einzelstaaten und der Bundesregierung die oftmals blutige Geschichte der USA. Als sich 1776 die dreizehn britischen Kolonien für unabhängig von ihrem Mutterland erklärten, schlossen sie sich zunächst 1781 mit den Articles of Confederation zu einem Bund souveräner Staaten zusammen. Die massiven innen- und außenpolitischen Probleme infolge des Unabhängigkeitskrieges (1775–1783) nötigten sie jedoch, eine handlungsfähigere Einheit zu bilden. Sie gaben sich 1787 eine neue bundesstaatliche Verfassung. Dabei gab es heftige Auseinandersetzungen zwischen den Wegbereitern einer starken Zentralregierung, den sogenannten Federalists, und den auf Eigenständigkeit der Einzelstaaten pochenden Anti-Federalists. Während die einen den Bundesstaat befürworteten, wollten die anderen nur einen losen Staatenbund, eine Konföderation, die die Souveränität und Befugnisse bei den Einzelstaaten belassen hätte.
Die Föderalisten behielten in der Verfassungsdebatte die Oberhand, und die Federalist Papers, die von Alexander Hamilton, James Madison und John Jay unter dem Pseudonym "Publius" verfassten Artikel, wurden aufgrund ihrer großen publizistischen Wirkung identitätsstiftend für die junge Nation. Es galt aber außerdem zu verhindern, dass die neu geschaffene Regierung in eine Tyrannei abglitt. Neben der horizontalen Aufteilung in gesetzgebende, ausführende und richterliche Gewalten sollte daher zusätzlich eine vertikale Gewaltenkontrolle gewährleistet werden, indem die Befugnisse zwischen der Bundesregierung und den Einzelstaaten aufgeteilt wurden. Das Konzept des dual federalism weist entsprechend Bund und Einzelstaaten jeweils eigene, voneinander abgegrenzte Aufgabenbereiche zu.
Die Verfassung entspricht dem Kompromiss, der 1787 gefunden wurde: Sie schreibt vor, dass die Bundesregierung nur die in Artikel I aufgeführten Vorrechte, die enumerated powers, ausüben darf, um die Rechte der Einzelstaaten zu wahren. Der 1791 hinzugefügte zehnte Verfassungszusatz verdeutlicht noch einmal, dass alle Kompetenzen, die nicht explizit dem Zentralstaat zugesprochen bzw. den Einzelstaaten entzogen werden, bei den Einzelstaaten liegen.
QuellentextPlädoyer für die einzelstaatliche Souveränität und die Beibehaltung einer Konföderation
Unter dem Pseudonym Brutus argumentiert 1787 ein Mitglied der Anti-Federalists gegen die Übertragung der Souveränität von den einzelnen Bundesstaaten hin zu einem übergeordneten Staatswesen.
[…] Die Vereinigten Staaten umfassen eine Vielfalt von Klimazonen. Die Erzeugnisse der verschiedenen Bundesgebiete sind sehr unterschiedlich und die Interessen ihrer Bewohner infolgedessen abweichend. Ihr Verhalten und ihre Lebensgewohnheiten unterscheiden sich ebenso sehr wie ihre klimatischen Verhältnisse und ihre Erzeugnisse; ihre Meinungen stimmen daher keineswegs überein. Die Gesetze und Gebräuche in den einzelnen Staaten sind in vielen Bereichen sehr verschieden und in einigen davon geradezu entgegengesetzt. Jeder würde die eigenen Interessen und Sitten bevorzugen und damit würde eine Legislative, die sich aus Repräsentanten der jeweiligen Staaten zusammensetzt, nicht nur zu groß sein, um mit der erforderlichen Sorgfalt und Entschlossenheit zu handeln, sondern diese Repräsentanten würden zudem so heterogene und nicht zu vereinbarende Prinzipien vertreten, dass sie in ständigem Widerstreit miteinander stehen würden. […]
In einer freien Republik beruht das Vertrauen der Bürger in ihre Herrscher darauf, dass sie diese kennen, dass diese ihnen in ihrem Betragen verantwortlich sind und dass die Bürger daher die Macht besitzen, die Regierenden des Amtes zu entheben, wenn sie sich schlecht benehmen. Aber in einer Republik von der Größe dieses Kontinents wären die Menschen nur mit sehr wenigen ihrer Herrscher vertraut. Die Bürger in ihrer Gesamtheit wüssten wenig über deren Beratungen und es wäre für sie extrem schwierig, diese zu beeinflussen. […]
Die Folge würde sein, dass die Bürger kein Vertrauen in ihre Gesetzgeber haben und diese der Ruhmsucht verdächtigen. Sie wären besorgt über jede Maßnahme, die die Repräsentanten einführen, und würden die Gesetze, die sie verabschieden, nicht unterstützen. Dadurch wäre die Regierung kraftlos und ineffizient und es gäbe keinen anderen Weg für Ordnung zu sorgen, als bewaffnete Streitkräfte einzusetzen, um die Gesetze mit vorgehaltenem Bajonett durchzusetzen – eine Regierungsform, vor der man sich am meisten fürchtet. […]
The Anti-Federalist. Writings by the Opponents of the Constitution. Edited by Herbert J. Storing, selected by Murray Dry. Chicago und London 1985, S. 113–116 (Auszüge). In: P. Massing, G. Breit, H. Buchstein (Hg.), Demokratietheorien, Wochenschau Verlag, Schwalbach/Ts., 2011, S. 148 ff.
Plädoyer für einen geeinten Nationalstaat und seine neue Verfassung
Unter dem Pseudonym Publius findet James Madison im 10. Artikel der Federalist Papers 1787 Argumente für eine trotz der Landesgröße geeinte Republik.
[…] Eine Republik, womit ich ein Regierungssystem meine, in dem das Konzept der Repräsentation verwirklicht ist, […] bietet […] erstens, die Delegierung der Herrschaftsgewalt an eine kleine Zahl von den Übrigen gewählter Bürger […]; zweitens, eine größere Zahl von Bürgern und ein größeres Territorium, auf das die Republik ausgedehnt werden kann. […]
Je kleiner ein Gemeinwesen ist, desto weniger Parteien und Sonderinteressen werden darin existieren. Je weniger Parteien und Sonderinteressen bestehen, desto häufiger kann sich eine Mehrheit derselben Partei bilden. Je weniger Personen eine Mehrheit bilden können, und je enger sie beieinander leben, desto leichter fällt es ihnen, ihre Pläne zur Unterdrückung anderer zu koordinieren und ins Werk zu setzen.
Vergrößert man das Gebiet, so umfasst es eine größere Vielfalt von Parteien und Interessen, damit aber wird es weniger wahrscheinlich, daß eine Mehrheit des Ganzen ein gemeinsames Motiv hat und die Rechte der anderen Bürger verletzt.
Hamilton, Madison, Jay. Die Federalist-Artikel. Politische Theorie und Verfassungskommentar der amerikanischen Gründerväter. Herausgegeben und übersetzt, eingeleitet und kommentiert von Angela Adams und Willi Paul Adams. Paderborn u. a. 1994, FederalistArtikel 10 (Madison), S. 50–58 (Auszüge) Beides: Übersetzung von Eva-Maria Reinwald und Tobias Müller. in: P. Massing, G. Breit, H. Buchstein (Hg.), Demokratietheorien, Wochenschau Verlag, Schwalbach/Ts., 2011, S. 148 ff. bzw S. 141–144
Verteilung der Kompetenzen zwischen Bund und Staaten
Weniger eindeutig sind jedoch jene Befugnisse, die aus den enumerated powers abgeleitet werden können: namentlich die impliziten, implied powers. Das sind insbesondere Kompetenzen, die Washington entsprechend der necessary and proper clause in Form von "notwendigen und angemessenen" Gesetzen für sich beansprucht, um seine verfassungsmäßigen Rechte und Pflichten zu erfüllen. Auch die general welfare clause, gemäß der die Zentralregierung für das Gemeinwohl zu sorgen hat, ist vielfältig interpretierbar.
Bei Streitigkeiten zwischen Bundesstaat und Einzelstaaten entscheidet der Supreme Court. Historische Grundsatzentscheidungen der Obersten Richter haben die Ausgestaltung des Föderalismus maßgeblich bestimmt. Insbesondere nutzte der Oberste Richter und überzeugte Federalist John Marshall seine Amtszeit (1801–1835) dazu, die Generalklauseln (necessary and proper clause, general welfare clause, commerce clause) zugunsten erweiterter Bundesvollmachten auszulegen. In ihrer Urteilsfindung waren die Richter jedoch meistens von sozioökonomischen Entwicklungen und politischen Entscheidungen beeinflusst oder haben diese sogar nachvollzogen bzw. legitimiert (so Michael Bothe 1982, S. 144).
Als Reaktion auf nationale Krisen, etwa auf die Weltwirtschaftskrise in den 1930er-Jahren, wurden die Bundeskompetenzen erweitert. So bereitete die "Große Depression" in den 1930er-Jahren den Weg für den Sozialstaat. Um dem Marktversagen zu begegnen, regulierte die Bundesregierung unter der Führung von Präsident Franklin D. Roosevelt in einem "New Deal" neue Bereiche (etwa die Finanzmärkte), kümmerte sich um die Fürsorge für arme, kranke und alte Menschen und übernahm Kompetenzen, die vorher den Einzelstaaten oblagen, zum Beispiel Straßenbau, Ausbau der Energie- und Kommunikationsnetze und andere Infrastrukturleistungen.
Der Bund unterstützt seitdem die zunehmend überforderten Einzelstaaten in ihren Aufgaben mit üppigen Geldzuweisungen (federal grants-in-aid). In den knapp vier Jahrzehnten von 1930 bis 1968 stiegen die Bundeszuweisungen von 120 Millionen auf 19 Milliarden Dollar, wie Stephen J. Wayne unter anderem in seinem Buch "Conflict and Consensus in American Politics" nachweist. Im Zuge dieser Zusammenarbeit, des sogenannten cooperative federalism, wurde der von den Gründervätern angelegte Dualismus (dual federalism) überlagert.
Spätestens in den 1980er-Jahren fühlten sich jedoch viele Einzelstaaten durch die "goldenen Zügel" Washingtons gegängelt. Denn mit Hilfe des sogenannten Regulierungsföderalismus konnte der Bund in die Einzelstaaten "hineinregieren", etwa indem er die Sozial- und Infrastrukturhilfen nicht nur mit Regulierungsauflagen verband, sondern die Mittel auch nach parteipolitischen und wahltaktischen Erwägungen vergab. Da außer Vermont alle Einzelstaaten zu ausgeglichenen Haushalten verpflichtet sind, das heißt keine Schulden machen dürfen, sind sie umso mehr vom Bund abhängig.
Mit seinem Dezentralisierungsprogramm des "New Federalism" wollte Präsident Ronald Reagan das "big government", das mit dem "New Deal" Roosevelts geschaffen und von den Präsidenten John F. Kennedy und Lyndon B. Johnson ausgebaut worden war, abbauen. Die sogenannte devolution, das heißt die Übertragung administrativer Verantwortung an die Einzelstaaten, hat indes nicht viel bewirkt – im Gegenteil: Die Bundeszuweisungen sind im Laufe der folgenden Jahrzehnte weiter gestiegen und sie sind restriktiver geworden. Ende der 1970er-Jahre machten die für spezifische Zwecke gebundenen categorial grants drei Viertel und die allgemeinen, mit weitem Verwendungsspielraum versehenen block grants ein Viertel aus. In den 1990er-Jahren war deren Anteil nach Berechnungen von Wolfgang Welz (2007) gar auf ein Zehntel geschmolzen.
Der Bund hat erkennbare Vorteile, wenn er die "goldenen Zügel" weiter strafft. Denn zweckgebundene Zuwendungen helfen auch den Regierungsvertretern in Washington bei ihrer Wiederwahl: Die Wohltaten für die Einzelstaaten bzw. Wahlkreise können damit von den Wählerinnen und Wählern besser den federführenden Senatorinnen und Senatoren sowie Abgeordneten zugerechnet werden.
Neben der Wahlkampffinanzierung spielen auch das Wahlrecht und die Organisation von Wahlen – Befugnisse, die den Einzelstaaten obliegen –, eine bedeutsame Rolle. So favorisieren Republikanisch regierte Bundesstaaten derzeit Wahlrechtsbeschränkungen, um Bevölkerungsgruppen, die den Demokraten zuneigen, die Stimmabgabe zu erschweren.
Nirgends wurde der Kampf um Wahlrechtsbeschränkungen so offensichtlich und heftig ausgefochten wie im Bundesstaat Texas. Ende Mai 2021 verließen Demokratische Abgeordneten sogar eine Sitzung des Repräsentantenhauses in Austin und verhinderten so die reguläre Abstimmung über ein neues Wahlgesetz. Daraufhin berief der Republikanische Gouverneur Greg Abbott eine Sondersitzung ein. Doch auch im Sommer 2021 setzten sich wieder mehrere Dutzend Demokratische Abgeordnete des texanischen Repräsentantenhauses nach Washington, D. C., ab. Durch ihre Abwesenheit konnte die für eine Abstimmung nötige Anwesenheitsquote von zwei Dritteln erneut nicht erfüllt werden.
Ende August 2021 konnten schließlich die Republikanischen Mehrheiten beider Parlamentskammern im Bundesstaat Texas der Wahlrechtsreform zustimmen. Nach dem Gesetz, das von Gouverneur Abbott Anfang September 2021 unterzeichnet wurde, sollen künftig die Befugnisse parteiischer Wahlbeobachter ausgeweitet und bestimmte Wahlmethoden verboten werden – etwa Abstimmungen aus dem Auto heraus in Drive-in-Wahllokalen. Zudem ist es nunmehr untersagt, Zelte, Garagen oder Container als mobile Wahllokale zu nutzen. Offizielle Stellen dürfen künftig auch nicht mehr unaufgefordert Anträge für eine Briefwahl an Wahlberechtigte versenden. Außerdem wird die Briefwahl durch erhöhte Anforderungen an die Identitätsfeststellung erschwert, wodurch bestimme Bevölkerungsgruppen, vor allem Minderheiten, benachteiligt werden.
Mit den Reformen wollen die Republikaner angeblichen, vor allem auch vom abgewählten Ex-Präsidenten Trump behaupteten Wahlbetrug erschweren. Hingegen sind die Demokraten besorgt, dass die höheren Wahlhürden vor allem Angehörige von Minderheiten vom Wählen abhalten werden, die in der Vergangenheit vermehrt für die Demokraten gestimmt haben.
Wegen der umstrittenen Wahlrechtsreform hat mittlerweile das US-Justizministerium den Staat Texas verklagt. Wie dieser Rechtsstreit letzten Endes vom Obersten Gericht entschieden wird, ist noch nicht absehbar. Dieses Urteil ist aber mitentscheidend für künftige Wahlen und die Qualität der amerikanischen Demokratie. Denn Texas ist nicht der einzige Bundessaat, in dem die Wahlgesetze verändert werden sollen. Nach der umstrittenen Wahl im November 2020 haben die Republikaner bislang in 17 Staaten Änderungen durchgesetzt, die zum Ziel haben, das Wahlrecht einzuschränken.
Dr. Josef Braml ist seit Januar 2020 Generalsekretär der Deutschen Gruppe der Trilateralen Kommission – einer einflussreichen globalen Plattform für den Dialog eines exklusiven Kreises politischer und wirtschaftlicher Entscheider/innen Amerikas, Europas und Asiens zur kooperativen Lösung geopolitischer, wirtschaftlicher und sozialer Probleme.
Zuvor war er von 2006 bis 2020 bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) als Geschäftsführender Herausgeber und Redakteur des „Jahrbuch Internationale Politik“ und Leiter des Amerika- Programms tätig. Davor war er von 2002–2006 wissenschaftlicher Mitarbeiter der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), Projektleiter des Aspen Institute Berlin (2001), Visiting Scholar am German-American Center (2000), Consultant der Weltbank (1999), Guest Scholar der Brookings Institution (1998–1999), Congressional Fellow der American Political Science Association (APSA) und legislativer Berater im US-Abgeordnetenhaus (1997–1998).
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