Folgt man den aktuellen Diskussionen, so könnte sich der Eindruck verdichten, dass das parlamentarische System der Bundesrepublik Deutschland 70 Jahre nach Verabschiedung des Grundgesetzes in einer veritablen Krise steckt. Die Volksparteien leiden unter Mitgliederschwund und haben ihre bisherige, weitgehend unangefochtene Machtstellung verloren. Das Parteiensystem ist in Bewegung geraten, parlamentarische Mehrheiten sind schwerer zu erreichen, während populistische Stimmen an Einfluss gewinnen. Bürgerinnen und Bürger betrachten Parlamente und Regierung mit größerem Misstrauen. Im Netz und auch offline werden Politikerinnen und Politiker attackiert.
Kritik gegenüber dem Parlamentarismus und der repräsentativen Demokratie hat es immer schon gegeben, aber in den vergangenen Jahren hat sich diese verschärft. Vielen scheint das Gefühl dafür verloren zu gehen, dass gerade in Zeiten einer zunehmend ausdifferenzierten, zu Emotionen und Polarisierungen neigenden, diversen Gesellschaft eine parlamentarische Demokratie an Konsens und Gemeinwohl orientierte Entscheidungen treffen muss, um den sozialen Frieden zu wahren, Fortschritt zu garantieren und zukunftsfähig zu bleiben. Entscheidungen über immer komplexere Sachverhalte können in einer globalisierten Welt oftmals nur durch Kompromisse getroffen werden.
Dieses Heft liefert einen umfassenden Überblick zu Grundlagen und Funktionsbedingungen der parlamentarischen Demokratie in der Bundesrepublik Deutschland. Es vermittelt zunächst wesentliche Kenntnisse, um Handlungsmöglichkeiten und -grenzen der Akteurinnen und Akteure in einer parlamentarischen Demokratie besser beurteilen zu können.
Mit Blick auf den Arbeitsalltag der Bundestagsabgeordneten (MdBs) werden diese Maßstäbe anschließend an das deutsche Parlament angelegt. Es wird systematisch untersucht, wie die MdBs ihre Wahl-, Kontroll-, Gesetzgebungs-, Öffentlichkeits- und Artikulationsfunktionen erfüllen. Abschließend werden die Herausforderungen skizziert, vor die sich Parlamente durch die europäische Integration, die Globalisierung und den Trend zur Problemlösung durch Expertengremien gestellt sehen.
Die Analyse macht deutlich, dass sich das politische System in Deutschland im Vergleich zu anderen Staaten trotz manch berechtigter Kritik bisher als überaus stabil erwiesen hat. Staatliche Institutionen und Verwaltungen funktionieren. Die Machtwechsel zwischen Regierung und Opposition vollziehen sich ebenso wie die Kontroversen der Parteien unter den Augen unabhängiger Medien gewaltfrei und unter Einhaltung der demokratischen Regeln. "Die vielbeschworene Krise des Parlamentarismus ist zuvorderst eine Krise des Verständnisses von Parlamenten", so formuliert es der Politikwissenschaftler Michael Koß.
Dem entspricht das Fazit der Autorin: Gerade wenn Freiheit und Gerechtigkeit durch globale Entwicklungen in Gefahr geraten, stellt eine Demokratie mit voll handlungsfähigen und rechenschaftspflichtigen Parlamenten die beste Alternative dar: Keine andere politische Ordnung ermöglicht wie diese Responsivität und Führung durch verantwortliches, gemeinwohlorientiertes Entscheiden.
Editorial
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