Entwicklung des deutschen Parteiensystems nach 1945
Uwe Jun
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Nach dem Zweiten Weltkrieg gründeten sich in den beiden deutschen Staaten unter Aufsicht der Alliierten rasch Parteien. In Westdeutschland entwickelte sich ein Dreiparteiensystem, das in den 1980er-Jahren zu einem Vierparteiensystem wurde. In der DDR herrschte die SED. Seit der Einheit Deutschlands hat sich das Parteiensystem zunehmend fragmentiert.
Gründungsphase und Ausprägung zum Dreiparteiensystem
In Deutschland wurde die Gründung der Parteien nach dem Zweiten Weltkrieg durch Lizenzen der alliierten Siegermächte ermöglicht. Diese knüpften dabei zum einen an traditionelle Strukturen aus der Weimarer Republik beziehungsweise dem Kaiserreich an, andererseits wollten sie in den drei westlichen Besatzungszonen (zur Situation der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ)/DDR) die Funktionsfähigkeit der sich neu entwickelnden demokratischen Strukturen sichergestellt sehen. Daher erfolgte die Lizenzvergabe relativ restriktiv: an die Christlich-Demokratische Union (CDU) bzw. in Bayern die Christlich-Soziale Union (CSU) als interkonfessionelle Sammlungsparteien, die Katholiken und Protestanten vereinten; an die bereits 1863 erstmals gegründete Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD), an die links- und rechts- bzw. nationalliberale Strömungen vereinende Freie Demokratische Partei (FDP) und an die 1919 gegründete Kommunistische Partei Deutschlands (KPD).
Diese Parteien genossen damit zunächst einen Startvorteil im Parteienwettbewerb und erreichten bei den ersten Wahlen zum Deutschen Bundestag im September 1949 auch 77,8 Prozent der abgegebenen Stimmen. Dabei schnitt die Union aus CDU und der bayerischen Schwesterpartei CSU mit 31 Prozent Stimmenanteil am besten ab und konnte durch die Koalitionsbildung mit der FDP und der in Norddeutschland angetretenen bürgerlichen Deutschen Partei (DP) mit Konrad Adenauer den ersten Bundeskanzler stellen.
1949 galt die Fünfprozenthürde, nach der nur Parteien ins Parlament einziehen, die mindestens fünf Prozent der abgegebenen (Zweit-)Stimmen auf sich vereinen, noch nicht bundesweit, sondern nur für die einzelnen Bundesländer. Deshalb erreichten mehr als zehn Parteien Sitze im Bundestag. Nach der Aufhebung des Lizenzzwangs durch die Alliierten im Januar 1950 entstanden sogar etwa 30 neue Parteien, die bei mindestens einer Landtagswahl kandidierten. Dass dennoch keine "Weimarer Verhältnisse" mit einer Zersplitterung des Parteiensystems und instabilen Regierungsmehrheiten entstanden, lässt sich aus Sicht der Parteienforschung unter anderem mit dem Aufstieg des Typus der Volkspartei erklären und mit der Fünfprozenthürde, die ab 1953 bei Bundestagswahlen eingeführt wurde. Nur vorübergehend, bis Mitte der 1950er-Jahre, ist von höherer Bedeutung kleiner Interessenparteien zu sprechen. Außer den Großparteien CDU/CSU und SPD gelang es lediglich der FDP als liberal-bürgerlicher Partei und kirchenferner Wettbewerberin zur Union, dauerhaft die Fünfprozenthürde zu überspringen. Die anderen Kleinparteien des bürgerlichen Lagers konnte die CDU im Laufe der 1950er-Jahre mehr und mehr verdrängen bzw. absorbieren.
Volksparteien wurden ab den 1950er-Jahren zu dominanten Akteuren im Parteienwettbewerb und konnten diese Position bis in die frühen 1970er-Jahre zunächst ausbauen. Sie versuchten, möglichst alle Wählergruppen anzusprechen, und integrierten sehr unterschiedliche soziale Gruppen durch ein breites und umfassendes Politikangebot. Entsprechend waren und sind sie einer pragmatischen Politik des Interessenausgleichs verpflichtet, für Regierungsbeteiligungen offen und streben die Führung der Regierungsgeschäfte an. Als Pioniere der Volksparteien in Deutschland können CDU und CSU gelten. Mittlerweile hat das Selbstbild, Volkspartei zu sein, eine prägende Wirkung für deren Identität.
Die Union trat das Erbe der katholischen "Zentrumspartei" an, konnte also auf das gewachsene katholische Milieu als Basis bauen, erweiterte aber ihre Wählerschaft im Sinne einer interkonfessionellen Sammlungspartei um das eher der protestantischen Kirche verpflichtete Bürgertum. Wenngleich das katholische Milieu die tragende Säule der CDU/CSU war und ist, so ist es ihr im Stile der Volkspartei seit den 1950er-Jahren gelungen, Wählerinnen und Wähler aus sehr unterschiedlichen sozialen Schichten für sich einzunehmen. Als bürgerliche "antisozialistische Sammlungspartei" konnte sie gerade im geteilten Deutschland alle bürgerlichen Gruppen für sich gewinnen, die im Zeichen des Ost-West-Konflikts der Idee einer sozialistischen Politik und eines sozialistischen Staates auf deutschem Boden skeptisch bis ablehnend gegenüberstanden. Ihren Erfolg verdankten CDU und CSU nicht zuletzt der erfolgreichen wirtschaftlichen Entwicklung in Westdeutschland ("Wirtschaftswunder") und den daraus resultierenden sozialpolitischen Spielräumen (Steigerung der Sozialleistungen, Aufbau des Wohlfahrtsstaates mit erhöhten Leistungen etwa für Rentner und Familien). Seitdem gilt die sogenannte Wirtschaftskompetenz, das heißt, die Fähigkeit, wirtschaftliche Probleme lösen zu können, als ein Markenkern der Union.
Als Parteien der sozialen Marktwirtschaft, des Wirtschaftswunders und auch des außenpolitisch anerkannten Kurses der Westintegration wurden CDU und CSU zu erfolgreichen bürgerlichen Sammlungs- und Integrationsparteien, die zudem dem hohen Bedürfnis nach Sicherheit in Zeiten des Kalten Krieges entgegenkamen. Verstärkt durch die große Popularität Adenauers und des damaligen Wirtschaftsministers Ludwig Erhard gelangen der CDU/CSU in den 1950er-Jahren große Wahlerfolge. Erst- und einmalig erreichte die Union bei der Bundestagswahl 1957 mit 50,2 Prozent sogar die absolute Mehrheit der Stimmen.
Die SPD verharrte dagegen bis 1966 in der Opposition. Unmittelbar nach 1949 war sie noch keine Volkspartei und verstand sich traditionsgemäß mehr als Interessenpartei der Arbeiterschaft. Entlang der sozioökonomischen Konfliktlinie der bundesdeutschen Gesellschaft und ihres Parteiensystems verfolgten CDU/CSU und FDP eher eine marktwirtschaftliche Orientierung und vertraten mittelständisch-freiberufliche Interessen, während sich die SPD eher für Arbeitnehmer- bzw. Gewerkschaftsinteressen einsetzte und Staatsinterventionismus befürwortete. Dazu kam die soziokulturelle Konfliktlinie zwischen religiös-kirchlich-konfessioneller Bindung (vertreten durch CDU/CSU) und Säkularisierung (vertreten durch SPD und FDP). Diskreditiert wurde die SPD anfänglich außerdem durch die Entwicklung in der Sowjetischen Besatzungszone/DDR. Dort erfolgte, gesteuert durch die sowjetische Besatzungsmacht, die Vereinigung der dortigen SPD mit der KPD zur Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED), was die SPD unter den Generalverdacht rückte, für sozialistische Bestrebungen anfällig zu sein.
Die Wahlniederlagen 1953 und 1957 veranlassten die SPD-Führung zu einer Veränderung ihres Kurses. Da es der SPD nicht gelungen war, über ihre Kernwählerschaft hinaus weitere zentrale gesellschaftliche Gruppen für sich zu gewinnen, kam es zu einer volksparteilichen Öffnung: zunächst durch eine Reform der Parteiorganisation auf dem Stuttgarter Parteitag 1958, mit der bestimmt wurde, dass nicht mehr hauptamtliche, von der Partei bezahlte Sekretäre, sondern gewählte Repräsentanten innerparteiliche Spitzenpositionen übernahmen. Anschließend erfolgte mit dem Godesberger Programm von 1959 die Anerkennung der Marktwirtschaft und schließlich 1960 die der Westintegration Deutschlands. Nach und nach legte die SPD ihr Profil als traditionelle Arbeiterpartei ab, um im Sinne einer Volkspartei bei Wahlen mehrheitsfähig zu werden. Ihr Programm, ihr Image und ihre gesellschaftliche Verankerung veränderten sich im Laufe der 1960er- und 1970er-Jahre. Zwar blieb das gewerkschaftlich gebundene Arbeitnehmermilieu die Basis der sozialdemokratischen Wählerschaft, wurde aber nun durch andere Wählergruppen wie Beamte, Angestellte im Dienstleistungsbereich und in sozialen Bereichen sowie Lehrberufen erweitert.
Das bundesrepublikanische Parteiensystem war anfänglich durch eine Zweiparteiendominanz gekennzeichnet. Die kleineren Parteien verschwanden nach und nach von der Bühne. Die Union vermochte kleinere bürgerliche Parteien zu absorbieren; durch den wirtschaftlichen Aufschwung in den 1950er-Jahren verloren kleine Interessenparteien wie etwa der "Bund der Heimatlosen und Entrechteten" (BHE), der die Interessen der Millionen Vertriebenen aus den ehemaligen Ostgebieten des früheren Deutschen Reiches vertrat, an Rückhalt in der Wählerschaft.
Davon ausgenommen blieb lediglich die FDP, die sich als kirchenferner bzw. antiklerikaler Gegenpol zur CDU/CSU mit liberaler Wirtschaftspolitik und nationalliberaler Haltung auf der kulturellen Konfliktlinie ihre Existenzberechtigung bewahrte.
Zwei Parteien wurden vom Bundesverfassungsgericht wegen verfassungsfeindlicher Bestrebungen verboten: die rechtsextreme "Sozialistische Reichspartei" (SRP) im Jahr 1952 und die "Kommunistische Partei Deutschlands" (KPD) im Jahr 1956. In den 1960er- und 1970er-Jahren war das Dreiparteiensystem aus CDU/CSU, SPD und FDP bestimmend. Der FDP kam als "Zünglein an der Waage" oder als "Partei der zweiten Wahl" die Rolle als Königsmacherin zu. Taktisch denkende Wählerinnen und Wähler, die eine Regierungskoalition unter Einbezug der FDP anstrebten, gaben ihr als bevorzugter Koalitionspartei ihre Stimme.
Bildete sie im Bund zunächst fortwährend Koalitionen mit den Unionsparteien, so veränderte sie aufgrund von Differenzen in der Haushalts- und Steuerpolitik im Jahr 1966 ihr Koalitionsverhalten. Es erfolgte eine Umorientierung zugunsten der SPD, deren Wandel zur Volkspartei sich in doppelter Hinsicht auswirkte: Zum einen wurde die Partei damit mehrheits- und regierungsfähig – im Jahr 1966 wurde sie Juniorpartner von CDU und CSU in der ersten Großen Koalition in der Geschichte der Bundesrepublik unter Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger. Drei Jahre später stellte die SPD mit Willy Brandt erstmals den Bundeskanzler, im Jahr 1972 wurde sie zum ersten und bis 1998 auch letzten Mal stärkste Partei bei Bundestagswahlen.
Zum anderen war mit dem Wandel der SPD zur Volkspartei auch eine Koalitionsbildung mit der FDP möglich geworden. Die liberale Partei stellte im Jahr 1969 ihre Zuverlässigkeit als künftige Koalitionspartnerin der Sozialdemokraten unter Beweis, als sie bei der Wahl des Bundespräsidenten in der Bundesversammlung im März 1969 fast geschlossen für den SPD-Kandidaten Gustav Heinemann votierte. Damit waren die Voraussetzungen für einen Koalitionswechsel geschaffen. Nur wenige Monate später bildeten SPD und FDP erstmals eine gemeinsame Bundesregierung.
Während die erste Phase der sozialliberalen Koalition unter Willy Brandt noch von Aufbruchsstimmung und Reformeuphorie geprägt war, kühlte sich das Verhältnis beider Parteien im Zuge des Krisenmanagements unter Helmut Schmidt (Ölkrisen, RAF-Terrorismus, spürbarer Anstieg der Arbeitslosigkeit) merklich ab. Die sozialliberale Koalition unter den Bundeskanzlern Brandt und Schmidt wurde mehrfach nach Bundestagswahlen erneuert und hielt bis zum Herbst 1982. Anschließend wechselte die FDP erneut den Koalitionspartner und bildete wieder mit der Union unter Bundeskanzler Helmut Kohl die Bundesregierung bis zum Jahr 1998.
Erosion der Volksparteien und die deutsche Einheit
Im Parteiensystem der späten 1970er-Jahre war ein spürbarer Wandel zu beobachten. Es kam zum Aufstieg der Grünen, welcher mit der Erosion der Volksparteien, insbesondere der SPD, Hand in Hand ging. Teile der Wählerschaft standen der etablierten Politik skeptisch bis ablehnend gegenüber. So wandten sie sich gegen den Nato-Doppelbeschluss, der vorsah, dass amerikanische Mittelstreckenraketen in Deutschland stationiert werden sollten, und protestierten gegen die Nutzung von Atomkraft und gegen eine zunehmende Umweltzerstörung.
Die etablierten Parteien unterstützten dagegen weiterhin ökonomisches Wachstum, ohne ökologische Aspekte in den Vordergrund zu rücken, traten für den Bau von Atomkraftwerken ein und favorisierten die atomare Nachrüstung. Daraufhin bildete sich ein Protestlager heraus. Mobilisiert durch die Umwelt- und Anti-AKW-Bewegung, die Frauenbewegung und schließlich die Friedensbewegung, stellte es die bisherige Politik in Frage und unterstützte die neu gegründete Partei der Grünen, die sich anfangs als "Anti-Partei-Partei" verstand. Grundlage der Wahlerfolge der Grünen seit den 1980er-Jahren ist eine soziostrukturell abgrenzbare Wählergruppe, die sich einer gemeinsamen Werteorientierung verbunden fühlt. Dazu gehörten vorzugsweise zunächst die jüngeren Generationen mit höherer formaler Bildung, die meist in Universitätsstädten lebten und libertäre Werte wie Umweltschutz, Pazifismus, Toleranz und Selbstentfaltung vertraten. Durch verschiedene soziale Bewegungen verdichteten sie sich zu spezifischen Milieus und begründeten auf diese Weise eine neue Konfliktlinie im deutschen Parteienwettbewerb.
Prägend für das Binnenleben der Partei wurde die Auseinandersetzung zwischen zwei Flügeln, den sogenannten Fundamentalisten und den "Realos". Nachdem der harte Kern des radikalen Flügels ausgeschieden war, begann der innerparteiliche Erfolgsweg der Realos um den späteren Außenminister Joschka Fischer, der unter anderem auch Regierungsbeteiligungen an der Seite der SPD anstrebte. Die Entwicklung der Partei verlief recht schnell weg von radikal-systemoppositionellen Politikentwürfen hin zu eher pragmatisch-reformerischen Konzepten.
Dieser programmatische Wandel der Grünen verlief im Einklang mit ihrer Wählerschaft. Auch die Organisationsstrukturen wurden an die der etablierten politischen Konkurrenten angeglichen, vom idealistischen Konzept der Basisdemokratie ist kaum etwas übrig geblieben. Immerhin ist der innerparteiliche Dualismus der Partei noch immer bestimmend und spiegelt sich beispielsweise in ihrer als Doppelspitze gestalteten Führungsstruktur bis heute wider. Als endgültig etabliert im deutschen Parteiensystem können die Grünen seit ihrer Koalitionsbildung mit der SPD im Jahr 1998 gelten.
Bis dahin bildeten beide Parteien die parlamentarische Opposition. Von 1982 bis 1998 regierte eine Koalition von CDU/CSU und FDP; diese Koalition schaffte auch nach dem Fall der Berliner Mauer 1989 die Mehrheitsbildung. Dazu trug der Umstand bei, dass es Bundeskanzler Helmut Kohl gelang, den anschließenden Einigungsprozess nach mehrheitlicher Auffassung der Bevölkerung effektiv und erfolgreich zu gestalten, was seiner Partei, der CDU, Auftrieb gab. Die FDP wurde dagegen immer stärker rein machtpolitisch und immer weniger durch inhaltliche Positionsbestimmung wahrgenommen, was dazu führte, dass sie zunehmend als bloßes Anhängsel der Union und nicht als eigenständige Kraft mit inhaltlichem Profil angesehen wurde.
Die Grünen sollten nicht der einzige Neuzugang im Kreis der etablierten Parteien bleiben. Mit der Vollendung der politischen Einheit Deutschlands nach 1990 kam die Nachfolgeorganisation der DDR-Staatspartei SED, die "Partei des Demokratischen Sozialismus" (PDS) hinzu. Sie verfolgte zu ihrer Existenzsicherung eine doppelte Strategie: Als sozialistische Alternative, welche soziale Gerechtigkeit mit einer Präferenz für ein ausgebautes Sozialstaatsmodell propagierte, forderte sie vermehrte sozialstaatliche Leistungen, um soziale Ungleichheiten zu verringern.
Daneben trat sie als ostdeutsche Regionalpartei auf, denn in den neuen Ländern konnte die PDS sehr viel ungehemmter den Ost-West-Gegensatz im Wettbewerb mit anderen Parteien zu ihrem Thema machen. Als einzige "geborene" Ostpartei wurde die PDS zur Stimme einer Abwehrhaltung gegenüber dem Westen, die sich mit "Teilnostalgie" gegenüber der DDR verband. Die PDS sah sich als Sprachrohr einzelner ostdeutscher Interessen und Mentalitäten. Damit konnte sie Protestwähler einbinden, welche aus subjektiver Haltung das politische System Deutschlands skeptisch beurteilten, wozu auch größere Teile der wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Eliten der ehemaligen DDR zählten. Reale ökonomische Probleme und soziale Verwerfungen im Zuge des Einigungsprozesses förderten bei einem Teil der ostdeutschen Bürgerinnen und Bürger ein Einstellungsmuster aus enttäuschten Erwartungen, Benachteiligungs- und Kolonialisierungsgefühlen, nostalgischer Verklärung der Geschichte der DDR, Misstrauen gegenüber etablierter westlicher Politik und Bejahung einzelner sozialistischer Grundtendenzen.
Die Erfolge der kleineren Parteien gingen zu Lasten der Großparteien CDU/CSU und SPD, die bei Bundestagswahlen bis 2013 durchgängig Stimmenanteile und Mitglieder verloren. Offensichtlich zu erkennen waren Probleme wie Integrations- und Mobilisierungsschwächen, schwindende Organisationskraft und Vitalitätsverluste infolge des Altersanstiegs ihrer Mitglieder. Das Durchschnittsalter der Mitglieder von CDU und SPD beträgt 59 Jahre.
Zu diesen Problemen, die vor allem die Großparteien betrafen, trugen langfristige Entwicklungen bei, die bis in die Gegenwart andauern. Zu ihnen zählen ein sozioökonomischer und soziokultureller Wandel, ein Wertewandel sowie Trends zu Säkularisierung und Individualisierung. Die traditionellen Milieus, die mentalitäts- und bewusstseinsprägend waren, sind geschrumpft, so beispielsweise das der SPD nahe stehende gewerkschaftlich geprägte (Fach-)Arbeitermilieu oder das der CDU nahe stehende katholische Milieu. Die Zahl derer, die sich zur Arbeiterschicht zählen, ist von mehr als 50 Prozent in den 1950er-Jahren auf unter 30 Prozent zurückgegangen. Bei den Katholiken verringerte sich der Anteil der regelmäßigen Kirchgänger im gleichen Zeitraum von über 70 auf weniger als 25 Prozent.
Parallel dazu verliefen Prozesse der Individualisierung und Pluralisierung der Lebensstile: Konsumgewohnheiten, Partnerschaftsverhalten, Erwerbsformen oder Freizeitaktivitäten haben sich ausdifferenziert und prägen das Identitätsgefühl häufig mehr als die formale Schichtzugehörigkeit. Hinzu kommt, dass sich die sozialen Schichten hinsichtlich ihrer Interessen, Alltagskulturen, ihres politischen Informationsverhaltens und ihrer Lebensstile auseinanderbewegen. Die Fülle der Optionen zur Freizeitgestaltung vergrößert die Unterschiede.
Entstanden sind vielerlei kleinteilige Milieus, die wiederum zu erhöhter Volatilität, das heißt zu einer Zunahme der Wechselwahlbereitschaft geführt haben. Das bedeutet, die jeweiligen sozialen Gruppen wählen weit weniger geschlossen ihre einstigen Stammparteien. Bei Jugendlichen ist zumeist kaum noch von einer Parteibindung auszugehen. Seit den 1970er-Jahren lässt sich eine abnehmende Loyalität gegenüber den etablierten Parteien, insbesondere gegenüber den Großparteien CDU und SPD, verzeichnen. Diese abnehmende Loyalität findet bei Landtagswahlen noch stärkeren Ausdruck als bei Bundestagswahlen. Das hat seinen Grund wohl darin, dass Wahlen zweiter Ordnung (dazu zählen auch Wahlen zum Europäischen Parlament) Wählerinnen und Wähler eher zu einer insgesamt geringeren Mobilisierung und zu Protestverhalten oder Wechselwahl animieren als gesamtstaatliche Wahlen. Landtagswahlen werden nicht selten als Test- oder Stimmungswahl über die Politik der Bundesregierung genutzt.
Enttäuschte Erwartungen der Wählerschaft, Unsicherheitsgefühle und Abstiegsängste können für diese Entwicklung mitverantwortlich gemacht werden. Sie speisten sich in den 1990er-Jahren auch aus den Folgen des tiefgreifenden wirtschaftlichen Strukturwandels in Ostdeutschland und den Folgen der Globalisierung für den innerstaatlichen Arbeitsmarkt. Aus Sicht eines nicht unerheblichen Teils der Wählerschaft haben speziell die Großparteien seit jeher für subjektiv wahrgenommene soziale Schieflagen und Statusbedrohungen die Verantwortung zu übernehmen. Staatliche Verantwortung für soziale und wirtschaftliche Fragen wird von weiten Teilen der Wählerschaft gefordert, der Wunsch nach umfassender Absicherung durch den Staat ist relativ weit verbreitet. Von den zentralen politischen Akteuren wird erwartet, Probleme zu lösen und vor Risiken zu schützen.
Weiterhin problematisch für die Großparteien ist die geringere Parteibindung der Wählerinnen und Wähler im Osten Deutschlands, was den Wettbewerb um Wechselwähler intensiviert und spezifische Mobilisierungs-, Identitäts- und Organisationsprobleme beider Volksparteien in Ostdeutschland nach sich zog. Während die SPD sich in den neuen Bundesländern neu gründete, konnte die CDU zwar auf die Organisation und Mitglieder der ehemaligen Blockpartei der Ost-CDU zurückgreifen, musste aber aufgrund der unterschiedlichen Sozialisation Integrationsschwierigkeiten bewältigen; zudem war die CDU im Osten Deutschlands geringer verankert. Der Antikommunismus, der bis 1990 bürgerliche Wählerinnen und Wähler mobilisiert hatte, konnte nach dem Ende der DDR nicht mehr in gleichem Ausmaß als integrative Klammer für Unionswähler wirken.
Das Parteiensystem der DDR
Bereits im Juni 1945 erlaubte die sowjetische Militäradministration in Deutschland (SMAD) die Gründung von Parteien. In der sowjetisch besetzten Zone entstanden daraufhin die "Kommunistische Partei Deutschlands" (KPD), die "Christlich Demokratische Union" (CDU), die "Liberal-Demokratische Partei Deutschlands" (LDPD) und die "Sozialdemokratische Partei" (SPD). Im Jahr 1948 kamen zwei weitere bürgerliche Parteien hinzu, die "Demokratische Bauernpartei Deutschlands" (DBD) und die "National-Demokratische Partei Deutschlands" (NDPD).
Schon früh versuchte die sowjetische Besatzungsmacht alle Parteien in einer "antifaschistischen Einheitsfront" zusammenzuführen. Im April 1946 kam es auf ihren Druck zur Verschmelzung von KPD und SPD zur SED, die fortan die dominierende Staatspartei in der DDR werden sollte. Nicht wie in demokratischen Verfassungsstaaten üblich wurden die Regierung und das Parlament durch freie, gleiche, geheime Wahlen legitimiert, sondern die SED beanspruchte ihre führende Rolle im Staat aufgrund der Ideologie des Marxismus-Leninismus, wie es in Art. 1 der Verfassung von 1974 zum Ausdruck kommt: "Die Deutsche Demokratische Republik ist ein sozialistischer Staat der Arbeiter und Bauern. Sie ist die politische Organisation der Werktätigen in Stadt und Land unter Führung der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei."
Alle anderen Parteien und sonstige Massenorganisationen wie Gewerkschaften, Genossenschaften oder Vereine mussten den Führungsanspruch der SED anerkennen. Wettbewerb und realer Pluralismus waren somit ausgeschlossen. Die SED sah es als ihre Aufgabe an, die staatlichen Institutionen anzuleiten, diese wiederum hatten die Aufgabe, die Politik der SED umzusetzen. Die anderen Parteien, CDU, LDPD, NDPD und DBD, galten als sogenannte Blockparteien, die jenen Bürgerinnen und Bürgern eine politische Heimat bieten sollten, welche der SED skeptischer gegenüberstanden. Real besaßen die Blockparteien jedoch so gut wie keinen politischen Einfluss, da sie sich dem Machtanspruch der SED zu unterwerfen hatten.
Der revolutionäre Umbruch 1989/90 in der DDR erreichte das Ziel seiner Unterstützer: Das Machtmonopol der SED wurde aufgebrochen. Das Ende der sozialistischen Staatsherrschaft einer Partei konnte herbeigeführt werden. Am 18. März 1990 kam es erstmals seit 1946 wieder zu freien Wahlen auf dem Gebiet der DDR.
Die SED hatte sich zu diesem Zeitpunkt in "Partei des Demokratischen Sozialismus" (PDS) umbenannt. An der Parlaments-(Volkskammer-)wahl nahmen viele Gruppierungen teil, bestimmt wurde sie jedoch – neben der PDS – hauptsächlich von den etablierten Parteien der Bundesrepublik wie CDU/CSU, SPD, FDP und Grüne. Die Grünen Westdeutschlands vereinten sich erst im Jahr 1990 nach der Bundestagswahl mit den ostdeutschen Grünen, und erst im Jahr 1993 mit dem "Bündnis 90", der Organisation, in der sich viele DDR-Bürgerrechtler zusammengeschlossen hatten. Alle anderen etablierten westdeutschen Parteien vollzogen die Einigung mit ihren Schwesterparteien recht schnell in den ersten Monaten nach dem Fall der Berliner Mauer. Teile der DDR-Bürgerrechtsbewegung waren zunächst gegenüber den Parteien abwartend bis skeptisch, später in einigen Parteien aktiv, so unter anderem in der neu gegründeten ostdeutschen SPD, im Bündnis 90, bei den Grünen oder – in erheblich geringerer Zahl – im bürgerlichen "Demokratischen Aufbruch" (DA).
Die Volkskammerwahl im Jahr 1990 entschied die "Allianz für Deutschland" – bestehend aus der CDU, der "Deutschen Sozialen Union" (DSU), die der CSU nahe stand, und dem DA – mit knapp 48 Prozent der abgegebenen Stimmen für sich und bildete anschließend eine Koalition mit der SPD und den Liberalen ("Bund Freier Demokraten") mit Ministerpräsident Lothar de Maizière an der Spitze. Diese Regierungskoalition bereitete dann im Folgenden mit der westdeutschen Bundesregierung unter Helmut Kohl die politische Einheit Deutschlands vor, die am 3. Oktober 1990 vollendet wurde.
Jüngste Tendenzen (1998 bis heute)
Für die derzeitige Struktur des Parteiensystems lassen sich mit Blick auf die drei Eigenschaften Fragmentierung, Polarisierung und Segmentierung im historischen Vergleich drei Tendenzen beobachten:
Zunahme der Fragmentierung bis zur Bundestagswahl 2013
Zunahme der Polarisierung des Wettbewerbs durch das Hinzukommen von Grünen und Linkspartei, später auch der Piratenpartei und der "Alternative für Deutschland" (AfD) sowie durch Positionsverschiebungen der FDP bei gleichzeitiger "Mitte-Orientierung" und Konsensfähigkeit der beiden Großparteien;
Zunahme der Segmentierung mit größerer Unübersichtlichkeit unterschiedlicher Koalitionsformen.
Niedermayer zufolge eine "fluide Wettbewerbssituation", die durch eine relative Unbestimmtheit der Konkurrenzlage gekennzeichnet ist, verbunden mit großen Unsicherheiten für die Parteien hinsichtlich ihrer Stimmenanteile und der Regierungsbildung. Die Gunst der Wählerinnen und Wähler verteilt sich immer weniger nach eingefahrenen Beweggründen und immer häufiger nach situationsbedingtem Kalkül.
Symptom der gestiegenen Fragmentierung bis zum Jahr 2013 sind das Aufkommen der Grünen zu Beginn der 1980erJahre und der Aufstieg der PDS, seit 1990 "Linkspartei. PDS", seit der Fusion im Jahre 2007 mit der Partei "Arbeit und soziale Gerechtigkeit – Die Wahlalternative" (WASG) "Die Linke". Beide Parteien haben zeitweise auch politischen Protest aufnehmen und daraus Wählerinnen und Wähler rekrutieren können. In jüngster Zeit konnten die Piratenpartei (2011/12) oder die "Alternative für Deutschland" (AfD) (seit 2013) Protestwähler für sich gewinnen. Protestparteien nutzen das Unbehagen von Wählerinnen und Wählern gegenüber einzelnen politischen Entscheidungen oder der etablierten Politik insgesamt, indem sie durch provokantes Auftreten, eine gezielte Anti-Establishment-Haltung sowie kalkulierte Tabubrüche auf sich aufmerksam machen und damit verschiedenste Protestwähler hinter sich vereinen.
Deutlich bei der Analyse der Polarisierung wird, dass die kleinen Parteien jeweils einen Pol für sich einnehmen: Die FDP tritt von allen Parteien am deutlichsten für marktwirtschaftliche Prinzipien ein, die Linke für Staatsinterventionismus in der Wirtschafts- und Sozialpolitik, Bündnis 90/Die Grünen für libertäre Werte, insbesondere für die kulturelle Anerkennung aller gesellschaftlichen Gruppen. Die erst im Jahr 2012 neu entstandene Alternative für Deutschland (AfD) propagiert autoritäre Werte der inneren und äußeren Sicherheit, des Nationalismus und des Traditionalismus. Diese programmatisch-ideologischen Positionierungen finden auch in der Selbstbeschreibung ihren Ausdruck: Die FDP sieht sich als einzige "Marktpartei" im Wettbewerb, die Linke als einzige Sozialstaatspartei, Bündnis 90/Die Grünen als Partei kultureller Vielfalt und Toleranz, die AfD als "nationale Alternative".
Die Großparteien CDU/CSU und SPD sind dagegen als "Volksparteien" Parteien der politischen Mitte, welche die unterschiedlichen Meinungen, Werthaltungen und Anschauungen auszubalancieren versuchen, um mehrheitsfähig zu sein und (nahezu) alle gesellschaftlichen Gruppen bei Wahlen für sich zu gewinnen. Beide Parteien tragen somit schon einen ausgeprägten Konsensgedanken in ihren Programmen und ihrer Organisation mit sich, wie es für den Typus der "Volkspartei" kennzeichnend ist, dem beide nach eigenen Vorstellungen entsprechen wollen. Thematische Vielfalt und Flexibilität sowie eine gewisse programmatische Unbestimmtheit kennzeichnen diesen Parteientypus – eine notwendige Voraussetzung für erfolgreiche Stimmenmaximierung, das zentrale Ziel der Volksparteien im Parteienwettbewerb.
Um keinen falschen Eindruck zu erzeugen, soll hier klargestellt werden, dass zwischen SPD und CDU/CSU durchaus Unterschiede zu erkennen sind. Unterschiedliche Schwerpunkt- und Themensetzungen bleiben bestehen oder werden neu fundiert, um die nach wie vor vorhandene unterschiedliche Interpretation von Werten beizubehalten und die nicht zu vernachlässigende Gruppe der Stammwähler an sich zu binden. Man könnte von politischen Tendenzbetrieben sprechen, die ihre traditionelle Milieuverhaftung nicht gänzlich abstreifen können, bieten sie doch Wählerinnen und Wählern sowie Mitgliedern Identität und Identifikation im Parteienwettbewerb.
In beiden Wettbewerbsdimensionen liegen beide Parteien aber nicht so weit auseinander, dass nicht Kompromisse erzielt und ein Konsens hergestellt werden könnte. Dieser Wille zum Konsens wird zum einen verstärkt durch die prinzipielle Bereitschaft beider Großparteien zur Regierungsbeteiligung, wie sie in der derzeitigen Großen Koalition zum Ausdruck kommt: Auf der Arbeitsebene der Regierungspolitik kann nach übereinstimmender Auffassung von Beobachtern ein ausreichender Konsens zur Problembewältigung des Regierungsalltags hergestellt werden, was aufgrund der inhaltlichen Nähe im Parteienwettbewerb nicht verwundert. Diese ohnehin schon vorhandene Nähe im Parteienwettbewerb wurde zum andern durch externe Einflüsse weiter verstärkt.
Trends seit 1998
Mit der Bundestagswahl 1998 gelang erstmals und bisher einmalig in der Geschichte ein vollständiger Regierungswechsel: SPD und Bündnis 90/Die Grünen lösten CDU/CSU und FDP als Regierungsparteien ab und regierten unter Bundeskanzler Gerhard Schröder bis zur vorgezogenen Neuwahl im Herbst 2005. In dessen Amtszeit vollzog sich eine bedeutsame Positionsverschiebung der SPD im Parteiensystem, vornehmlich in der ökonomischen Konfliktdimension. Mit der sogenannten Agenda 2010 gelang eine im Ausland viel beachtete, im Inland kontrovers diskutierte Reform des Wohlfahrtsstaates und des Arbeitsmarktes, welche mehr Eigenverantwortung einforderte und eine partielle Verringerung der staatlichen Fürsorge mit sich brachte. Die Regierungskoalition aus SPD und Bündnisgrünen reagierte damit auf ökonomische Schwierigkeiten Deutschlands im Zuge der Anpassung an die Herausforderungen der Globalisierung.
Damit vertrat die SPD zu weiten Teilen pragmatisch zentristische Positionen, ohne sich vollständig von sozialdemokratischen Traditionsbeständen zu lösen. Dennoch stellte ihr Vorgehen sie vor eine Zerreißprobe. Die Partei hatte in Folge bei der Wählerschaft erheblich um ihre Anerkennung zu kämpfen und verlor innerhalb eines Jahrzehnts von der Wahl 1998 bis zur Wahl im September 2009 rund zehn Millionen Wählerstimmen. Aus Protest gegen die Arbeitsmarkt- und Sozialreformen gründete sich die Partei "Arbeit und soziale Gerechtigkeit – Die Wahlalternative (WASG)", die 2007 in der Partei "Die Linke" aufging.
Von diesen Verlusten konnten die Unionsparteien bis zur Bundestagswahl 2013 jedoch nicht vollständig profitieren. Lagen sie in Meinungsumfragen vor der Bundestagswahl 2005 zum Teil sehr deutlich vorn, so büßten sie diesen Vorsprung bis zum Wahltag fast vollständig ein und landeten nur knapp vor der SPD, mit der sie in Folge die zweite Große Koalition in der Geschichte der Bundesrepublik unter Angela Merkel als Bundeskanzlerin bildeten.
Als Hauptursache des aus Sicht der Union enttäuschenden Wahlergebnisses von 2005 wurde von vielen Christdemokraten die Vernachlässigung sozialer Themen im Wahlkampf betrachtet, das marktliberale Programm der Union von 2005 habe die SPD zum Schaden der CDU mit ihrer Wahlkampfstrategie erfolgreich zum Image der CDU/CSU als "Partei der sozialen Kälte" umgemünzt. Der Kurs der CDU/CSU in der Regierungspolitik ist, unabhängig von der Notwendigkeit, mit der SPD in Großen Koalitionen Kompromisse anstreben zu müssen, seitdem von Vorsicht gegenüber wirtschafts- und sozialpolitischen Reformen geprägt. Das marktliberale Programm von 2005 wurde den Parteiarchiven überantwortet, und die Union bewegt sich wieder in Richtung Sozialstaatspartei.
Die CDU/CSU setzte diesen sozialstaatlich orientierten Kurs auch in der Koalition mit der FDP von 2009 und in der dritten Großen Koalition seit 2013 fort. Angela Merkels Politik ist von dem Ziel bestimmt, den Modernitätsrückstand der CDU in Fragen des gesellschaftlichen Zusammenlebens und moderner Lebensstile abzubauen und sie in ihrem kulturellen Ausstrahlungsprofil auf die Höhe der Zeit zu hieven. Beispiele dafür sind das Leitbild der berufstätigen Frau, die Anerkennung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften und die Akzeptanz von Einwanderung und kultureller Vielfalt. Mit teilweise atemberaubender Geschwindigkeit löste sich die CDU von programmatischen Traditionsbeständen wie beispielsweise der Nutzung der Atomenergie oder der allgemeinen Wehrpflicht. Dieser Parforceritt droht jedoch ihr Stammwählerfundament zu überfordern, wie selbst parteiintern kritische Stimmen anmerken.
Tatsächlich ist der Union eine wettbewerbsstarke Konkurrenz in der soziokulturellen Konfliktdimension erwachsen: Die 2013 bei der Bundestagswahl nur knapp an der Fünfprozenthürde gescheiterte AfD verbindet eine europaskeptische Haltung (insbesondere im Hinblick auf die Gemeinschaftswährung Euro) mit Themen der Migration, der inneren Sicherheit und dem traditionellen Familienbild. Nach Auffassung des Bonner Politikwissenschaftlers Frank Decker schickt sich mit der AfD eine neue Gruppierung an, die Geschichte der Erfolglosigkeit des Rechtspopulismus in der Bundesrepublik zu beenden. Die AfD vertritt in ihrem Programm eher national-konservative Positionen und zieht unzufriedene Wählerinnen und Wähler aus unterschiedlichen Bevölkerungssegmenten an.
Zuletzt jedoch machte die AfD mit erheblichen innerparteilichen Streitigkeiten auf sich aufmerksam. Sie gipfelten in der Spaltung zwischen dem nationalkonservativen Flügel und der liberaleren europaskeptischen Strömung, die sich 2015 als neue "Allianz für Fortschritt und Aufbruch" (ALFA) formierte.
Da die AfD und ALFA in der Wirtschaftspolitik eher klassische liberale Positionen vertreten, bleibt auch die Zukunft der FDP ungewiss: Erstmals in ihrer Geschichte schieden die Liberalen 2013 aus dem Bundestag aus. Dies war das einschneidende Ergebnis der Bundestagswahl 2013, bei der mit der FDP und der AfD gleich zwei Parteien nur knapp die Fünfprozenthürde verpassten. Die schwarz-gelbe Regierungskoalition von 2009 bis 2013 endete für die FDP mit einem Desaster. Die Wählerinnen und Wähler stellten der Regierungstätigkeit der FDP ein denkbar schlechtes Zeugnis aus. Weder ihr Personalangebot, noch ihre thematische Ausrichtung konnte ihre Wählerschaft ausreichend mobilisieren. Die programmatische Ausrichtung auf den Marktliberalismus stieß nach der Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008 auf verbreitete Skepsis.
Die Unionsparteien profitierten von der hohen Popularität der Bundeskanzlerin und wurden mit Abstand zur stärksten Partei; insgesamt konnten sie um 7,7 Prozentpunkte zulegen. Der SPD, die mit Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns und Modellen zum Eintritt in den vorgezogenen Ruhestand ab dem Alter von 63 Jahren wieder ihre klassischen sozialpolitischen Themen in den Vordergrund stellte, gelangen nur leichte Zugewinne. Doch hat sich bei der Bundestagswahl 2013 insgesamt der Trend gegen die Großparteien umgekehrt. Da Bündnis 90/Die Grünen nach der Wahl nicht in die Regierung eintreten wollte, blieb als einzige realistische Koalitionsmöglichkeit die Wiederauflage einer Großen Koalition übrig. Die SPD befragte dazu erstmalig ihre Mitglieder, die bei einer Wahlbeteiligung von über 78 Prozent mit überwältigender Mehrheit dem Koalitionsvertrag zustimmten. Die Bündnisgrünen wiederum hatten im Bundestagswahlkampf 2013 vermehrt auf sozial- und wirtschaftspolitische Themen gesetzt, was die Wählerinnen und Wähler jedoch nicht honorierten. Zukünftig wollen die Bündnisgrünen wieder stärker ihren Markenkern in der Umwelt- und Energiepolitik in den Vordergrund rücken. Mit Interesse wird zu beobachten sein, ob die Partei künftig offen in Koalitionsentscheidungen zugunsten von CDU/CSU oder SPD (/Linke) gehen wird.
Die Bundestagswahl 2013 beendete die „Durststrecke“ der Großparteien CDU/CSU und SPD; der gegen sie laufende Trendder zunehmenden Fragmentierung hat sich umgekehrt, sodass mit Blick auf das deutsche Parteiensystem wieder eine Zweiparteiendominanz erkennbar ist.
Ob sich diese Entwicklung fortsetzt, lässt sich abschließend nicht endgültig sagen, denn vieles im Parteienwettbewerb ist situativer und unkalkulierbarer geworden.
Uwe Jun ist Professor für "Regierungslehre – Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland" an der Universität Trier, Sprecher des Arbeitskreises "Parteienforschung" der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft (DVPW) sowie Mitglied der DVPW, der Deutschen Vereinigung für Parlamentsfragen (DVParl) und des European Consortium for Political Research. Seine Forschungsschwerpunkte sind: Parteienforschung, Vergleichende Parlamentarismusforschung, Föderalismus, Politische Kommunikation und Koalitionsforschung.
Bei der Konzeption und der Materialrecherche wurde er unterstützt von Isabel Bähr, Sebastian Exner und Simon Jakobs
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