Vielfältiges Hineinreichen in den Staat
Die zentrale Stellung von politischen Parteien in der deutschen Parteiendemokratie wird deutlich beim Blick auf ihre Rolle in den staatlichen Institutionen. Nach der (Mitglieder-)Organisation auf der gesellschaftlichen Ebene in Ortsvereinen und Kreisverbänden (party on the ground), der strukturierten (Binnen-)Einheit mit Präsidium, Geschäftsstellen und bewusster Außenwirkung beispielsweise in Wahlkämpfen (party in central office) ist ihr Wirken in staatlichen Institutionen (party in public office) das dritte Gesicht einer Partei.
Sie entsendet Abgeordnete und/oder Regierungsvertreter in staatliche Institutionen der Exekutive und Legislative. Durch die (Aus-)Wahl der Bundesverfassungsrichter erstreckt sich ihr Einfluss selbst in die Judikative hinein. Auch in großen Teilen der öffentlichen Verwaltung (insbesondere Ministerialbürokratie und Parlamentsverwaltung), im öffentlich-rechtlichen Rundfunk, in staatlichen Lottogesellschaften oder anderen quasi-staatlichen Einrichtungen und Unternehmen sind Vertreter der Parteien anzutreffen.
QuellentextParteianhänger in den Ministerien
[...] Dass die Parteien an der "politischen Willensbildung des Volkes" mitwirken, regelt das Grundgesetz im Artikel 21. Selbstverständlich ragt diese Mitwirkung auch in das Regierungsgeschehen, in die Ministerien hinein. Nach jeder Bundestagswahl teilen die Parteien, die eine Regierung bilden, die Ministerien unter sich auf. Ministerinnen und Minister pflegen Parteibücher zu haben. Im engsten Umfeld der Minister sind Vertraute im Einsatz, die oft dasselbe Parteibuch haben wie dieser. Da, wo das nicht der Fall ist, muss der Ressortchef sich zumindest darauf verlassen können, dass die Leute aus seinem engsten Umfeld nicht das Spiel einer anderen Partei spielen.
Höchste Beamte wie die Staatssekretäre werden ebenfalls oft nach politischen Kriterien ausgesucht, was freilich keinesfalls bedeutet, dass sie die fachlichen nicht erfüllen. Ein Minister muss sicher sein, dass die obersten Beamten der Ministerialhierarchie hinter den politischen Projekten stehen, welche die entsendende Partei sich auf die Fahnen geschrieben hat. Der Staatssekretär einer Arbeitsministerin, die nach Beschlusslage ihrer Partei einen Mindestlohn durchsetzen soll, muss dieses Projekt mittragen. Staatssekretäre sind sogenannte politische Beamte, für die es sogar einen eigenen Paragraphen im Beamtengesetz gibt. Sie können – anders als weniger ranghohe Beamte – ohne Nennung von Gründen jederzeit in den einstweiligen Ruhestand versetzt werden. An der Spitze von Regierungen ist also das Zusammenwirken von Beamtentum und Parteipolitik einigermaßen klar geregelt.
Schwieriger wird es weiter unten in der Hierarchie. Auch hier gibt es Regelungen im Bundesbeamtengesetz. So dürfen schon bei der Auswahl der Bewerber für eine Beamtenlaufbahn nur "Eignung, Befähigung und fachliche Leistung" eine Rolle spielen, nicht aber Geschlecht, Abstammung, Rasse oder ethnische Herkunft, Behinderung, Religion, Herkunft, Beziehungen oder sexuelle Identität oder aber: politische Anschauungen. Beamte in Bundesministerien dürfen solche Anschauungen auch durch eine Parteimitgliedschaft dokumentieren. Daraus darf ihnen kein Nachteil erwachsen. Das gehe, so schildert es ein erfahrener Akteur des bundespolitischen Geschäfts, bis auf Bismarck zurück. […]
Daher dürfen bis heute diejenigen, die nicht in die kleine Gruppe der politischen Beamten gehören, nur innerhalb ihrer Hierarchieebenen versetzt werden. Ein Minister von der CDU kann zwar dafür sorgen, dass ein missliebiger Unterabteilungsleiter von der SPD auf einen Posten von minderem operativem Einfluss versetzt wird. Er kann ihm aber nicht aus politischen Gründen seine Lebensgrundlage oder auch nur seinen Rang im ministerialen Gefüge nehmen. Manche Beamte könnten sogar darauf hoffen, dass eine Parteimitgliedschaft ihnen Vorteile einbringt. Mehr als heute galt das in der Zeit, da die Politik ideologisch noch hoch aufgeladen war, in den siebziger und achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, in Ausläufern auch noch in den Neunzigern. […]
In jenen parteipolitisch aufgeladenen siebziger und achtziger Jahren wurden die Betriebsgruppen wichtig. […] In manchen Ministerien ist […] der Begriff Betriebsgruppe durch freundlichere Namen wie Freundeskreis abgelöst worden.
Obwohl es […] mit dem parteipolitischen Kampf weniger geworden ist, […] haben die Betriebsgruppen neben der Organisation von Treffen mit Gastrednern noch ihre Bedeutung. Ein erfahrener Ministerialbeamter nennt zum einen die Schutzfunktion. Gebe es einen Machtwechsel im Ministerium und drohe einem Beamten, der sich zu seiner Parteimitgliedschaft bekennt, eine Verschiebung im System, die seiner Laufbahn über Gebühr schaden würde, so melde sich zuverlässig die Betriebsgruppe zu Wort. Eine zweite Funktion bestehe in der Bildung von Personalreserven. Wenn etwa eine Bundestagsfraktion Fachleute aus einem der Ministerien braucht, kann die Betriebsgruppe schnell Namen nennen von Mitarbeitern, die das richtige Parteibuch haben. Nicht von ungefähr bemühen sich einige Betriebsgruppenvorsitzende um Positionen mit Personalzuständigkeit.
Die Parteizugehörigkeit spielt nach wie vor eine große Rolle für die Werdegänge vieler Ministerialbeamten. Zum einen kann das im operativen Alltagsgeschäft der Fall sein. Ein langjähriger Beamter schildert einen Fall, in dem er innerhalb des Hauses Hilfe gebraucht habe. Er wandte sich an einen Kollegen, von dem er sicher sein durfte, dass er ihm parteipolitisch nahestand. Er bekam die gewünschte Hilfe. Wie sehr Parteibücher eine Rolle spielen, zeigt sich regelmäßig, wenn neue Minister ein Haus übernehmen, vor allem wenn sie von einer anderen Partei als der Vorgänger sind. Denn noch lauter als die Betriebsgruppen verschaffen sich häufig die Personalratsvorsitzenden Gehör, wenn sie der Ansicht sind, dass der neue Minister Parteifreunde auf attraktive Posten setzt, denen die fachliche Qualifikation fehlt, die vor allem aber langjährigen Mitarbeitern den Weg nach oben versperren. […]
Ausgebuffte Strategen des Machtspiels in Ministerien vertreten die These, dass noch wirkungsvoller als eine Betriebsgruppe keine Betriebsgruppe ist. So gibt es Beispiele dafür, dass Parteien bewusst auf die Gründung eines solchen Zusammenschlusses verzichten. Der Grund: Gibt es eine solche Gruppe erst, so ist jedes ihrer Mitglieder geoutet als Roter, Schwarzer, Grüner oder Gelber. Das erschwert Versuche, mit Parteifreunden Ziele durchzusetzen, ohne dass es gleich jeder merkt.
Eckart Lohse, "Hauseigene Sympathisantenszene", in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 31. März 2014 © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv
Auf allen vier staatlichen Ebenen – Kommunen, Ländern, Bundesstaat und EU – sind sie Mitglieder parlamentarischer Gremien: im Gemeinde- und Stadtrat, im Landesparlament, im Bundestag sowie im EU-Parlament. In herausgehobenen Ämtern dominieren Repräsentanten der Parteien: als Bürgermeister, Ministerpräsidenten oder Minister bzw. Senatoren in den Ländern und im Bund bis hin zum Amt des Bundeskanzlers bzw. der Bundeskanzlerin. So hatte beispielsweise jeder Bundeskanzler (mit Ausnahme von Helmut Schmidt) genauso wie momentan die Bundeskanzlerin zumindest zeitweise auch das Amt des/der Parteivorsitzenden inne und nutzte es als Absicherung bzw. Ressource seiner/ihrer Machtposition. Das Beispiel illustriert die enge Verknüpfung von Partei und öffentlichen Ämtern.
In den Städten und Gemeinden, also auf der kommunalen Ebene, agieren zumeist Parteienvertreter in den Gemeinde- und Stadträten bzw. als Bürgermeister, Landrat oder Dezernent in den Rathäusern. Hier erlangen jedoch auch nicht selten parteilose Kandidaten oder Wählervereinigungen Ämter und Mandate. Selbst in Großstädten kann es – wenn auch sehr selten – vorkommen, dass der Bürgermeister keiner Partei angehört.
Parteien in Regierungsverantwortung
Oberhalb der kommunalen Ebene ist ein Parlamentsmandat bzw. Regierungsamt ohne Parteizugehörigkeit kaum oder höchst selten zu erreichen – es herrscht quasi ein Parteienmonopol. Voraussetzung für ein Parlamentsmandat oder Regierungsamt ist also der Eintritt und die aktive Mitwirkung in einer Partei. Ein wichtiges Ziel von Parteien ist es, im Parlament vertreten zu sein, um bei der konkreten Politikgestaltung in Kommune, Land und Bund mitwirken zu können. Die größten Gestaltungsmöglichkeiten bieten sich als Teil der Regierung, am deutlichsten als (stärkste) Regierungspartei. Denn in dieser Rolle kommt einer Partei am meisten Macht zu, um die Interessen, Werte und Vorstellungen ihrer Mitglieder und Wählerschaft umsetzen zu können.
Fraktionen
Parteien im Parlament bilden Fraktionen. Als Fraktionen gelten im Bundestag und in den Landtagen freiwillige Zusammenschlüsse von Abgeordneten, welche in keinem Wettbewerb zueinander stehen (wie es beispielsweise bei CDU und CSU der Fall ist) und gleiche oder ähnliche politische Vorstellungen haben. Sie genießen einen besonderen Status, der durch zahlreiche parlamentarische Rechte und finanzielle Zuwendungen sichergestellt wird. Den Fraktionsstatus im Bundestag und in den Landesparlamenten erhält eine Gruppe von Abgeordneten, wenn sie mindestens fünf Prozent aller Mitglieder des Parlaments umfasst. Im kleinsten Landesparlament Deutschlands, dem saarländischen Landtag, reichen entsprechend zwei Abgeordnete.
Im Grundgesetz werden Fraktionen nur in Art. 53a Abs. 1 Satz 2 GG ausdrücklich erwähnt. Sie sind die wichtigsten Akteure der politischen Willensbildung im Parlament, wirken aber auch in das politische Geschehen außerhalb des Parlaments hinein. Der Bundestag gilt als ein Fraktionenparlament, in dem Fraktionen zentrale Rechte haben, wie etwa das Recht zur Gesetzesinitiative, und zahlreiche Kontrollrechte. Fraktionen organisieren, strukturieren und koordinieren den parlamentarischen Alltag und prägen damit letztlich den Bundestag. Sie setzen fest, welche Abgeordnete in Ausschüsse entsandt werden oder Reden im Plenum halten. Das Fraktionenparlament ist Kern der Parteiendemokratie, in dem es dem Prinzip politischer Repräsentation konkret Ausdruck verleiht und es in legitimiertes staatliches Handeln überführt.
Im 18. Deutschen Bundestag gibt es vier Fraktionen: Die CDU/CSU-Fraktion ist mit 310 Sitzen die stärkste Fraktion, gefolgt von der SPD-Fraktion mit 193 Sitzen, der Fraktion Die Linke mit 64 Sitzen und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit 63 Sitzen.
Sitzverteilung im 18. Deutschen Bundestag (© Deutscher Bundestag, Stand: September 2015)
Sitzverteilung im 18. Deutschen Bundestag (© Deutscher Bundestag, Stand: September 2015)
Im parlamentarischen System Deutschlands kommt den Regierungsfraktionen und ihrem disziplinierten Abstimmungsverhalten eine besondere Bedeutung bei der Wahl des Bundeskanzlers und in der Gesetzgebung zu. Regierungsfraktionen sind an allen zentralen Entscheidungen der jeweiligen Bundes- oder Landesregierung beteiligt; sie müssen letztlich im Parlament ihre Zustimmung zu Gesetzen geben, denn ohne die Zustimmung in Parlamenten kommen Gesetze nicht zustande. Für die Funktionsfähigkeit der "Aktionseinheit" (Winfried Steffani) von Regierung und Parlamentsmehrheit ist es notwendig, Fraktionsdisziplin zu gewährleisten, also ein einheitliches Abstimmen der Regierungsfraktionen. Dies ist in Deutschland – wie in vielen anderen parlamentarischen Demokratien – auch weitgehend gegeben. Die Fraktionsdisziplin erst ermöglicht die Unterstützung und Durchsetzung der politischen Ziele der Regierungsparteien, die diese zuvor in Wahlprogrammen propagiert haben. Die parlamentarische Mehrheitsunterstützung ist auch notwendig für die Umsetzung der von den Regierungsparteien nach Wahlen abgeschlossenen Koalitionsvereinbarungen. Diese werden von den Vorsitzenden der Parteien unterzeichnet und von den Parteien getragen; für die Umsetzung des Programms sind wesentlich die Parlamentsfraktionen der Regierungsparteien verantwortlich.
QuellentextParteiübergreifende Gesetzesinitiativen
[…] [K]aum ein Minister muss bei null anfangen, wenn er […] ein Gesetz umschreibt. Oder: umschreiben lässt. Die Vorarbeit hat […] meist ein anderer gemacht. Einer, der die Idee für das ursprüngliche Gesetz hatte oder sie umsetzen sollte, einer, der gerechnet, gefeilscht, gekämpft hat, […]. […]
Er rede ja eigentlich nicht mit den Grünen, soll Matthias Engelsberger gesagt haben, als man einmal zwei Stunden lang gemeinsam auf dem Flughafen wartete, "aber Sie sind ja Physiker". So erinnert sich Wolfgang Daniels an sein erstes Gespräch mit Matthias Engelsberger, Ingenieur von der CSU; 1990 war das. Von ferne war man sich längst aufgefallen: Der CSU-Hinterbänkler, der stets die kritischen Fragen zur Wasserkraft an die schwarz-gelbe Regierung stellte; und der Grüne, der nachhakte, wenn die Antwort unbefriedigend ausfiel.
Ein Anliegen verband die beiden: Strom aus erneuerbaren Energien sollte ein Geschäftsmodell werden, mit garantierten Preisen pro Kilowattstunde. Bis dahin mussten die Betreiber etwa von Wasserkraftanlagen, unter ihnen Engelsberger, mit den Energieversorgern den Preis selbst aushandeln. Wegen deren Machtposition war dieser oft ein Schnäppchen für die einen, kaum kostendeckend für die anderen. "Matthias Engelsberger und ich haben dann auf einer Seite einen Entwurf für ein Gesetz geschrieben", sagt Daniels. Seine Parteikollegen im damals einzigen grün geführten Ministerium, dem hessischen Umweltministerium, hätten noch mal drüber geschaut, einige Korrekturen, fertig.
Damit Einzelne ein Gesetz einbringen können, müssen mindestens fünf Prozent der Bundestagsabgeordneten es unterstützen, damals waren das 25. Also ließ das schwarz-grüne Team das Papier […] herumgehen, unter anderem in der CDU/CSU-Fraktion, wo viele es für einen Fraktionsantrag hielten und ungelesen unterschrieben. "Als das bekannt wurde, gab es einen ziemlichen Aufruhr", erzählt Wolfgang Daniels. Unterschriften wurden zurückgezogen, Engelsberger wurde zum parlamentarischen Geschäftsführer seiner Fraktion zitiert. […]
Irgendwann war die Unionsfraktion […] einverstanden – aber es sollte ein CDU/CSU-Antrag sein […]. Im Bundestag wurde das Stromeinspeisegesetz 1990 schließlich an einem Freitagabend von müden Abgeordneten durchgewinkt, mit der deutschen Einheit hatte man anderes im Kopf. Es ging ja auch um lächerliche Beträge, hieß es, ein paar Millionen nur, und das bisschen Ökostrom werde das Energiesystem schon nicht groß erschüttern. Was für ein Irrtum. Aus dem Stromeinspeisegesetz wurde im Jahr 2000 das Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG), und schließlich kam die Energiewende.
Wolfgang Daniels war nur eine Legislaturperiode Bundestagsabgeordneter. […] Er glaubt noch ans EEG, trotz allem, weil es kleine Einzelanlagen ermöglicht – das Genossenschafts-Windrad, die Solaranlage auf dem Dach. "Letztendlich geht es darum, ob die Bürger auch ein Stück vom Kuchen abbekommen, nicht nur die großen Konzerne", sagt er.
Matthias Engelsberger starb 2005. Inzwischen ist längst nicht mehr von Millionen, sondern von Milliarden die Rede. Die Reform der Ökostrom-Förderung, die das Kabinett schon gebilligt hat, sollte vor allem Kosten senken – allerdings kassierten die Länderchefs einen Teil der Pläne. Beim Fördermodell von Daniels und Engelsberger wird es indes vorerst bleiben. […]
… Zusammenarbeit für die Rentenreform
Andreas Storm […] saß 2005 in den Verhandlungen zur vorigen großen Koalition für die CDU als Rentenexperte am Verhandlungstisch, zusammen mit seinem Gegenpart Franz Thönnes von der SPD, der sich später auf Außenpolitik verlegte. Die beiden waren isoliert: Bis 2005 war die Rente im Gesundheitsministerium angesiedelt. Erst in den Koalitionsverhandlungen wurde sie im Arbeitsressort einsortiert. Zuständig fühlte sich niemand.
Im Wahlkampf des Jahres [2004] waren alle Parteien bei ihren Rentenplänen eher vage geblieben. Aber als das Wahlergebnis auf Schwarz-Rot stand, war schnell klar, wohin die Reise ging. "Der Arbeitsauftrag in den Koalitionsverhandlungen an Franz Thönnes und mich war: ‚Macht die Rente mit 67‘", erzählt Andreas Storm […]. Nur, wie eigentlich? "Ich dachte, da gibt es eine Blaupause, aber die Anhebung der Altersgrenze war unter Rot-Grün ein Tabuthema, das Ministerium hatte nichts vorbereitet", sagt Storm. Er habe dann das Modell einer Enquête- Kommission mitgebracht, die sich schon im Jahr 2002 für die Rente mit 67 ausgesprochen hatte. Darüber wurde man sich schnell einig. So kam die Anhebung des Rentenalters in Tippelschritten, Monat für Monat, ins Gesetz.
Aber was war mit denen, die lange hart gearbeitet haben? "Ich habe den Vorschlag eingebracht, dass man für Menschen, die mit 65 schon 45 Jahre gearbeitet haben, auf die Anhebung verzichtet", sagt Storm. Die Beamten im Ministerium seien darüber nicht begeistert gewesen, so etwas passte schlecht ins Rentenrecht. Aber in einer Sitzung der großen Runde griff Franz Müntefering den Vorschlag auf […]; die Anhebung des Rentenalters wäre der SPD-Basis sonst kaum zu verkaufen gewesen. Damit war das auch geregelt; zur großen Überraschung von Storm und Thönnes, die sich erstaunt ansahen. "Der erste 45-Jahre-Vorschlag, das war wirklich selbst gestrickt", sagt Storm. Er wirkt noch heute ziemlich verblüfft darüber. Im Rentenpaket, über das derzeit der Bundestag berät*, findet sich das Konzept ausgebaut wieder, schon mit 63 Jahren sollen langjährig Versicherte aufhören dürfen, und auch Arbeitslosenzeiten sollen zu den 45 Jahren zählen. Kritiker sehen das als fatalen Schritt weg von der Rente mit 67. Vielleicht kommt also Storms eigene Idee seinem Werk noch in die Quere. […] [*Im Mai 2014 wurde das Rentenpaket vom Bundestag verabschiedet – Anm. d. Red.]
Wolfgang Daniels, 62, ist promovierter Physiker. Von 1987 bis 1990 war er Bundestagsabgeordneter. Er ist Geschäftsführender Gesellschafter der Sachsenkraft GmbH und saß von 2011 bis 2014 für die Grünen im Dresdner Stadtrat.
Andreas Storm (CDU), 49, saß von 1994 bis 2009 im Bundestag und war von 2005 bis 2011 Staatssekretär. Von 2011 bis 2014 gehörte er der Regierung des Saarlands an.
Marlene Weiss / Johann Osel, „Die Gesetz-Geber“, in: Süddeutsche Zeitung vom 23. April 2014
In Deutschland hat sich ein enges Zusammenwirken von Partei, Fraktion und Kabinett (Bundeskanzler und Fachminister) herausgebildet. Dies schließt auftretende Unstimmigkeiten im Verhältnis der Akteure keineswegs aus. Eine Regierung braucht aber, um erfolgreich handeln zu können, die Unterstützung von Fraktion und außerparlamentarischer Partei gleichermaßen. Erodiert die Zustimmung von Partei und Fraktion zur Regierungspolitik, ist der Fortbestand der Bundesregierung gefährdet. Insofern können Fraktionen als "Resonanzboden des Zumutbaren" (Winfried Steffani) betrachtet werden. Die beiden sozialdemokratischen Bundeskanzler Schmidt und Schröder mussten jeweils am Ende ihrer Amtszeiten die Erfahrung machen, dass ihre Regierungspolitik teilweise von der eigenen Partei und Fraktion in Frage gestellt wurde. Es fehlte ihnen der starke Rückhalt bzw. die bedingungslose Unterstützung.
Koalitionsvertrag und Koalitionsbildung
Mit einer Ausnahme – im Jahr 1957 – war bislang eine Regierungsbildung in Deutschland auf Bundesebene nur möglich, wenn sich mindestens zwei Parteien zu einer Regierungskoalition zusammenschlossen. Unter einer Regierungskoalition wird eine organisierte Kooperation von mindestens zwei miteinander im Wettbewerb stehenden Parteien verstanden, vorwiegend innerhalb, aber auch außerhalb des Parlaments. Primäre Ziele sind die gemeinsame Regierungsbildung und -unterstützung sowie die Durchsetzung von politischen Inhalten. Deren zentrale Festlegungen werden in einem gemeinsamen Regierungsprogramm, dem sogenannten Koalitionsvertrag, vereinbart. Diese Kooperation auf Zeit – festgelegt für eine Wahl- bzw. Gesetzgebungsperiode (im Deutschen Bundestag 46–48 Monate) – kann jederzeit von den beteiligten Parteien aufgekündigt werden. Dann muss innerhalb von 60 Tagen neu gewählt werden.
Das Erfordernis der parlamentarischen Mehrheitsbildung ist in Deutschland ein zentrales Motiv der Koalitionsbildung, da gemäß Grundgesetz der Bundeskanzler bzw. die Bundeskanzlerin vom Bundestag in den ersten beiden Wahlgängen mit absoluter Mehrheit gewählt werden muss. Es gehört zu den Funktionslogiken parlamentarischer Regierungssysteme, dass die Parlamentsmehrheit und die Regierung eine politische Aktionseinheit bilden. Die Regierung ist abhängig von der Mehrheit im Parlament, welche wiederum die Regierung nicht nur stützt, sondern aktiv unterstützt.
Auch die Koalitionsbildung erfolgt im Rahmen des Parteienwettbewerbs. In einer strategischen Situation wie der Koalitionsbildung, die in erheblichem Maße durch Unsicherheiten gekennzeichnet ist, müssen die unmittelbaren Konsequenzen und mittel- bis langfristigen Folgen einer zwischenparteilichen Kooperation im Hinblick auf die eigene Wettbewerbssituation kalkuliert werden. Erfahrungen aus früheren Koalitionen fließen in die Entscheidung ebenso mit ein wie das erwartete Verhalten potenzieller Koalitionspartner und mögliche Auswirkungen einer Koalitionsbildung auf die Wählerschaft. Es wird geprüft, inwieweit die anderen Parteien koalitionsfähig sind und wie es um die Koalitionsbereitschaft der eigenen Partei bestellt ist. In diesem Kontext haben die Parteien auch die Koalitionspräferenzen ihrer Wählerschaft zu beachten, wollen sie diese nicht verprellen. Dies gilt insbesondere für kleinere Parteien, die auf Zweitstimmen oder Koalitionsstimmen in Folge des sogenannten Stimmensplittings setzen, nach dem Wähler mit ihrer Zweitstimme Koalitionspräferenzen zum Ausdruck bringen. Denn eine fehlende Koalitionsaussage ist für kleine Parteien, die nicht primär die Oppositionsrolle anstreben, nach empirischen Erkenntnissen nicht von Vorteil und wird von der Wählerschaft nicht belohnt.
Determinanten der Koalitionsentscheidungen (© Uwe Jun)
Determinanten der Koalitionsentscheidungen (© Uwe Jun)
Um eine Regierung zu bilden und ihren Bestand zu sichern, muss in Regierungskoalitionen der zwischenparteiliche Wettbewerb reduziert werden. Kooperative Verhaltensmuster ergänzen somit in Regierungskoalitionen das Wettbewerbsverhalten. Dabei erweist es sich als vorteilhaft, wenn die Koalitionspartner sich in zentralen Politikbereichen programmatisch-inhaltlich nahe stehen. Noch günstiger ist es, wenn eine Partei in die Regierungskoalition integriert wird, die in den für die Regierungspolitik zentralen bzw. entscheidenden Politikfeldern eine gegenüber allen im Wettbewerb stehenden Parteien vermittelnde Position einnehmen kann. Denn so wird die Kompromissfindung nach innen und außen stabilisiert. Das heißt also, dass in Parlamenten diejenige Partei einen erheblichen Vorteil hat, die in einzelnen Politikfeldern inhaltlich in der Nähe einer mittleren Position steht (Medianansatz).
Karikatur (© Burkhard Mohr/Baaske Cartoons)
Karikatur (© Burkhard Mohr/Baaske Cartoons)
Koalitionsausschuss
Im politischen Alltagsgeschäft kommen die Regierungsparteien, ihre Fraktionen und die Mitglieder des Kabinetts häufig zu Entscheidungen zusammen, planen und koordinieren die wesentlichen Grundzüge der Regierungspolitik. Gibt es zwischen den Regierungsparteien in Koalitionen strittige Fragen, wird zur Klärung ein besonderes Gremium, der Koalitionsausschuss, einberufen: In ihm sind Parteispitzen, Fraktionsvorsitzende und führende Minister bzw. der Regierungschef / die Regierungschefin vertreten. Der Koalitionsausschuss gilt als ein zentrales informelles Machtzentrum der Politik in Deutschland, weil die Koalitionsparteien in diesem Gremium wesentliche Themen der Regierungspolitik diskutieren und zwischen den Koalitionsparteien politische Lösungen und Entscheidungen finden können.
Die genannten Faktoren bilden in unterschiedlichem Maße den Rahmen für Koalitionsentscheidungen. Sie beeinflussen und begrenzen die koalitionspolitischen Aktivitäten der Spitzenakteure in den Parteien, wobei auch deren Präferenzen Einfluss haben.
Einflüsse des Wahlsystems
Koalitionsbildungen werden im politischen System Deutschlands vom Wahlsystem begünstigt, denn dieses ist bei Bundestagswahlen als personalisierte Verhältniswahl mit Sperrklausel (Fünfprozenthürde) ausgestaltet. Befürworter von Verhältniswahlen möchten im Parlament möglichst viele Werte, Meinungen und Interessen entsprechend ihrer Stärke in der Bevölkerung repräsentiert sehen. Angestrebt wird daher eine möglichst hohe Proportionalität von Stimmenanteil bei Wahlen und anschließendem Mandatsanteil im Parlament.
Um eine Zersplitterung des Parlaments zu vermeiden, wird eine Sperrklausel als mehrheitsbildendes Element hinzugefügt. Im deutschen Wahlrecht ist dies die Fünfprozenthürde, nach der nur jene Parteien in den Bundestag einziehen, die mindestens fünf Prozent der abgegebenen Zweitstimmen erhalten haben. Die einzige Ausnahme stellt die Direktmandatsklausel dar. Danach zieht eine Partei, welche aufgrund der Erststimme in den Wahlkreisen mindestens drei Direktmandate gewinnt, proportional entsprechend des Zweitstimmenanteils in den Bundestag ein.