Demokratie beruht darauf, dass die Bürgerinnen und Bürger, die in ihr leben, sie anerkennen und unterstützen. Das heißt nicht, dass sie alles, was die politischen Institutionen und Akteure tun, gutheißen müssen – im Gegenteil: Demokratische Ordnungen werden nur dann stabil und erfolgreich sein, wenn sie lernfähig bleiben, also Kritik am Bestehenden offen und produktiv verarbeiten. Diese Kritik im Einzelnen ist genauso Lebenselixier von Demokratie wie die Anerkennung und Unterstützung ihrer Prinzipien seitens der Bürgerinnen und Bürger. Unbehagen, Unzufriedenheit, ja sogar Verdrossenheit über aktuelle Leistungen von Parteien und Politikern sind folglich solange unschädlich oder können sogar zu Verbesserung und Fortschritt in der Politik beitragen, wie sie nicht umschlagen in eine grundsätzliche Ablehnung der Werte, Normen und Spielregeln der Demokratie.
Immer wieder werden in den letzten Jahren aber Befürchtungen laut, dass genau dies in zunehmendem Maße geschieht. Schaut man sich die zahlreichen Bevölkerungsumfragen und ihre Interpretationen an, die sich in der veröffentlichten Meinung wie auch in der Politikwissenschaft finden, entsteht leicht der Eindruck, dass grundlegende Zweifel an parlamentarischer Demokratie und demokratischer Repräsentation gewachsen sind. Ein genauer Blick und eine nüchterne Analyse solcher Daten offenbaren hingegen, dass es in Deutschland keinen Rückgang – und schon gar nicht einen dramatischen – des politischen Vertrauens in die Demokratie als grundsätzliche Staatsform gibt.
QuellentextEinverstanden mit der Demokratie, unzufrieden mit den Leistungen der Politik
Die repräsentative Demokratie, ihre Institutionen und Akteure sind unter massivem Druck – jedenfalls, wenn man den mannigfachen Daten beziehungsweise ihren gängigen Interpretationen Glauben schenkt, die in der veröffentlichten Meinung und der sich mit diesen Themen befassenden Politikwissenschaft kursieren.
Anfang 2019 wurden in vielen deutschen Zeitungen die Ergebnisse einer Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach zitiert. Die Überschrift in der ZEIT lautete: "Ostdeutsche vertrauen der Demokratie weniger als Westdeutsche", im Tagesspiegel hieß es fast wortgleich: "Ostdeutsche vertrauen Demokratie weniger als Westdeutsche", der Münchner Merkur titelte: "Zweifel an der Demokratie als Staatsform", in der FAZ, die die Studie in Auftrag gegeben hatte, überschrieb Renate Köcher ihren Beitrag am 23. Januar 2019 mit: "Ostdeutsche haben wenig Vertrauen in Staat und Demokratie".
Die repräsentative Bevölkerungsumfrage hatte folgende Frage eingeschlossen: "Glauben Sie, die Demokratie, die wir in der Bundesrepublik haben, ist die beste Staatsform, oder gibt es eine andere Staatsform, die besser ist?" 77 Prozent der Westdeutschen und 42 Prozent der Ostdeutschen hatten sich für "die beste Staatsform" entschieden, dass es "bessere" gäbe, meinten zehn Prozent der Westdeutschen und 23 Prozent der Ostdeutschen; und letztere waren zu 35 Prozent unentschieden oder wollten sich nicht äußern.
Ähnliche zu Sorge um die Demokratie im Lande Anlass gebende Befunde sind schon seit Jahren immer wieder zu lesen. Erheblich weniger Beachtung finden Aussagen, die auf die zentrale Bedeutung unterschiedlicher Frageformate wie auf die Notwendigkeit des Zeitvergleichs hinweisen und zu dem Schluss kommen, dass die Bundesbürger ein positives Verhältnis zur Idee und Praxis der Demokratie aufweisen.
In der Tat: Es macht einen großen Unterschied, ob danach gefragt wird, ob die Bürger Demokratie als Idee beziehungsweise als grundsätzliche Staatsform unterstützen, ob sie sich für ihre spezifische Ausprägung in der Bundesrepublik aussprechen oder ob sie zufrieden sind mit den konkreten Leistungen dieser Demokratie zu einem gegebenen Zeitpunkt.
Dem jüngst erschienenen ALLBUS für das Jahr 2018
In derselben Umfrage wurde die Zufriedenheit mit der "Demokratie, so wie sie in Deutschland besteht", erhoben, also klar auf die konkrete Verwirklichung der Demokratie und die Zufriedenheit damit abgestellt; und hierbei antwortete ein deutlich geringerer Anteil der Befragten positiv: 60 Prozent der Westdeutschen und knapp 36 Prozent der Ostdeutschen zeigten sich "sehr zufrieden" oder "ziemlich zufrieden".
Nimmt man noch die Frage nach der Zufriedenheit "mit den gegenwärtigen Leistungen der Bundesregierung" hinzu, wird das Bild hinsichtlich aller drei oben genannten Einstellungsdimensionen komplett: Nur noch 22,5 Prozent im Westen und nicht einmal mehr 16 Prozent im Osten waren sehr oder ziemlich zufrieden.
Der Rückgang von 92 über 60 auf 22 Prozent in den alten Bundesländern und von 87 auf 36 und 16 Prozent in den neuen zum selben Zeitpunkt beweist offenkundig, dass mit den unterschiedlich formulierten Fragen unterschiedliche Ebenen in den Auffassungen der Bürger angesprochen werden. Auch wenn diese nicht in aller Trennschärfe ermittelt werden können, dürfte deutlich sein, dass die oben zitierten Allensbacher Daten nicht erlauben, den Ostdeutschen "Zweifel an der Demokratie als Staatsform" zu attestieren, weil "nur" 42 Prozent "die Demokratie, die wir in der Bundesrepublik haben", für die beste Staatsform halten. Vielmehr ist anzunehmen, dass in Antworten auf derlei Frageformulierungen ein gutes Stück einfließt, wie zufrieden oder unzufrieden jemand mit der konkreten Leistung des politischen Systems ist.
So können mit Fug und Recht die 36 Prozent im Osten des Landes, die mit der Demokratie, "so wie sie in Deutschland besteht", im Sommer 2018 zufrieden waren, mit den 42 Prozent aus der Allensbacher Umfrage vom Januar 2019 verglichen und plausibel festgestellt werden, dass der wohl hauptsächlich durch die Flüchtlingsproblematik im Herbst 2015 entstandene Verdruss sich mittlerweile verringert, die Besorgnis über dieses Thema abgenommen und die Zufriedenheit mit der gegenwärtigen Leistung des politischen Systems wieder zugenommen hat.
Von einer schwerwiegenden Vertrauenskrise – und die läge vor, wenn die entsprechenden Werte sich in Ostdeutschland innerhalb eines halben Jahres tatsächlich von 87 auf 42 Prozent mehr als halbiert hätten und im Westen von 92 auf 77 Prozent gefallen wären – kann also keine Rede sein. Ohnehin ist Vertrauen ein komplexes Konstrukt, das sich aus verschiedenen Einstellungen zusammensetzt, deren Ausprägungen und Mischung aus Umfragen zum Institutionen- bzw. Demokratievertrauen in der Regel nicht ersichtlich sind. Entsprechend schwierig ist eine genaue Interpretation.
Was genau meint jemand, der auf die Frage nach seinem Vertrauen in die Demokratie negativ geantwortet hat: Ist er verdrossen, weil die amtierende Regierung nicht seiner Parteipräferenz entspricht? Oder weil die Hartz-IV-Sätze zu niedrig oder zu hoch sind, die Migrationspolitik ihm missfällt oder die Kohlekraftwerke noch zu lange am Netz sein sollen? Ist mangelndes Vertrauen also aktuell begründet durch Akteure oder Politikinhalte? Oder ist das Motiv einer Negativ-Antwort grundsätzliches Misstrauen in die Mechanismen der Demokratie und ihrer Institutionen?
Suzanne S. Schüttemeyer, "Repräsentative Demokratie und politische Partizipation", in: Astrid Lorenz, Christian Pieter Hoffmann und Uwe Hitschfeld (Hg.), Partizipation für alle und alles? Fallstricke, Grenzen und Möglichkeiten, © Springer VS, Wiesbaden 2019, Kapitel 11
Fußnoten
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Vgl. Oscar W. Gabriel, Repräsentationsschwächen und die zweite Transformation der Demokratie: Wer will in Deutschland direkte Demokratie?, in: ZParl, 44. Jg. (2013), Heft 3, S. 592 – 612, S. 600 f.
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Vgl. zu diesen Zusammenhängen schon Suzanne S. Schüttemeyer, Bundestag und Bürger im Spiegel der Demoskopie. Eine Sekundäranalyse zur Parlamentarismusperzeption in der Bundesrepublik, Opladen 1986
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GESIS – Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften, Allgemeine Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften ALLBUS 2018, GESIS Datenarchiv, Köln 2019. ZA5270 Datenfile Version 2.0.0
Das bedeutet aber keineswegs, dass die parlamentarische Demokratie ungefährdet ist. Sie steht heute vor erheblichen Herausforderungen, die das Ergebnis gesellschaftlichen und (welt)politischen Wandels ebenso wie ökonomischer und ökologischer Entwicklungen sind. Um sicherzustellen, dass das politische System dadurch nicht in seinem Bestand gefährdet wird, müssen Parlamente und politische Repräsentanten lernfähig sein, also vor allem in lebendigem Austausch mit der Gesellschaft bleiben. Und die Repräsentierten, die Bürgerinnen und Bürger, müssen über Maßstäbe für ihre politische Urteilsbildung verfügen, die der Wirklichkeit der Institutionen angemessen sind und deren Handlungsmöglichkeiten und Handlungsgrenzen berücksichtigen. Denn wenn gravierende Missverständnisse vorliegen oder Kenntnisse über Grundlagen und Funktionsbedingungen der politischen Ordnung fehlen, wird entweder die nötige Kritikfähigkeit leiden, oder es werden Idealvorstellungen und Stereotype entwickelt, denen die politische Realität nicht entsprechen kann.
Für ein wirklichkeitsgerechtes Bild parlamentarischer Demokratie als politischer Ordnungsform sind vier Faktoren von entscheidender Bedeutung:
die Abgrenzung vom Präsidentialismus;
eine spezifische Form der Gewaltenteilung;
die Gewichtung von Parlamentsfunktionen und
das der parlamentarischen Repräsentation innewohnende Spannungsverhältnis zwischen der Bereitschaft der Politiker, den Interessen und Einstellungen der Bürgerinnen und Bürger entsprechend zu handeln (Responsivität), und der Notwendigkeit, sich gelegentlich im Interesse des Gemeinwohls mit politischen Entscheidungen darüber hinwegzusetzen und inhaltlich voranzugehen (politische Führung).
Was unterscheidet das parlamentarische vom präsidentiellen Regierungssystem?
Die Entwicklung der Parlamente in Großbritannien seit dem 15. Jahrhundert und in den Vereinigten Staaten von Amerika seit dem 18. Jahrhundert bildet die Grundlage für die historische Differenzierung von politischen Systemtypen. Danach sind in London und in Washington, D. C., Institutionen entstanden, die als Musterbeispiele für zwei ganz unterschiedliche Arten gelten können, ein demokratisches politisches System zu gestalten: das Westminster-Modell des Parlamentarismus (benannt nach dem Westminster Palace, dem Sitz der beiden britischen Parlamentskammern im gleichnamigen Stadtteil) und der Präsidentialismus. Zu dieser Unterscheidung kann man auch aber auf systematische Weise gelangen, indem Kriterien bestimmt und plausibel begründet werden. Diese Kriterien sollen in den Folgeabschnitten näher betrachtet werden. Zentral für die Unterscheidung zwischen Parlamentarismus und Präsidentialismus ist das Verhältnis von Legislative und Exekutive, also von – im klassischen Verständnis – gesetzgebender und ausführender Gewalt.
QuellentextZur Geschichte eines faszinierenden Institutionentyps
Parlamente haben sich inzwischen über die ganze Erde verbreitet. Man findet sie in unzweifelhaft demokratischen Staaten wie Deutschland und den USA ebenso wie in jenen autoritären islamischen bzw. anti-islamistischen Regimen, die es zwischen dem Maghreb und dem Indischen Ozean gibt, ja sogar in Diktaturen wie Weißrussland oder China. Blickt man zurück in die Geschichte, so lichten sich die Reihen parlamentarischer Institutionen allerdings aus: Parlamentarische Körperschaften, die wir auf den ersten Blick als solche identifizieren und die nicht föderativen Ursprungs sind, wird man in Asien und Afrika wohl kaum vor dem 20. Jahrhundert finden, in Amerika schwerlich vor dem 17. Jahrhundert. Viel weiter in die Vergangenheit reicht die gut erkennbare parlamentarische Tradition Europas: Vor dem demokratischen Parlamentarismus des – vor allem – 20. Jahrhunderts findet sich der "Frühparlamentarismus" der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, und ihm geht die bis ins Spätmittelalter währende Zeit ständischer Repräsentation voraus. [...]
Konkret entstanden sie [Ständeversammlungen] aus zunächst oft impliziten, später meist auch beurkundeten Vereinbarungen zwischen ständischen Führern und einem von ihnen anerkannten Landesherrn, in denen wechselseitige Rechte und Pflichten festgelegt wurden. [...] Der Landesherr sorgte [...] für kollektiven Schutz nach außen und untereinander sowie, nach Maßgabe seiner Möglichkeiten, für die Aufrechterhaltung der ständischen Ordnung überhaupt; und umgekehrt konnte der Landesherr, bei gedeihlichem Zusammenwirken mit der Versammlung seiner Stände, über seine eigenen Personal-, Material- und Finanzressourcen hinaus nötigenfalls auf jene Ressourcen zugreifen, über welche die Stände bzw. deren Führer verfügten. Für den Landesherrn war es also ratsam, oft gar unverzichtbar, ein gutes Auskommen mit den Ständen zu suchen; und diese wiederum konnten, als Gegenleistung des Landesherrn für die ihm von Fall zu Fall zur Verfügung gestellten Personal-, Material- und Finanzressourcen, Einfluss auf seine politischen und rechtsetzenden Maßnahmen gewinnen.
Als institutionelle Form dessen entstanden Körperschaften, in denen Monarchen oder im Rang unter ihnen stehende Landesherren mit den Führern der wichtigsten Stände bzw. mit solchen Vertretern zusammenwirkten, die von den Ständen als mehr oder minder weisungsgebundene Vertreter bestellt waren. Auf den Ständeversammlungen konnten diese einesteils als Vertreter von Korporationen auftreten wie der Ritterschaft oder der Universitäten, andernteils aber auch als Vertreter von Territorien. [...] Im übrigen unterschieden sich die Ständeversammlungen danach, ob sie fallweise bzw. nach eigenem Ermessen des Monarchen einberufen und entlassen werden konnten, oder ob sie – einmal einberufen – für eine bestimmte Zeit eine Art Bestandsgarantie genossen [...]. Ferner wurde folgenreich, ob eine Ständeversammlung dem Landesherrn körperschaftlich gegenüberstand, was in der deutschen Verfassungsgeschichte als "dualistischer Ständestaat" bezeichnet wird, oder ob sich – wie in England – die Vorstellung durchsetzte, Monarch und Ständeversammlung repräsentierten gemeinsam den "body politic" des Landes oder Reiches, also ein der gemeinsamen Leitung anvertrautes politisches System. Aus dieser Idee, in England auf die Formel "king in parliament" gebracht, konnte sich später vergleichsweise leicht das parlamentarische Regierungssystem entwickeln.
In Europa wurde seit dem 13. Jahrhundert das Zusammenwirken von Monarchen oder Landesherrn mit Ständen zur Normalform politischer Organisation. Unter dem Namen von Landständen und Landtagen, von Provinzial- und Reichsständen, von Generalständen und Generalstaaten, nicht nur im deutschen Reich auch unter dem Namen Reichstag, prägten ständische Vertretungskörperschaften jedenfalls bis zum 17. Jahrhundert die abendländische Geschichte des Regierens. [...] Wo immer es den Monarchen gelang, durch Erschließung eigener Steuerquellen, durch die Errichtung einer wirksamen Zentralverwaltung sowie durch den Aufbau einer dem Monarchen persönlich unterstehenden Armee ihre Machtstellung auszubauen, konnte die politische Rolle der Ständeversammlungen eben dadurch reduziert werden. In Frankreich schaffte es die Krone, von 1614 bis 1789 auf die Einberufung einer Versammlung der Stände des Reiches ganz zu verzichten. Aufgrund öffentlicher Finanznot nach so langer Zeit dann doch wieder zusammengerufen, erklärte sich die Kammer des Bürgertums alsbald zur Nationalversammlung und entzog – auf Rousseau’sches Demokratiedenken gestützt – nicht nur der institutionellen Form ständischer Repräsentation die Legitimationsgrundlage, sondern auch dem König ganz real seine Macht. In England hingegen wandelte sich die Ständevertretung der "Houses of Parliament" ziemlich bruchlos zum heute weitestgehend demokratisch legitimierten Träger eines parlamentarischen Regierungssystems. Allerdings trug hierzu die militärische Durchsetzung der Parlamentsmacht im Bürgerkrieg und bei der Glorreichen Revolution ganz wesentlich bei. In Deutschland wiederum bestanden Ständeversammlungen, etwa in den beiden mecklenburgischen Herzogtümern, noch bis zur Revolution von 1918 weiter, wenn auch hinsichtlich der sie tragenden Ordnungsvorstellungen recht isoliert inmitten eines nunmehr auch demokratischen, vom Reichstag verkörperten Parlamentarismus.
Werner J. Patzelt, "Grundriss einer Morphologie der Parlamente", in: ders. (Hg.), Evolutorischer Institutionalismus, Ergon-Verlag, Würzburg 2007, S. 483–564, hier S. 483 u. 526 f.
Die Abberufbarkeit der Regierung
Im parlamentarischen Regierungssystem hat das Parlament das Recht und die Pflicht, für eine handlungsfähige Regierung zu sorgen. Diese Verantwortung begründet im Kern die Funktionsweise dieses Regierungssystems, erklärt etliche Handlungsformen seiner Akteure und bestimmt seine Logik. Die Regierung ist demnach abhängig vom Parlament – und zwar nicht nur für die Inkraftsetzung ihrer Vorhaben, sondern in ihrer schieren Existenz. Ohne das fortgesetzte Vertrauen der Parlamentsmehrheit, ausgedrückt in ihrer Bereitschaft, die amtierende Regierung nicht abzusetzen oder durch eine andere zu ersetzen, gibt es im parlamentarischen Regierungssystem gar keine Regierung.
Die Tatsache, dass das Parlament, genauer: die Parlamentsmehrheit, den Premierminister oder Kanzler und faktisch zumeist indirekt auch sein Kabinett abberufen kann, schafft eine besondere Beziehung zwischen Regierung (Exekutive) und Parlament (Legislative). Die Regierung muss sich ständig der Unterstützung durch "ihre" Parlamentsmehrheit vergewissern, darf deren Folgebereitschaft nicht überstrapazieren und sollte sich höchstens gelegentlich über deren Willen hinwegsetzen, will sie nicht ihren eigenen Fortbestand gefährden.
Mit diesem Recht der Parlamentsmehrheit geht die Aufgabe einher, ständig über die Funktionsfähigkeit der Regierung zu wachen. Scheint diese nicht mehr gewährleistet, obliegt es der Parlamentsmehrheit, die Exekutive ganz oder teilweise auszutauschen. Es ist das Parlament – und nur das Parlament –, das den Wählerinnen und Wählern direkte politische Rechenschaft schuldet – auch und gerade für die Qualität der Regierung.
Wie zentral dieses Strukturprinzip ist, wird besonders deutlich in der Unterscheidung zum präsidentiellen Regierungssystem. Dort bestehen Exekutive und Legislative unabhängig voneinander. Der Präsident bedarf nicht des Vertrauens der Mehrheit, um für eine volle Wahlperiode im Amt zu bleiben (Es sei denn, es ergeht ein Amtsenthebungsverfahren wegen strafrechtlich relevanten Verhaltens, was allerdings nicht in diesen Zusammenhang gehört.).
Als Konsequenz kann oder muss sich die Exekutive im Präsidentialismus nicht auf eine feste Mehrheit stützen, sie kann oder muss sich vielmehr von Fall zu Fall Abstimmungsmehrheiten für ihre Vorhaben besorgen. Entsprechend steht die Legislative gegenüber den Wählenden nicht in der Verantwortung für die Exekutive, denn sie hat schließlich keine Macht über deren Amtsdauer.
Diese existenzielle Unabhängigkeit der beiden Gewalten voneinander wird in der Regel dadurch verstärkt, dass die Bevölkerung im Präsidentialismus selbst entscheidet, wer die Exekutive bilden soll. Die demokratische Legitimität der Regierung entsteht hier durch die direkte Wahl des Staatschefs, die rechtlich geregelt ist oder faktisch so erscheint (wie etwa in den USA, wo formell ein Wahlmännergremium den Präsidenten wählt). Ebensolche Legitimität kann das Parlament für sich beanspruchen, denn auch seine Abgeordneten werden direkt vom Volk gewählt.
Die Tatsache, ob ein Parlament die Regierung abberufen kann oder nicht, setzt grundlegende Bedingungen dafür, welche Akteure welchen Einfluss haben und wie sie im alltäglichen politischen Geschäft miteinander umgehen. Die Abberufbarkeit der Regierung durch das Parlament schafft die besondere Abhängigkeit, die im parlamentarischen System zwischen Exekutive und Legislative besteht und ist nach dem Politologen Winfried Steffani das wichtigste Kriterium für die Unterscheidung zwischen parlamentarischem und präsidentiellem Regierungssystem. Auf der Basis dieses einen vorrangigen Kriteriums werden sofort wesentliche Eigenschaften des politischen Prozesses in einem Land deutlich.
Die Bestellung der Regierung
Demgegenüber tritt die Frage, ob das Parlament die Exekutive, insbesondere den Premierminister, nicht nur absetzen, sondern auch wählen kann, an Bedeutung zurück. So gibt es durchaus auch präsidentielle Systeme, in denen die Regierung vom Parlament gewählt wird. Beispielhaft wäre die Schweiz zu nennen. Dort wählen die beiden Kammern des Bundesparlaments, Nationalrat und Ständerat, auf vier Jahre eine siebenköpfige Exekutive nach der sogenannten Zauberformel, die den spezifischen Schweizer Parteienproporz sichert. Diese Exekutive besteht aus mehreren gleichrangigen Personen und wird deshalb als Kollegialregierung bezeichnet. Sie kann nicht abgewählt werden, sodass in der Schweiz die oben geschilderte Logik des Präsidentialismus die Beziehungen zwischen Legislative und Exekutive bestimmt: existenzielle Unabhängigkeit voneinander, keine Verantwortung füreinander. Hinzu kommen im Fall der Schweiz spezifische Mechanismen direkter Demokratie.
Das Verfassungssystem der Schweiz (© Bergmoser + Höller Verlag AG, Zahlenbild 812 510)
Das Verfassungssystem der Schweiz (© Bergmoser + Höller Verlag AG, Zahlenbild 812 510)
In den USA wiederum bestimmt die Verfassung für den Fall, dass kein Präsidentschaftskandidat im Wahlmännerkollegium die absolute Mehrheit der Stimmen erhält, dass das Repräsentantenhaus aus den drei Kandidaten mit der höchsten Stimmenzahl einen Präsidenten wählt. Dies ist jedoch nur einmal (1825) vorgekommen.
Das Verfassungssystem der USA (© Bergmoser + Höller Verlag AG, Zahlenbild 854 511)
Das Verfassungssystem der USA (© Bergmoser + Höller Verlag AG, Zahlenbild 854 511)
In der politischen Praxis parlamentarischer Regierungssysteme tritt neben die Abberufbarkeit der Regierung oft auch deren Bestellung durch das Parlament. Dies geschieht entweder durch eine förmliche Wahl, die sich in der Regel nur auf den Premierminister bezieht, oder indem das Parlament über das politische Programm des Premiers bzw. über seine Regierungserklärung abstimmt. Auch informelle Regeln können die Regierungsbildung sowie die Rekrutierung und Auswahl des Regierungspersonals aus den Parlamentsfraktionen steuern.
Die Mechanismen von Abberufung und Bestellung bringen zwei den Parlamentarismus prägende Handlungseinheiten hervor: die Regierungsmehrheit und die Opposition. Erstere besteht aus der Parlamentsmehrheit, die entweder von einer Fraktion allein oder durch die Koalition mehrerer Fraktionen gestellt werden kann, sowie der von ihr gestützten Regierung, letztere aus den Fraktionen, die diese Regierung nicht tragen.
Die institutionalisierte Opposition in der parlamentarischen Demokratie (© Bergmoser + Höller Verlag AG, Zahlenbild 067 260, eigene Aktualisierungen und Ergänzungen)
Die institutionalisierte Opposition in der parlamentarischen Demokratie (© Bergmoser + Höller Verlag AG, Zahlenbild 067 260, eigene Aktualisierungen und Ergänzungen)
Der Kitt, der die Regierungsmehrheit im Innersten zusammenhält, ist das Interesse am politischen Erfolg – und Erfolg heißt hier letztlich: Erhalt der Regierungsmacht. Dazu sind die Mehrheit und ihr Kabinett unverzichtbar aufeinander angewiesen. Denn die Mehrheit bleibt nur Mehrheit, solange sie die Wählerschaft durch überzeugende Leistungen bei der Lösung von Problemen gewinnen kann. Für diese Leistungen setzt sie ihre Führungsmannschaft als Regierung ein. Diese kann ihrerseits nur erfolgreich sein, wenn sie sich die Gefolgschaft der Parlamentsmehrheit bewahrt.
Letztlich dasselbe Ziel, nämlich die Regierungs- und damit die politische Gestaltungsmacht, verfolgt die Opposition. Im klassischen Westminster-Modell des Parlamentarismus fungiert sie als "fleet in being", als Regierung im Wartestand, und arbeitet darauf hin, durch ständige Verdeutlichung von personellen wie politisch-inhaltlichen Alternativen bei der nächsten Wahl selbst zur Regierungsmehrheit zu werden.
Auch dort, wo dieses Konkurrenzverhältnis traditionell nicht so stark ausgeprägt ist, im politischen Tagesgeschäft ein eher kooperativer Umgang gepflegt wird und Minderheitsregierungen häufig vorkommen, wie zum Beispiel in Skandinavien, verfügen Regierungen über "ihre" Parteien im Parlament, und es trachtet mindestens eine andere (große) Partei nach Übernahme der Regierungsverantwortung.
Die Auflösung des Parlaments
Als Gegenmaßnahme zur Befugnis des Parlaments, die Regierung abzuberufen, räumen viele Verfassungen parlamentarischer Regierungssysteme der Regierung das Recht ein, das Parlament aufzulösen und Neuwahlen auszurufen. Dies mag auf den ersten Blick als schematische Ausbalancierung der Gewalten Exekutive und Legislative erscheinen. Schon aus dieser Perspektive ist es nur folgerichtig, dass im Präsidentialismus die – nicht abberufbare – Exekutive das Parlament auch nicht auflösen kann.
Bei näherem Hinsehen ist das Recht der Regierung, das Parlament aufzulösen, vor allem die konsequente Fortführung des Strukturprinzips, das Parlament für die Handlungsfähigkeit der Regierung verantwortlich zu machen. Kann es diese Leistung nicht erbringen, also weder eine Mehrheit zur Unterstützung der amtierenden Regierung mobilisieren, noch eine Mehrheit für eine neue Regierung herstellen, so muss die Regierung handeln können: Den Ausweg aus einer solchen Krise eröffnen die Auflösung des Parlaments und Neuwahlen, um wieder eine handlungsfähige Regierungsmehrheit herzustellen.
Das Ende der ersten sozialliberalen Regierung unter dem Kanzler Willy Brandt in der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1972 liefert dafür ein anschauliches Beispiel: Die Koalition aus SPD und FDP hatte im Zuge ihrer neuen Ostpolitik durch Fraktionsaustritte nach und nach ihre Mehrheit im Bundestag verloren. Das Konstruktive Misstrauensvotum, mit dem der Oppositionsführer, der Vorsitzende der Unionsfraktion und CDU-Parteivorsitzende Rainer Barzel, Bundeskanzler Brandt ablösen wollte, scheiterte zwar äußerst knapp, die Koalition verfügte aber nicht mehr über die nötigen Stimmen, um Gesetze und insbesondere den Haushalt zu verabschieden. In dieser Situation politischer Handlungsunfähigkeit machte Kanzler Brandt von der im Grundgesetz (Art. 68) vorgesehenen Möglichkeit Gebrauch, über die Vertrauensfrage zu einer Auflösung des Bundestages durch den Bundespräsidenten zu kommen.
Die Vereinbarkeit von Amt und Mandat
Auch die Frage, ob ein Abgeordneter gleichzeitig Mitglied der Regierung sein darf, kann als Kriterium für die Unterscheidung zwischen parlamentarischem und präsidentiellem Regierungssystem herangezogen werden. Sie bezeichnet aber – genauso wie die Bestellung der Regierung durch das Parlament oder die Auflösung des Parlaments durch die Regierung – nur ein ergänzendes, kein unabdingbares Merkmal des Parlamentarismus.
Im Präsidentialismus herrscht in der Regel die Unvereinbarkeit von Abgeordnetenmandat und Regierungsamt, die sogenannte Inkompatibilität. So darf der Präsident in den USA nicht dem Repräsentantenhaus oder dem Senat angehören. Umgekehrt gilt, dass in den meisten parlamentarischen Demokratien Europas Amt und Mandat vereinbar sind. Im Vereinigten Königreich muss der Premierminister sogar Member of Parliament, Parlamentsmitglied, sein.
Es gibt aber auch Ausnahmen: In Frankreich, in den Niederlanden und in Norwegen beispielsweise müssen Abgeordnete ihr Mandat niederlegen, wenn sie ein Regierungsamt übernehmen. Darin spiegelt sich noch die Tradition klassischer Gewaltenteilung wider – die dualistische Frontstellung von Parlament und Regierung ("alter Dualismus").
Dagegen verdeutlicht die Grundregel der Vereinbarkeit von Amt und Mandat im Parlamentarismus die strukturell beabsichtigte und funktionale, enge Verknüpfung von Parlamentsmehrheit und Regierung, der die parlamentarische Opposition gegenübersteht ("neuer Dualismus"). Sind Premierminister bzw. Kanzler und Minister "Fleisch vom Fleische" des Parlaments, bleiben sie also Mitglieder der sie als Regierung tragenden Fraktion(en), so ist die Gleichzeitigkeit von politischer Kooperation und gegenseitiger Kontrolle viel besser gewährleistet als im Präsidentialismus.
Das Kriterium der Ausgestaltung der Exekutive
Eine weitere Unterscheidung zwischen den Typen des parlamentarischen und des präsidentiellen Regierungssystems ergibt sich aus der Frage, ob die Exekutive "geschlossen" oder "doppelt" ausgestaltet ist. Diese Unterscheidung geht auf zwei grundsätzlich verschiedene Funktionen der Exekutive zurück: Erstens hat sie die Aufgaben des (partei-)politischen Regierens zu erfüllen, zweitens soll sie den gesamten Staat nach innen wie nach außen repräsentieren. Staatsrechtlich und personell ist dies gleichbedeutend mit der Differenzierung zwischen Regierungschef und Staatsoberhaupt.
Werden beide Funktionen von einem einzigen Organ (nicht notwendigerweise von einer einzigen Person, siehe das Beispiel des siebenköpfigen Bundesrates, der Regierung in der Schweiz) wahrgenommen, wie dies im Präsidentialismus der Fall ist, spricht man von einer geschlossenen Exekutive. So ist etwa auch der Präsident der USA gleichzeitig Regierungschef und oberster Repräsentant seines Landes.
Sind es dagegen zwei Organe, die sich diese Aufgaben teilen, etwa ein Kanzler und ein Bundespräsident wie in Deutschland oder ein Premierminister und eine Königin wie in Großbritannien, so handelt es sich um eine doppelte Exekutive. Diese ist typisch für parlamentarische Regierungssysteme, die historisch aus Monarchien entstanden sind, in denen allmählich oder durch revolutionäre Akte die politische Führung auf bürgerliche, später auch noch demokratisch legitimierte Kräfte überging.
Dass eine solche doppelte Exekutive das Problem der Konkurrenz in sich birgt, liegt auf der Hand. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die jeweilige Verfassung das Staatsoberhaupt mit Kompetenzen ausstattet, bei denen die Abgrenzung zur politischen Sphäre der Regierung schwierig und interpretationsbedürftig ist. Ein aktuelles Beispiel hierfür bietet das politische System Frankreichs, ein historisches die Weimarer Republik.
Wird die Ausgestaltung der Exekutive als Merkmal mit dem primären Kriterium der Abberufbarkeit der Regierung kombiniert, ergeben sich vier Untertypen, denen Länder mit ihren politischen Systemen und in bestimmten Phasen ihrer Entwicklung zugeordnet werden können. Mit Hilfe solcher Typologien lässt sich rasch erschließen, nach welcher Logik, nach welchen Grundmustern die politischen Akteure eines Landes handeln, und wie das Zusammenspiel zwischen den Institutionen dort funktioniert.
Präsidentielles und parlamentarisches Regierungssystem (© bpb, Nach Winfried Steffani in: Otto Luchterhandt (Hg.), Neue Regierungssysteme in Osteuropa und der GUS, 2., aktual. Aufl., Berliner Wissenschafts-Verlag, Berlin 2002, S. 59)
Präsidentielles und parlamentarisches Regierungssystem (© bpb, Nach Winfried Steffani in: Otto Luchterhandt (Hg.), Neue Regierungssysteme in Osteuropa und der GUS, 2., aktual. Aufl., Berliner Wissenschafts-Verlag, Berlin 2002, S. 59)
QuellentextMischsysteme von Parlamentarismus und Präsidentialismus
Die Beobachtung, dass bestimmte Elemente, die für den Parlamentarismus typisch sind, in einem politischen System mit solchen kombiniert sind, die in der Regel den Präsidentialismus kennzeichnen, veranlasste Politikwissenschaftler zur Konstruktion sogenannter Mischtypen. Zu nennen ist hier vor allem der "Semi-Präsidentialismus" (Maurice Duverger), der vor dem Hintergrund französischer Regierungspraxis konzipiert wurde. Im Zuge der demokratischen Transformationsprozesse in Ostmittel- und Osteuropa orientierten sich einige Staaten (zunächst) an diesem Vorbild.
Semi-Präsidentialismus bezeichnet ein politisches System, in dem die Verfassung vorsieht, dass das Staatsoberhaupt direkt vom Volk gewählt wird und über erhebliche Kompetenzen verfügt, während gleichzeitig ein vom parlamentarischen Vertrauen abhängiger Premierminister (mit seinem Kabinett) die Regierungsgewalt innehat. Mochte noch General Charles de Gaulles Amtsführung es nahe legen, das französische System als "beinah präsidentiell" anzusehen, so wurde mit dem ersten Auftreten von cohabitation in den 1980er-Jahren, also dem Aufeinandertreffen eines Präsidenten und eines Regierungschefs unterschiedlicher Parteizugehörigkeit, klar, dass auch der Verfassungskonstruktion des Semi-Präsidentialismus die Logik des Parlamentarismus innewohnt: Ohne bzw. gegen das Vertrauen der Parlamentsmehrheit ist politische Handlungsfähigkeit nicht zu sichern. Das Schwergewicht dieser Handlungsfähigkeit liegt im Semi-Präsidentialismus – je nach Rahmenbedingungen – einmal mehr beim Präsidenten, einmal mehr beim Premierminister. Daher handelt es sich beim Semi-Präsidentialismus lediglich um die gelegentlichen Wechseln unterliegende Ausprägung der (französischen) parlamentarischen Demokratie unter den wandelbaren Bedingungen von Parteimehrheiten.
Der niederländische Politologe Arend Lijphart kombiniert das Kriterium der Abberufbarkeit der Regierung mit den Fragen, ob sie aus einer oder mehreren Personen besteht und ob ihre Wahl durch die Legislative oder die Bevölkerung erfolgt. So erhält er acht Merkmalskombinationen, von denen zwei die reinen Formen des Parlamentarismus und Präsidentialismus darstellen und sechs als Mischtypen erscheinen. Dabei kann er allerdings drei nicht mit empirischen Beispielen füllen und die weiteren drei mit nur jeweils einem.
Auch andere Politikwissenschaftler wie Matthew Soberg Shugart und John M. Carey oder Wolfgang Merkel bestimmen nicht ein Entweder-Oder-Kriterium, das die sofortige eindeutige Zuordnung eines Falles erlaubt, sondern Merkmale werden kombiniert und in unterschiedlichen Mischungsverhältnissen zu Typen konstruiert. Diese können notwendigerweise nicht dieselbe Trennschärfe aufweisen. Zudem sind sie mit dem Nachteil behaftet, dass für ihre Anwendung nicht Grundstrukturen eines politischen Systems, sondern oft erst dessen konkrete Praxis zum jeweiligen Zeitpunkt ermittelt werden muss, wenn man substanzielle Informationen über die Handlungslogik der Akteure und Institutionen erhalten will.
Suzanne S. Schüttemeyer
Die Bedeutung der Gewaltenteilung
"Richtige" Gewaltenteilung herrscht in einem Staat, wenn es eine klare Trennung und Gegenüberstellung "der Legislative" und "der Exekutive" gibt – so lautet ein häufig anzutreffendes Missverständnis über ein zentrales Gestaltungsprinzip rechtsstaatlich-demokratischer Ordnung. Um die Mechanismen der parlamentarischen Demokratie richtig verstehen zu können, muss Gewaltenteilung wesentlich grundlegender und differenzierter aufgefasst werden.
Historische Ansätze zur Eindämmung von Machtmissbrauch
Der französische Staatstheoretiker Montesquieu (Charles-Louis de Secondat, Baron de la Brède et de Montesquieu, 1689–1755), der als "Vater der Gewaltenteilungslehre" gilt, schrieb sein Werk "Vom Geist der Gesetze" angesichts des Absolutismus im Frankreich des 18. Jahrhunderts. Im Absolutismus regierte ein durch Gottesgnadentum legitimierter Monarch allein, ohne ständische oder gar demokratische Mitbestimmung.
Montesquieus Grundgedanke war deshalb darauf gerichtet, den Missbrauch von (staatlicher) Macht zu verhindern. Da er nicht nur einen theoretischen Beitrag leisten, sondern durchaus konkret politisch wirken wollte, entwarf er eine knappe Funktionenlehre. Nach ihr sollte der Staat Gesetze erlassen, ihre Anwendung gewährleisten und – falls darüber Streitigkeiten entstünden oder die Gesetze nicht befolgt würden – für Schlichtung bzw. Erzwingung sorgen. Anders ausgedrückt: Es müsse eine Legislative, eine Exekutive und eine Judikative geben.
Diese teilte er nun aber keineswegs, wie immer wieder behauptet, den genannten drei "Gewalten" im Staate zu. Stattdessen verankerte er die Rechtsprechung (Judikative) in einem nicht ständigen Gremium, also einer fallweise einzusetzenden Gerichtsbarkeit, deren Mitglieder demselben Stand wie die Angeklagten bzw. Streitparteien angehören sollten. Die übrigen beiden Aufgaben übertrug Montesquieu drei sozialen Kräften, deren Einbindung er für unerlässlich hielt, um seinem "Reformkonzept" eine Chance auf Verwirklichung zu geben: König, Adel und Bürgertum sollten sich die Macht teilen, wobei der König allein die Regierung (Exekutive) stellen sollte, während Adel und Bürgertum ihrerseits in einem Zweikammerparlament die Gesetzgebung (Legislative) übernehmen sollten. Dessen Gesetzesbeschlüsse unterstellte er einem Vetorecht des Monarchen, der seinerseits nichts ohne Parlamentsbeschluss bewirken konnte.
Prägend wirkte Montesquieus Lehre auf die US-amerikanischen Verfassungsväter. Dies brachte der Politikwissenschaftler Richard E. Neustadt zwei Jahrhunderte später auf die prägnante Formel: "separated institutions sharing powers" (getrennte Institutionen teilen sich die Machtbefugnisse) und charakterisierte damit treffend das präsidentielle Regierungssystem der USA.
Die machthemmende Wirkung des "neuen Dualismus"
Aufbauend auf Montesquieus Grundkonzept der Verhinderung von Machtmissbrauch hat die moderne Politikwissenschaft ein differenziertes Verständnis von Gewaltenteilung entwickelt. Damit lassen sich erstens etliche anders gelagerte Formen der Verteilung staatlicher Macht begründen, und zweitens ermöglicht es, die vielfältigen machthemmenden Aspekte demokratisch-pluralistischer Gesellschaften, insbesondere von Parteien und Interessengruppen, Medien und Öffentlichkeit, einzubeziehen.
Für die Entwicklung der parlamentarischen Demokratie war es entscheidend, dass die historisch gewachsene Frontstellung zwischen der (monarchisch dominierten) Exekutive und der zunächst vom Adel, später vom Bürgertum erkämpften legislativen Gewalt – der sogenannte alte Dualismus – abgelöst, zumindest weitgehend überlagert wurde von einem "neuen Dualismus". Dieser entstand im englischen Parlamentarismus, der im Laufe des 19. Jahrhunderts die Abhängigkeit der Regierung von der Parlamentsmehrheit und das Prinzip institutionalisierter Opposition begründete. Seither bilden im parlamentarischen Regierungssystem die Parlamentsmehrheit und die von ihr getragene Regierung eine Handlungseinheit, der die Opposition gegenübersteht.
Die machthemmende Wirkung dieses neuen Dualismus ergibt sich erstens aus der ausdrücklich anerkannten Stellung der Opposition und den (Kontroll-)Rechten, die ihr speziell garantiert werden. In den parlamentarischen Demokratien des europäischen Kontinents ist dies oft sogar in den geschriebenen Verfassungen verankert, in Großbritannien ist die Oppositionsführerschaft ein bezahltes Amt wie das des Premierministers.
Zweitens ginge die Annahme an der politischen Realität vorbei, dass die Parlamentsmehrheit die Regierung unkontrolliert gewähren ließe. Die oben erläuterte Übereinstimmung der Interessen von Mehrheit und Kabinett resultiert aus der ständigen Kommunikation zwischen den Abgeordneten und ihren Ministern und führt nur dann zum nächsten Wahlsieg, wenn man sich gegenseitig immer wieder daraufhin überprüft, ob die richtigen Entscheidungen getroffen, die geeigneten und von der Wählerschaft akzeptierten Maßnahmen ergriffen werden.
Es liegt auf der Hand, dass die Opposition die Regierung auf anderen Wegen und mit anderen Zielen kontrolliert, als es durch die Parlamentsmehrheit geschieht. Oppositionelle Kritik ist auf öffentliche Wirksamkeit gerichtet. Sie soll den Wählerinnen und Wählern Alternativen zu den Amtsinhabern und zu den Sachfragen anbieten sowie die eigene Fähigkeit zur Regierungsübernahme unter Beweis stellen; ihr Ziel ist prinzipiell nicht, die Regierung konkret und aktuell zu unterstützen.
Dagegen wird die Kontrolle innerhalb der Regierungsmehrheit durch interne Initiativen geübt. Detail- und wenn nötig auch Richtungskorrekturen erfolgen möglichst geräuschlos und unter Ausschluss der Öffentlichkeit, um den Eindruck mangelnder Geschlossenheit oder ungenügender Handlungsfähigkeit zu vermeiden.
Die Behauptung, in der parlamentarischen Demokratie gäbe es keine Gewaltenteilung, weil es keine Trennung von Amt und Mandat gibt, weil die Mehrheit "sklavisch" ihrer Regierung folge und die Opposition letztlich auf verlorenem Posten stünde, greift also viel zu kurz. Ein institutionalisiertes Gegenüber von Gesamtparlament und Regierung ist keine unabdingbare Voraussetzung für wirksame politische Kontrolle. Diese wird im neuen Dualismus ebenso realisiert wie im alten, auf vielfältige, allerdings weniger offensichtliche und stärker erklärungsbedürftige Weise.
QuellentextEine moderne Gewaltenteilungslehre
Mit der politologischen Gewaltenteilungslehre soll eine Möglichkeit erschlossen werden, ein politisches Gemeinwesen daraufhin zu erforschen, wieweit in ihm die äußeren Voraussetzungen politischer Freiheit formell gegeben und die darauf beruhenden Rechte und Gestaltungschancen praktisch wahrnehmbar sind sowie tatsächlich wahrgenommen werden. Die politologische Gewaltenteilungslehre umgreift und verbindet sechs fundamentale Teilungslehren, die zueinander in engster Beziehung stehen und erst zusammengenommen einen brauchbaren Aussagewert ermöglichen:
Die staatsrechtliche ("horizontale") Teilungslehre,
die temporale Teilungslehre,
die föderative ("vertikale") Teilungslehre,
die konstitutionelle Teilungslehre,
die dezisive Teilungslehre und
die soziale Teilungslehre.[...]
Mit der staatsrechtlichen ("horizontalen"), temporalen, föderativen und konstitutionellen Teilungslehre, die weitgehend normbestimmt sind, bilden die dezisive und die soziale Teilungslehre eine wesensbezogene Einheit. Anhand der dezisiven Teilungslehre – die als das Herzstück der politologischen Gewaltenteilungslehre bezeichnet werden kann – läßt sich der politische Willensbildungs- und Entscheidungsprozeß (der politische Gestaltungsprozeß) verfolgen. Durch sie wird das pluralistische Gruppengeflecht in all seinen politischen Gestaltungsformen und Wirksamkeiten mit den staatsrechtlich fixierbaren Kompetenzbereichen in Beziehung gesetzt. Zusammengenommen bilden sie das politische System. Hier können fünf autonome, jedoch stets in innigster Interdependenz zueinander stehende Diskussions- und Entscheidungsebenen unterschieden werden:
Regierung
Parlament
Parteien
Interessengruppen
Öffentliche Meinung.[...]
Mit der Gewaltenteilung wird in der pluralistischen Demokratie ein Prinzip benannt, mit dessen Hilfe konzentrierte Minderheitsdiktaturen ausgeschlossen, Mehrheitsdiktaturen verhindert und im politischen wie wirtschaftlichsozialen Machtkampf benachteiligten oder unterlegenen Minderheiten eine mitwirkende Teilhabe bzw. gesicherte Freiheitssphäre eröffnet werden soll. [...]
Im Rahmen der politologischen Gewaltenteilungslehre kann ein Herrschaftssystem an Hand der sozialen und dezisiven Teilungslehre nach seinem demokratisch-pluralistischen Charakter befragt und zugleich in Verbindung mit der staatsrechtlichen, temporalen, föderativen und konstitutionellen Teilungslehre die Zusammensicht der staatlichen und sozialen "Gewalten" vollzogen werden.
Winfried Steffani, Grundzüge einer politologischen Gewaltenteilungslehre, in: ders., Gewaltenteilung und Parteien im Wandel, Springer VS, Wiesbaden 1997, S. 27–55, S. 38, 48 f. und 55.
Parlamentsfunktionen
Soll eine Institution in der Sache angemessen und im Anspruch gerecht beurteilt werden, bedarf es eines analytischen Rasters ihrer Aufgaben. Dazu sollte ein Parlament über einen längeren Zeitraum und im Vergleich zu anderen Parlamenten betrachtet werden. Notwendig ist des Weiteren, Rechtsnormen, ideengeschichtliche Zusammenhänge und theoretische Erwägungen heranzuziehen. Auf dieser Grundlage sind im Laufe der Zeit verschiedene Funktionskataloge erstellt worden, mit denen versucht wird, Aufgaben und Leistungen von Parlamenten zu untersuchen und zu beurteilen.
Klassische Funktionskataloge
Klassischer Ausgangspunkt der meisten Funktionskataloge ist die Analyse des britischen House of Commons, die der britische Journalist Walter Bagehot 1867 in seinem Werk "The English Constitution" vorlegte. Er analysierte das politische System seines Landes zu einem Zeitpunkt, als sich die Glanzzeit des bürgerlich-liberalen, also noch nicht durch allgemeines und gleiches Wahlrecht demokratisierten Parlamentarismus des 19. Jahrhunderts dem Ende zuneigte. Er unterschied die "elective", "expressive", "teaching", "informing" und "legislative function".
Auch auf die Bestimmung "Of the proper functions of representative bodies", die der engliche Philosoph John Stuart Mill 1861 in seinem Werk "Considerations on Representative Government" vornahm, wird noch heute Bezug genommen, allerdings deutlich seltener als auf Bagehot. Dies dürfte im Wesentlichen daran liegen, dass Mill Parlamente für ungeeignet hielt, Gesetze zu machen. Sie seien zu groß, ihre Beratungs- und Abstimmungsformen stünden der Notwendigkeit präziser, langfristiger und miteinander verbundener Problemlösungen entgegen.
Seine vor inzwischen über 150 Jahren geäußerte Kritik, Parlamente widmeten sich zu sehr gesetzgeberischen Einzelheiten, gehört zwar immer noch zum Standardrepertoire von Parlamentskritikern und -skeptikern. Doch damals wie heute lassen sich Parlamente in repräsentativen Demokratien auch im 21. Jahrhundert weder in ihrem Selbstverständnis auf die Rolle reduzieren, bloß Notare anderweitig getroffener Entscheidungen zu sein, noch lassen sie es sich nehmen, an der Herstellung von Gesetzen in irgendeiner Weise mitzuwirken, und sei es nur mithilfe ihres "Rechts des letzten Wortes", also dem Verweis darauf, dass ohne sie kein Gesetz zustande kommt.
Moderne Funktionskataloge
So enthalten alle modernen Kataloge von Parlamentsfunktionen die Gesetzgebung; und die Kontrolle der Regierung gehört ebenso dazu. Sie ergibt sich nicht nur aus den theoretischen Anforderungen der Gewaltenteilung, sondern geradezu zwangsläufig aus der historischen Entwicklung der Parlamente. Denn diese entstanden aus Körperschaften, die einst von den Herrschern zur Beschaffung und Bewilligung ihrer Ausgaben benötigt wurden. Die Wahlfunktion, also die Aufgabe des Parlaments, andere Gremien und Amtsinhaber förmlich zu bestellen oder zu rekrutieren, ist ebenfalls Bestandteil aller Kataloge.
Funktionskataloge schreiben nicht Maßstäbe für "richtige" oder "falsche", für "minimale" oder "maximale" parlamentarische Leistungen vor, sondern sollen in ihrer jeweiligen Summe eine komplette Checkliste möglicher Parlamentsfunktionen bieten, mit der eine konkrete Institution untersucht werden kann. So besteht in der Parlamentarismusforschung auch Einigkeit darüber, dass sich die Parlamentsfunktionen überlappen und oft mit einer Handlung der Institution oder ihrer Angehörigen mehrere Funktionen gleichzeitig wahrgenommen werden.
Zum Beispiel erfüllt die Opposition, wenn sie einen Gesetzentwurf einbringt, nicht nur einen Teil der Gesetzgebungsfunktion, sondern ebenfalls ihre Kontrollfunktion gegenüber der Regierung. Auch wenn es also nicht auf analytische Trennschärfe bei den Funktionskatalogen ankommt, ist es doch hilfreich, sich die Unterschiede zwischen einzelnen Funktionen systematisch zu vergegenwärtigen, um ein Parlament als Gesamtinstitution zu begreifen.
Das Modell der Dreiteilung von Funktionen
Neben der Unterscheidung in rechtlich stärker, gar nicht oder wenig geregelte Funktionen verdeutlicht zum Beispiel der Politikwissenschaftler Werner Patzelt die große Bandbreite parlamentarischer Aufgaben anhand einer Dreiteilung: Er unterscheidet auf das Parlament selbst bezogene, auf die Regierung bezogene und auf die Repräsentierten, also die Bevölkerung bezogene Aufgaben.
Auf das Parlament bezogene Aufgaben: Wenngleich die Aufgaben, die das Parlament zu seiner Selbsterhaltung erbringen muss, nicht unmittelbar Leistungen für seine Umwelt (und insofern keine Funktionen im engeren Sinne) darstellen, sind sie ein wichtiger Bestandteil für die Analyse und das Verständnis der Institution. Patzelt unterscheidet "Selbstorganisation" von "normativer" und "personeller Selbstreproduktion". Mit der Kategorie "Selbstorganisation" wird danach gefragt, wie sich Parlamente in ihren Binnenstrukturen organisieren, um die ihnen aufgegebenen Funktionen zu erfüllen. Unter "personelle Selbstreproduktion" fallen die Rekrutierung und Sozialisation von politischem (und auch administrativem) Nachwuchs und unter "normativer Selbstreproduktion" wird die Aufrechterhaltung von internen Regeln und Normen verstanden.
Typologie der Parlamentsaufgaben (© Werner J. Patzelt in: ders. (Hg.), Parlamente und ihre Funktionen, Springer VS, Wiesbaden 2003, S. 43)
Typologie der Parlamentsaufgaben (© Werner J. Patzelt in: ders. (Hg.), Parlamente und ihre Funktionen, Springer VS, Wiesbaden 2003, S. 43)
Auf die Regierung bezogene Aufgaben: Zu den regierungsbezogenen Funktionen gehören die schon erwähnte Wahl- bzw. Kreationsfunktion, die Gesetzgebung und die Kontrolle.
Auf die Repräsentierten (Bevölkerung) bezogene Aufgaben: Die Beziehungen zwischen Repräsentanten und Repräsentierten nehmen folgende Zusammenhänge in den Blick: Komplexe demokratische Gesellschaften, in denen eine große Fülle von Meinungen, Positionen und Interessen vorhanden sind, bedürfen für ihren Zusammenhalt des Ausgleichs dieser Interessen, der Herstellung und der Vergegenwärtigung ihres Grundkonsenses und Gemeinwohls wie ihrer Differenzierung.
Neue Erfordernisse für Responsivität und politische Führung
Umstandslos von einer einmal in Wahlen errungenen Mehrheit Gebrauch zu machen reicht in der Regel nicht mehr aus, um die Bürgerinnen und Bürger hinreichend zu integrieren. Dafür sind (post-)moderne Gesellschaften nicht mehr homogen genug.
Außerdem ist inzwischen ein leicht möglicher und regelmäßig stattfindender Mehrheitswechsel zwischen zwei Parteien, wie ihn das Westminster-Modell des Parlamentarismus zur Grundlage hat, nicht mehr ohne weiteres möglich. Vielmehr haben das Schrumpfen der großen Volksparteien und der Erfolg neu gegründeter, insbesondere populistischer Parteien in vielen europäischen Ländern es schwieriger gemacht, nach Wahlen handlungsfähige und stabile Regierungsmehrheiten zu bilden.
Hinzu kommt, dass viele Entscheidungen in ihren Folgen so fortwirken, dass sie auch bei einem Regierungswechsel nicht mehr rückgängig gemacht werden können, was ebenfalls als Vorbedingung für die Legitimität demokratischer Mehrheitsherrschaft galt.
Unter diesen Umständen bedeutet demokratisches Entscheiden kompromissorientiertes Aushandeln. Sollen damit angemessene Problemlösungen sowie die Folgebereitschaft der Bürgerinnen und Bürger erzielt werden, müssen die politischen Repräsentanten, also in erster Linie Parlamente und ihre Abgeordneten, vier Anforderungen erfüllen:
Sie müssen die Meinungen, Positionen und Interessen der Repräsentierten kennen und in den politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozess einbringen, also Responsivität zeigen. Dafür bedarf es der lebendigen Beziehung zwischen Gesellschaft und Politik, der vielfältigen Vernetzung zwischen Parlamentsabgeordneten und Bürgerinnen und Bürgern in Parteien, Vereinen, Verbänden, Verwaltungen und anderen Organisationen, national wie international.
Um den Erfordernissen des Interessenausgleichs, der Problemlösung und der Herstellung von Gemeinwohl durch Konflikt und Kompromiss gerecht zu werden, genügt aber Responsivität nicht allein: Erstens äußern viele Menschen ihre Wünsche und Interessen nicht oder nicht in einer politisch umsetzbaren Weise. Zweitens entstehen häufig Situationen, in denen Meinungen noch gar nicht gebildet worden sind, aber dennoch Entscheidungen getroffen werden müssen. Drittens kann oft nur gegen Teile der Bevölkerung das Bewährte bewahrt und der nötige Wandel gestaltet werden. All dies verlangt politische Führung seitens der Parlamente und ihrer Abgeordneten. Sie müssen voranschreiten, nicht nur folgen. Weder dürfen sie lediglich Sendboten und Vollzugsorgan der Wählerwünsche sein, noch dürfen sie sich zu weit von diesen entfernen. Die Kunst demokratisch legitimierter Politik liegt demzufolge darin, jeweils die rechte Balance zwischen Führung und Gefolgschaft zu finden, so der Politikwissenschaftler Uwe Thaysen.
Das Gelingen dieses Balanceaktes hängt wiederum davon ab, ob die Repräsentierten sich von der Legitimität der Entscheidungen zu überzeugen vermögen, diesen also, nach einer Formulierung des Politikwissenschaftlers Peter Graf Kielmansegg, "soziale Geltung als rechtens" verleihen. Dafür müssen Parlamente erklären, was sie warum und auf welche Weise getan haben. Waren sie schon entstehungsgeschichtlich dazu geschaffen, Politik öffentlich zu machen und aus dem Geheimbereich der Herrschenden herauszulösen, so gilt diese Funktion umso mehr für den demokratisierten, also an den Wählerwillen zurückgebundenen Parlamentarismus seit dem späten 19. bzw. frühen 20. Jahrhundert.
Parlamente dürfen also nicht nur darauf verwiesen werden, Politik kommunikativ darzustellen, sondern müssen sich an ihrer Gestaltung aktiv beteiligen (können), wollen sie nicht ihren Status als zentrale Legitimationsinstanz verlieren. Daher sollten die Funktionen der Kreation, Gesetzgebung und Kontrolle, die das Parlament ausübt, nicht auf "die Regierung", sondern auf "das Regieren" bezogen werden. Dann liegt das Augenmerk auf dem Potenzial des Parlaments, auch das operative Geschäft der Politik selbstständig zu betreiben bzw. an ihm mitzuwirken. So verstanden gehört zum Aufgabenspektrum demokratischer Parlamente, Transparenz und Effizienz zu gewährleisten – also das kommunikative "Öffentlichmachen" von Politik ebenso wie die aktive Regelung gesellschaftlicher Probleme.
Aus dieser Funktionenbeschreibung von Parlamenten lässt sich als deren Gesamtaufgabe fassen, Legitimität durch Repräsentation zu erzeugen. Denn die Funktion, die das Parlament von allen anderen Interessenvertretungen unterscheidet, ist die Repräsentation – und zwar verstanden im Sinne des Politologen Ernst Fraenkel als das Recht und die Pflicht zur (auch für andere) verbindlichen Entscheidung – einer Entscheidung, die im Namen des Volkes geschieht, aber doch oder gerade deswegen frei getroffen wird; die Einzel- und Gruppeninteressen aufnimmt und doch oder gerade deswegen gemeinwohlorientiert und allgemeinverbindlich sein kann.
Parlamentstypen
Parlamente haben in ihrer historischen Entwicklung ganz unterschiedliche Gewichtungen von Funktionen vorgenommen beziehungsweise vornehmen müssen. Auch im internationalen Vergleich zeigen sich vielfältige Muster parlamentarischer Praxis. Zum besseren Verständnis der Institutionen und ihrer Wirkungsweisen lag es daher nahe, zwischen verschiedenen Typen von Parlamenten zu unterscheiden.
QuellentextUnterschiede zwischen Rede- und Arbeitsparlament
Ein Redeparlament ist ein eminent politisches Parlament. Es erhebt den Anspruch, das wichtigste Forum der öffentlichen Meinung, die offizielle Bühne aller großen, die Nation bewegenden politischen Diskussionen zu sein. Die parlamentarischen Ausschüsse steigen nicht über den Rang mehr zweitrangiger Hilfsorgane, das Plenum bleibt das entscheidende Aktionsforum. Die Parlamentsrede hat dabei verschiedene grundlegende Funktionen zu erfüllen: Rechtfertigung eigener Entscheidungen, Kritik an der Haltung anderer, öffentlich-wirksame Kontrolle, Information und Meinungsbekundung sowie politische Bildung im weitesten Sinne. Im Plenum wird nicht primär diskutiert, um sich gegenseitig zu überzeugen. Derartige "Überzeugungs-Gespräche" finden auf anderen Ebenen in größeren und kleineren Gruppen sowie in vielerlei Form und Weise statt. Die parlamentarische Plenarrede zielt in wesentlichem Maße auf die öffentliche Meinung, die Presse, den Wähler ab. Die Plenarrede ist von allen anderen politischen Reden dadurch unterschieden, dass sie öffentlich in einem höchsten staatlichen Entscheidungsorgan im Beisein des politischen Gegners erfolgt, der über das Recht zur Gegenrede verfügt. [...]
Ein Redeparlament lebt davon, dass die wichtigsten Redepartner entscheidende politische Macht repräsentieren. Daher steht im Zentrum die Debatte zwischen Regierungschef und Oppositionsführer, zwischen Minister und "Schattenminister". Das Redeparlament hat folglich nur dort eine Chance, wo Regierungschef und Oppositionsführer Mitglieder des Parlaments sind oder zumindest in ihm ein Rederecht und eine Auskunftspflicht haben. Ein Redeparlament kann nur dort seinen Funktionen sinnvoll nachkommen, wo Parlamentsreden mit wacher Resonanz in der öffentlichen Meinung rechnen können; in einem derartigen Parlament wird das Zusammenspiel zwischen einer glaubwürdigen, systematischen und überzeugenden Opposition und einer kritischen öffentlichen Meinung zum wichtigsten Element wirksamer politischer Kontrolle.
Während im Redeparlament das Plenum die wesentliche Rolle spielt, sind im Arbeitsparlament Macht und Arbeit in entscheidender Weise in die Ausschüsse verlagert. Nicht der Redner, sondern der kenntnisreiche Detailexperte, der unermüdliche, bestens informierte Sachbearbeiter wird zur wichtigsten Parlamentsfigur. Der Machteinfluss des einzelnen Abgeordneten hängt jetzt vor allem von seiner Position im parlamentarischen Ausschusssystem ab. Im Arbeitsparlament findet die Regierungskontrolle nicht primär dadurch statt, dass die Regierung und Verwaltung sowie deren politische Apologeten im Plenum von opponierenden Kritikern öffentlich zur Rede gestellt werden. Hier besteht weit mehr die Tendenz, dass das Parlament den Charakter einer betont politisch interessierten Spezialbürokratie gewinnt. Die Macht des Arbeitsparlaments beruht im Wesentlichen darauf, dass in ihm parlamentarische Experten die Experten der Exekutive in höchst intensiver und kenntnisreicher Weise um Rede und Auskunft ersuchen, deren Tätigkeiten und Vorhaben bis zu Detailfragen und Einzelposten hin überprüfen sowie gegebenenfalls durch Bestimmungen im Vorhinein die Aktionsmöglichkeiten der Exekutive einzuengen wissen. [...]
Winfried Steffani, Parlamentarische und präsidentielle Demokratie, Springer VS, Wiesbaden 1979, S. 96 f.
Rede- und Arbeitsparlament
Im Kontext seines Vergleichs der Regierungssysteme der USA, Großbritanniens und der Bundesrepublik Deutschland entwickelte der Politikwissenschaftler Winfried Steffani im Anschluss an den Soziologen Max Weber die wohl gebräuchlichste Parlamentstypologie von Rede- und Arbeitsparlament. Dabei fußt er auf der systemprägenden empirischen Differenz zwischen dem Parlamentarismus, in dem die Regierung vom Parlament abhängig ist und entsprechend als der wichtigste Ausschuss der Parlamentsmehrheit bezeichnet wurde (Bagehot), und dem Präsidentialismus mit seiner deutlichen Frontstellung von Exekutive und Legislative.
Aus dieser systemischen Differenz ergeben sich unterschiedliche Prioritäten bei der Funktionserfüllung: Im Parlamentarismus hat die Parlamentsmehrheit "ihre" Regierung gerade für den Zweck der gesetzgeberischen Initiative, Planung und weitgehenden Vorbereitung gebildet. Deshalb braucht sie ebenso wenig in die Detailarbeit an Gesetzen einzutreten wie die Opposition, der die Rolle der grundsätzlichen Alternative und Kritik zufällt. So streben beide danach, der Öffentlichkeit ihre jeweilige Politik – erstere ihre Entscheidungen, letztere ihre Standpunkte dazu – zu erklären. Es wird also primär "geredet".
Das wohl beste Beispiel hierfür ist das britische Parlament: Hier treffen, schon durch die einander gegenüberliegenden Bankreihen verdeutlicht, Regierungsmehrheit und Opposition aufeinander. Die jeweilige "frontbench", die erste Sitzreihe, bestückt mit Premierminister und Ministern auf der einen, dem Oppositionsführer und seinem Schattenkabinett auf der anderen Seite, wird beim öffentlichen Schlagabtausch im Plenum von ihren jeweiligen "backbenchers", den Abgeordneten ohne hervorgehobene Position, nach Kräften, oft auch lautstark, unterstützt. Bis 1979 gab es im britischen Unterhaus auch keine Fachausschüsse, und bis heute existieren dort keine parlamentarischen Gremien, die von vornherein dauerhaft für die Gesetzgebungsarbeit eingesetzt werden.
Im präsidentiellen Regierungssystem hat die Volksvertretung keinen Zugriff auf die Regierung. Sie wirkt daher selbst politikgestaltend, indem sie Gesetze entwirft und durch den parlamentarischen Prozess steuert. Hier wird also primär "gearbeitet". Der Kongress der Vereinigten Staaten von Amerika gilt daher als Prototyp eines Arbeitsparlaments. Jedes Kongressmitglied, jedes Mitglied des Senats führt ein eigenes Politikunternehmen mit einem großen Mitarbeiterstab, mit dessen Hilfe er oder sie gesetzgeberische Initiativen ergreift und sich auf die Detailarbeit in den Ausschüssen vorbereitet. Diese Ausschüsse sind auch ein wichtiger Ort, um die notwendigen sachpolitischen Koalitionen zu schmieden, da es den gleichsam "automatischen" Zusammenhalt von Regierungsmehrheit auf der einen und Opposition auf der anderen Seite ja nicht gibt.
Das unterschiedliche Gewicht, das in beiden Parlamentstypen auf die Funktionen der Gesetzgebung und der Herstellung von Öffentlichkeit gelegt wird, wird auch sprachlich deutlich in der Unterscheidung zwischen den Begriffen Legislative (hergeleitet aus dem lateinischen "gesetzgebend") und Parlament (vom lateinischen "parlare", reden), im Englischen zwischen "legislature" und "parliament". Dass der erste Begriff für die Volksvertretungen in den USA, der Begriff "Parlament" für die europäischen verwendet wird, hebt noch einmal den engen Zusammenhang dieser Parlamentstypen mit dem jeweiligen Typus des Regierungssystems hervor.
Steffanis Typologie entwirft jeweils reine Parlamentstypen, zwischen denen Mischformen möglich sind. Sie schärft damit den Blick für die Erfassung vielfältiger parlamentarischer Realitäten im Vergleich über die Zeit und zwischen den Ländern. So galt der Deutsche Bundestag lange Zeit als ein "redendes Arbeitsparlament", in dem sich Mehrheit und Opposition den öffentlichen Schlagabtausch lieferten, aber auch Wert auf effiziente Gesetzgebungsarbeit gelegt wurde und ein entsprechend ausdifferenziertes Ausschusssystem anzutreffen war. Ob dieses Mischungsverhältnis immer noch stimmt, wird im Folgenden zu prüfen sein.