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Entwicklung und Struktur der Wirtschaft | Naher Osten | bpb.de

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Entwicklung und Struktur der Wirtschaft

Thomas Richter

/ 12 Minuten zu lesen

Die Wirtschaftsstruktur der Länder des Nahen Ostens unterscheidet sich in vielen Bereichen von der Ökonomie europäischer Staaten. Neben historischen Besonderheiten bei der Staats- und Gesellschaftsentwicklung, unterschiedlichen Entwicklungspfaden nach dem Zweiten Weltkrieg und der Rolle des Tourismus spielen dabei die Einnahmen aus dem Export von Erdöl eine wichtige Rolle.

In der Kolonialzeit bis in das 20. Jahrhundert hinein sind der Nahe Osten und Nordafrika vornehmlich durch den Export von landwirtschaftlichen Rohstoffen in das Weltwirtschaftssystem eingebunden. Ägypten exportiert unter anderem Zuckerrohr. Auf einem Markt in Ägypten bieten Bauern 1929 ihre Zuckerrohrernte an. (© ullstein bild – A. & E. Frankl)

Bis weit in das 17. Jahrhundert hinein war im Nahen Osten eine wirtschaftliche Organisationsform üblich, die als "tributgebundene Produktionsweise" bezeichnet wird. Tributgebunden deswegen, weil die Bauern oder Kaufleute dabei Abgaben (Tribute) an den Herrscher bzw. den Staat leisten mussten. Dieser kontrollierte die Wirtschaftsprozesse mithilfe einer umfassenden Bürokratie und überließ das meiste agrarisch genutzte Land Pächtern zur Bewirtschaftung gegen eine Gebühr, die Militärbeamte für den jeweiligen Landesherren einzogen. In diesem System konnte daher weder eine Schicht von Großgrundbesitzern entstehen noch eine unabhängig vom Staat existierende Schicht von Unternehmern. Interne Finanzprobleme, verursacht vor allem durch steigende Kosten für die Kriegsführung bei zurückgehenden Einnahmen, und die Expansion des europäischen Imperialismus höhlten diese tributgebundene Produktionsweise bis Ende des 18. Jahrhunderts aus und führten letztendlich am Ende des 19. Jahrhunderts zu deren Zusammenbruch.
Die Einbindung des Nahen Ostens in das kapitalistische Weltwirtschaftssystem erfolgte in den drei Subregionen des Nahen Ostens zu unterschiedlichen Zeiten und aus verschiedenen Gründen:

  • Im geografischen Zentrum (der heutigen Türkei, den östlichen Mittelmeeranrainern und Ägypten) dominierten seit Beginn des 19. Jahrhunderts der Anbau landwirtschaftlicher Produkte für den Export nach Europa und der Import europäischer Industriewaren.

  • Im Maghreb, dem westlichen Teil Nordafrikas, kam es im Kontext des Konkurrenzkampfes der imperialistischen Großmächte (zunächst zwischen Frankreich und Großbritannien, später zwischen Frankreich und Deutschland) zu einer ersten wirtschaftlichen Einbindung. Als sich hier um die Wende zum 20. Jahrhundert französische – in Libyen italienische – Siedlerkolonien bildeten, intensivierte sich auch die landwirtschaftliche Nutzung. Der Export von Agrarprodukten bewirkte eine weiter zunehmende Integration in die Weltwirtschaft.

  • Die Golfregion wurde zunächst allein aus politisch-strategischen Interessen Großbritanniens (Pax Britannica) und erst seit Mitte des 20. Jahrhunderts, nach der beginnenden Erdölförderung, auch aus ökonomischen Gründen in die Weltwirtschaft eingebunden.

Die tributgebundene Produktionsweise und die Durchdringung durch den europäischen Imperialismus verhinderten, dass neben der traditionellen Kaufmannschaft – dem Basar – eine Unternehmerschicht und damit auch eine Arbeiterklasse entstanden. Erst ab den 1920er-Jahren trat in Ägypten im Umfeld der Bank Misr und unter Führung des Bankiers Tal’at Harb ein kleine Gruppe einheimischer Unternehmer hervor. Zuvor hatte sich Mohammed Ali (1805–1848 ägyptischer Vizekönig und osmanischer Pascha) an einer frühen Industrialisierung des Landes versucht.

Importsubstitution und Strukturreform


Da sich in der Türkei bereits 1923 ein vom europäischen Imperialismus unabhängiger Staat gründete, setzte die türkische Industrialisierung etwa 20 Jahre früher ein als im Rest des Nahen Ostens. Dort begann der Aufbau moderner industrieller Sektoren erst nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Dabei lassen sich vier verschiedene Entwicklungspfade unterscheiden:

  • In einer "Revolution von oben" führten die Republiken Ägypten, Algerien, Irak, Syrien, Türkei und Tunesien eine staatliche Strategie der Importsubstitution durch, das heißt, dass die Eigenproduktion Auslandsimporte zunehmend ersetzen sollte, um die heimische Wirtschaft von den (westlichen) Wareneinfuhren unabhängig zu machen. Dazu wurden in ausländischem Besitz befindliche Unternehmen verstaatlicht und schlüsselfertige Industriekomplexe aufgebaut. Der Binnenmarkt wurde fast vollständig von der staatlichen Bürokratie kontrolliert, sie legte sämtliche Preise, Produktionsquoten und die Höhe der den Unternehmen gewährten Kredite fest. Gleichzeitig wurden die Importe von ausländischen Produkten durch die Einführung von hohen Zöllen eingeschränkt, um den heimischen Markt nach außen abzuschotten.

  • Auch die relativ ressourcenarmen Monarchien Marokko und Jordanien stießen eine Importsubstitution an, allerdings gemeinsam mit den einheimischen Unternehmern des Privatsektors. Schutzzölle sorgten hier ebenfalls für eine Abschottung nach außen, die vor allem die neu entstehenden Industriesektoren vor ausländischer Konkurrenz bewahren sollte. Der Binnenmarkt wurde nur teilweise kontrolliert.

  • In den Golfmonarchien entstand eine staatlich gelenkte Wirtschaftspolitik, die auf den Einnahmen aus Ölexporten basierte und im Wesentlichen die Aufgabe hatte, diese Einnahmen an die Gesellschaft und die einheimischen Unternehmer des Privatsektors zu verteilen. Im Gegensatz zur Importsubstitution im übrigen Nahen Osten existierten hier aufgrund des Ölreichtums niedrige Außenwirtschaftsbarrieren, es wurden unbegrenzt Waren aus der industrialisierten Welt eingeführt. Investitionen gingen vor allem in die Infrastruktur, den Bau- und Dienstleistungssektor und teilweise in die Landwirtschaft. Eine Industrialisierung im engeren Sinne konzentrierte sich in dieser Phase weitgehend auf die Förderung und Weiterverarbeitung von Erdöl und später Erdgas.

  • Der vierte und letzte Pfad wurde ausschließlich von Israel beschritten. Dort entwickelte sich, vollständig getrennt von den restlichen Ländern des Nahen Ostens, ein Wirtschaftssystem, das in vielen Aspekten vergleichbar mit dem Europas ist. Es basierte zwar ebenfalls auf staatlicher Kontrolle, auf Importsubstitution und hohen Außenhandelsbarrieren. Dazu kamen jedoch von Beginn an eine systematische Förderung der Landwirtschaft, die gezielte staatliche Unterstützung von Exportsektoren – zunächst landwirtschaftliche Produkte und Textilien – sowie seit den 1970er-Jahren eine zunehmende Spezialisierung auf Hochtechnologie und ein selektiver Abbau der Außenhandelsbarrieren. Dieses Alleinstellungsmerkmal beruhte maßgeblich auf der Einwanderung hochqualifizierter Arbeitskräfte aus Europa und später den USA sowie auf gezielten Investitionen aus dem Ausland.

Alle Länder der Region erreichten zwischen den 1950er- und 1970er-Jahren sehr hohe wirtschaftliche Wachstumsraten und vollbrachten erstaunliche wirtschaftliche Leistungen, so zum Beispiel den Bau des Assuan-Hochdamms in Ägypten 1970 oder den Aufbau von schwerindustriellen Komplexen wie Stahl- und Zementwerken oder Raffinerien. Zwischen dem Ende der 1970er- und der Mitte der 1980er-Jahre brachten jedoch interne und externe Faktoren die wirtschaftliche Dynamik in den importsubstituierenden Ländern zum Erliegen: Zunächst litt die einheimische Wirtschaft unter einer ineffizienten Organisation der Binnenmärkte durch die vom Staat festgelegten Preise und Produktionsmengen. Dadurch sanken die Staatseinnahmen, und es kam zur Verschuldung durch die Kreditaufnahme bei nationalen und internationalen Banken. Diese Verschuldung wuchs, als das internationale Währungssystem fester Wechselkurse, das sogenannte Bretton-Woods-System, zusammenbrach und die internationalen Zinsen sich stark erhöhten. Viele Staaten konnten deswegen keine neuen Kredite aufnehmen oder waren nicht in der Lage, bestehende Kredite zurückzuzahlen.

Außer den kleinen Golfstaaten und Saudi-Arabien, die durch den einträglichen Export von Erdöl über ausreichend eigene finanzielle Mittel verfügten, sowie Irak und Syrien, die zusätzlich politische Vorbehalte hemmten, waren alle Länder seit Anfang der 1980er-Jahre auf die Hilfe externer Akteure angewiesen. Der IWF und die Weltbank waren dazu bereit, machten die Gewährung von Krediten allerdings von einer Strukturreform abhängig. Diese Strukturanpassung, exemplarisch zusammengefasst im sogenannten Washington Consensus, verlangte, dass der Staat die Kontrolle der Binnenmärkte reduzierte, Staatsunternehmen und staatliche Dienstleistungen, zum Beispiel Wasser- und Energieversorgung, privatisierte, Außenhandelsbarrieren abbaute sowie das Besteuerungssystem verbesserte. In den meisten Ländern führten diese Maßnahmen zunächst zu weiteren Problemen wie einer hohen Arbeitslosigkeit und dem Abbau sozialstaatlicher Leistungen. Erst in den 1990er-Jahren gab es wieder eine Phase ökonomischen Wachstums, die diesmal vor allem vom Privatsektor getragen war. Doch das größte der ökonomischen Probleme, die hohe Arbeitslosigkeit, ließ sich damit nicht beseitigen.

Nordafrika und Naher Osten in Zahlen II. Bitte klicken Sie auf das Bild, um das PDF herunterzuladen. (© CIA Factbook)

Abhängigkeit vom Erdöl und boomende Golfregion


Die Erdölfunde in Iran zu Beginn des 20. Jahrhunderts und auf der arabischen Halbinsel in den 1930er-Jahren prägen bis heute die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung des gesamten Nahen Ostens. Der fossile Rohstoff Erdöl ist von höchster Bedeutung für die Weltwirtschaft. Einerseits ist Erdöl der wichtigste Energieträger weltweit und andererseits Ausgangsrohstoff für zahlreiche andere Produkte wie Kunststoffe, Kosmetika oder Medikamente. Der Anstieg der Weltölpreise in den 1970er-Jahren (Erdölpreisrevolution) bewirkte eine historisch bisher einmalige Umverteilung von Kapital aus Industrieländern in ölreiche Entwicklungsländer. Seitdem gibt es im Nahen Osten Staaten mit einer sogenannten Rentierökonomie (Rentierstaaten): Die hohen Einnahmen aus dem Erdölexport werden als eine Art Rente in Form von Löhnen und Gehältern, Subventionen und Krediten an die einheimische Bevölkerung verteilt. Zwei Staatengruppen lassen sich unterscheiden: zum einen die ölreichen Monarchien Bahrain, Kuwait, Oman, Katar, Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate und Iran bis 1979 und zum anderen die ölreichen Republiken Algerien, Libyen, Irak und Iran (seit 1979).

Eine Reihe von Merkmalen ist allen gemeinsam: Die Erdölpreisrevolution (1973/74) verschaffte den Ölstaaten über Nacht einen bisher ungekannten Reichtum. Es galt nun, diesen Reichtum angemessen zu verwenden, ohne die eigene Ökonomie zu schädigen. Zunächst wurde massiv innerhalb des Landes, insbesondere in die staatliche Bürokratie, in die Infrastruktur, aber auch in das Militär, investiert. Zudem wurden die "Petrodollars" (Erdöleinnahmen) eingesetzt, um Importe aus den Industriestaaten zu finanzieren ("Petrodollar-Recycling"). Zusätzlich wurden Teile des Ölreichtums direkt über zwischenstaatliche Finanztransfers an ressourcenarme Staaten oder indirekt über Arbeitsmigration innerhalb der Region verteilt.

Dieses System der Verteilung von Öleinnahmen innerhalb des Nahen Ostens, das aus politischen und wirtschaftlichen Gründen entstand, wird als "Petrolismus" bezeichnet. Im Namen des Panarabismus, der Idee einer einheitlichen arabischen Nation, forderten die ärmeren arabischen Staaten einen Anteil am Ölreichtum. Israel war von diesem System ausgenommen. Zudem sahen sich die reichen Ölstaaten in der Pflicht, die "Frontstaaten" im arabisch-israelischen Konflikt zu unterstützen. Schließlich führten der Ölreichtum und die darauf aufbauende Wirtschaftsentwicklung in den Ölstaaten zu einer hohen Nachfrage nach Arbeitskräften in allen Sektoren. Aus sprachlichen und kulturellen Gründen wurde dieser Bedarf zwischen den 1960er- und 1970er-Jahren vor allem aus den ärmeren arabischen Staaten gedeckt.

Trotz der sehr hohen Kapitaltransfers von Nord nach Süd kam es dort jedoch zu keiner breiten und nachhaltigen industriellen und wirtschaftlichen Entwicklung. Obwohl die Ölstaaten gerade in den 1970er-Jahren sehr hohe Wachstumsraten verzeichneten, versäumten sie es, ihre Wirtschaftsstruktur ausreichend zu verbreitern. Alle wirtschaftlichen Aktivitäten blieben direkt oder indirekt über staatliche Subventionen von den Öleinnahmen abhängig. Davon profitierten in erster Linie der Dienstleistungssektor und die Immobilienwirtschaft, die sich überproportional entwickelten.

In den 1980er-und 1990er-Jahren offenbarte sich die Schwäche dieser einseitig von Öleinnahmen abhängigen Wirtschaftsentwicklung. Als der Weltmarktpreis für Öl deutlich zurückging und auf einem niedrigen Niveau verharrte, fehlten nachhaltige Industriesektoren zum Ausgleich der durch den Rückgang des Ölpreises entstandenen Einkommensverluste. Alle Staaten durchliefen in dieser Zeit schmerzhafte strukturelle Anpassungsprozesse, mussten Teile des Staatssektors privatisieren, das Steuersystem reformieren und Außenhandelszölle reduzieren, um die Auflagen internationaler Kreditgeber zu erfüllen. Nur die relativ bevölkerungsarmen Golfmonarchien sowie Syrien und Irak konnten diese Anpassungen ohne die Hilfe und die Auflagen externer Akteure durchführen.

Mit Beginn der 2000er-Jahre stieg der Weltölpreis erneut an. Er leitete eine zweite Wachstumsphase in den Erdöl exportierenden Ländern der Region ein, die bis 2014 anhielt. Insbesondere die Golfstaaten investierten ihre Erdöleinnahmen erneut massiv in den Dienstleistungssektor und in die Immobilienwirtschaft. Viele der kleineren Golfstaaten bauten zudem ihre Tourismus- und Transportsektoren aus. Zusätzlich dazu wurde aber auch gerade in der boomenden Golfregion versucht, die bereits existierende petrochemische Industrie weiter zu entwickeln und neue Produktionsbetriebe innerhalb von exportorientierten Wirtschaftszonen anzusiedeln.

Auch diesmal waren die lokalen Arbeitsmärkte nicht in der Lage, die für diese Expansion notwendige Anzahl an Arbeitskräften zur Verfügung zu stellen. Im Vergleich zu den 1970er-Jahren kam nun die Mehrheit der ausländischen Arbeitskräfte nicht mehr aus anderen arabischen Ländern, sondern aus Asien, zum Beispiel aus Indien, Pakistan und den Philippinen. Das lag vor allem daran, dass asiatischen Arbeitskräften geringere Löhne gezahlt werden konnten. Viele, wenn auch nicht alle ausländischen Arbeitskräfte arbeiten bis heute unter unzumutbaren Bedingungen: Sie bekommen sehr niedrige Löhne, haben nur befristete Arbeitsverträge und können jederzeit des Landes verwiesen werden.

QuellentextDas Kafala-System

[…] Vor allem die wohlhabenden der arabischen Golfstaaten sind das primäre Ziel von Millionen pakistanischer Gastarbeiter […], die als Bauarbeiter, Gärtner oder Chauffeure das Rückgrat für den saudischen Wirtschaftsboom bildeten.

Zugleich sind sie das Überlebenselexier der pakistanischen Wirtschaft: 15 Prozent der pakistanischen Arbeitnehmer leben im Ausland. Durch deren Rücküberweisungen an ihre Familien in der Heimat trugen sie 2015 mit 18,4 Milliarden US-Dollar 12 bis 15 Prozent zum Bruttoinlandsprodukt bei: Gastarbeit ist somit die bedeutendste Einnahmequelle Pakistans, um das grassierende Haushaltsdefizit zu kontrollieren. Allein aus Saudi-Arabien wurden zwischen Juli 2014 und Juni 2015 5,6 Milliarden US-Dollar transferiert […]. Ohne diese Einnahmen stünde das Land vor dem Staatsbankrott.

Seit den 1970er Jahren haben etwa 8,7 Millionen Pakistaner das Land als registrierte Auswanderer verlassen. Nach Saudi-Arabien gingen 4,4 Millionen, 520.000 allein im Jahr 2015. Heute leben dort offiziell 1,7 Millionen, doch Schätzungen gehen von 2,5 Millionen aus. Damit bilden die Pakistaner die zweitgrößte Gruppe nach den Indern.

[…] Viele Billiglohnarbeiter leihen sich bis zu 4000 Dollar, um [Vermittlungs-]Agenturen die Visa-Gebühren bezahlen zu können und einen Sponsor (arabisch: kafil) in Saudi-Arabien zu finden. Dieses Kafala-System wird von Menschenrechtsorganisationen immer wieder als Ursache für die katastrophale Lage von Arbeitsmigranten in den Golfländern angeführt: Der Kafil verfügt ähnlich wie ein mittelalterlicher Lehnsherr über die vollkommene Kontrolle über seinen Gastarbeiter. Wie moderne Sklaven sind sie auf das Wohlwollen ihrer Chefs angewiesen, dürfen ohne deren Erlaubnis weder innerhalb des Landes reisen noch in ihre Heimat zurückkehren. Da die Sponsoren die Reisepässe einbehalten dürfen, ist auch die freie Arbeitgeberwahl nicht möglich.

[…] [D]ie Gastarbeiter nehmen zum großen Teil ihre Misere in Kauf: Sie haben sich verschuldet und müssen diese Schulden zumeist bei Verwandten oder der Familie abtragen. Von ihnen wird darüber hinaus erwartet, dass sie das Leben aller verbessern. Immerhin gelten sie als Auserwählte, die das Glück haben, in Saudi-Arabien arbeiten zu dürfen.

Diese Wahrnehmung beruht auf der religiösen Bedeutung des Königreiches. Saudi-Arabien ist "Hüter der heiligen Stätten" Mekka und Medina, die Pilgerfahrt dorthin ist eine der fünf Säulen des Islams. In ihren Familien werden sie [die Gastarbeiter] dafür geachtet, dass sie […] auf heiligem Boden gelebt und gearbeitet haben. Dies macht sie zu Respektspersonen, wenn sie nach Jahren in ihre Heimat zurückkehren. […]

[…] [A]uch wenn die Aufenthaltsgenehmigung […] immer nur für drei Jahre ausgestellt wird und Gastarbeiter in der ständigen Unsicherheit leben, abgeschoben werden zu können, beträgt die durchschnittliche Verweildauer in Saudi-Arabien zwischen fünf und sechs Jahren, viele leben sogar Jahrzehnte im Ausland. […]

Es ist allerdings fraglich, ob auch in Zukunft der Migrationsstrom in den Golf anhalten wird: Alle Golfstaaten wollen ihren Arbeitsmarkt reformieren, die Abhängigkeit von ausländischen Arbeitskräften und damit die hohe Arbeitslosigkeit reduzieren: Allein in Saudi-Arabien sind 30 Prozent der Jugend arbeitslos. In der Vergangenheit wurden deswegen immer wieder große Zahlen an Arbeitsmigranten ausgewiesen. Der fallende Ölpreis setzt das Königshaus zusätzlich unter Druck […]. Die Leidtragenden könnten die Millionen Gastarbeiter sein. […]

Sebastian Sons, "Generation Golf", in zenith 02/2016 "Flucht", S. 84 f.

Zwischen Juni 2014 und Januar 2015 sank der Rohölpreis von über 100 US-Dollar pro Barrel auf ein Niveau von etwa 50 US-Dollar. Dies hat in allen Ländern der Region, aber vor allem in den ölexportierenden Staaten, zu einer deutlichen Verlangsamung des ökonomischen Wachstums und zu steigenden Defiziten in den Staatshaushalten geführt. Länder ohne ausreichende Devisenreserven wie Bahrain und Oman mussten zum ersten Mal seit Jahrzehnten wieder Kredite auf den internationalen Finanzmärkten aufnehmen. Auch die seit 2011 zunehmenden Gewaltkonflikte hatten massive ökonomische Auswirkungen. Im Irak, in Syrien, Libyen und Jemen wurden so gut wie alle in den letzten Jahrzehnten erzielten ökonomischen Fortschritte durch kriegerische Zerstörung zunichte gemacht. Ägypten, Bahrain und Tunesien erlebten massive wirtschaftliche Einschränkungen.

Tourismus und neue Technologien


Zu Beginn der 2010er-Jahre verfügte mit Ausnahme Israels und teilweise der Türkei und Marokkos kein Land des Nahen Ostens über Wirtschaftssektoren, die auf dem Weltmarkt wettbewerbsfähig waren. Die einzige Ausnahme bildete lange Zeit der Tourismus, der sich seit den 1990er-Jahren wegen der geografischen Lage und den klimatischen Bedingungen in der Region, aber auch aufgrund ihrer damaligen politischen Stabilität als ein konkurrenzfähiger und ständig wachsender Wirtschaftszweig etablierte.

In vielen Ländern des Nahen Ostens ist der Tourismus seit Mitte der 1990er-Jahre zur wichtigsten Einnahmequelle internationaler Zahlungsmittel geworden. Diese Devisen wurden zur Finanzierung von Importen für andere Wirtschaftssektoren benötigt. Die Länder mit den höchsten Einkommen aus dem Tourismus waren Ägypten, Jordanien, Marokko, Tunesien, die Vereinigten Arabischen Emirate und der Libanon. In den fünf zuerst genannten dominiert ein von westlichen Touristen geprägter Bade- und Einkaufstourismus. Ägypten bietet eine zusätzliche Attraktion in Gestalt seiner archäologischen Stätten. Der Libanon und teilweise auch Jordanien werden eher von arabischen Touristen besucht. Der Tourismus in Saudi-Arabien konzentriert sich aufgrund der Einreisebestimmungen fast ausschließlich auf die jährlichen Pilgerreisen nach Mekka und Medina.

Trotz dieser Erfolge hat die Entwicklung des Tourismussektors im Nahen Osten bis zum Arabischen Frühling nur geringe Impulse in anderen Bereichen der Wirtschaft ausgelöst. Das liegt einerseits an der fehlenden Verzahnung mit der einheimischen Volkswirtschaft, die in der Mehrheit nur billige Arbeitskräfte, einfache Baustoffe oder Gegenstände des täglichen Bedarfs bereitstellt. Andererseits sind die Gewinne im Tourismussektor sehr ungleich verteilt. Neben ausländischen Investoren hat in der Vergangenheit nur ein geringer Teil der einheimischen Bevölkerung, darunter insbesondere einige wenige Privatunternehmer, Teile des Militärs und hohe Staatsbeamte, von diesem Erfolg profitiert. Als Folge der zunehmenden staatlichen Repression nach den Ereignissen des Arabischen Frühlings und der daraus entstandenen Gewaltspirale ist die Bedeutung des Tourismus seit 2011 in allen Ländern der Region, mit Ausnahme der Golfstaaten, massiv zurückgegangen. Vor allem in Tunesien und Ägypten, aber auch in Syrien und Jordanien musste der Tourismussektor seit 2011 starke Einbußen hinnehmen.

Für die künftige Wirtschaftsentwicklung ist die Eindämmung der Gewaltkonflikte von entscheidender Bedeutung. Die durch den gesunkenen Weltölpreis entstandenen Probleme der erdölexportierenden Länder haben zudem gezeigt, dass es für weite Teile der nahöstlichen Ökonomien, mit Ausnahme von Israel, keinen nachhaltigen Entwicklungsschub gegeben hat.

Vielversprechende Perspektiven ökonomischer Entwicklung zeigen sich allein in der Türkei, in Marokko und möglicherweise künftig in Iran. In der Türkei ist der Aufbau einer entwickelten Wirtschaft, abgesehen von Israel, am weitesten vorangeschritten. Ganze Wirtschaftssektoren wie die Textil- und Elektroindustrie, aber auch Unternehmen der Kfz-Zulieferer-industrie sind mit ihren Produkten seit einigen Jahren weltmarktfähig. Seit Mitte der 2000er-Jahre entstand im Norden Marokkos das Projekt "Tanger-Med", das einen Tiefseewasserhafen und mehrere Freihandelszonen umfasst. Inzwischen sind dort vor allem durch die Ansiedlung von Standorten der Automobilindustrie mehrere zehntausend neue Arbeitsplätze entstanden – ein positiver Effekt für die wirtschaftliche Entwicklung im Norden Marokkos. Nachhaltige Wirkung wird er dann erzielen, wenn es gelingt, die in den Freihandelszonen produzierenden Unternehmen besser mit der einheimischen marokkanischen Industrie zu verknüpfen.

Einfluss der Entwicklungszusammenarbeit


Seit Beginn der 1970er-Jahre hat sich der Westen engagiert an der Entwicklungszusammenarbeit mit den Ländern des Nahen Ostens beteiligt. Insgesamt haben alle Industrieländer und viele internationale Organisationen massiv in die Verbesserung der Lebensverhältnisse, in sozioökonomische Entwicklungsperspektiven und in wirtschaftliche Strukturreformen investiert. Im Vergleich zur Intensität dieses Engagements sind die Erfolge jedoch bescheiden geblieben. Das hat mehrere Gründe: Zunächst sind viele Erwartungen in Bezug auf die positiven Effekte von Entwicklungshilfe unrealistisch. Trotz einer verbesserten Grundversorgung oder der Bereitstellung von Bildungsangeboten können zentrale Entwicklungsprobleme wie die zu geringe Anzahl an Arbeitsplätzen, die Qualitätsmängel der Schulbildung, die fehlende berufliche Ausbildung und die zu geringe Wettbewerbsfähigkeit, nur sehr langfristig gelöst werden. Dazu kommt, dass Entwicklungshilfe aus historischen Gründen, vor allem um den Verdacht einer neuen Form von Kolonialismus zu vermeiden, sensibel und in Zusammenarbeit mit lokalen staatlichen und nicht staatlichen Partnern erfolgen muss.

Ein wichtiger Erklärungsfaktor für die in vielen Bereichen unzureichenden Erfolge ist die sicherheitspolitische Bedeutung der Region für den Westen. Viele entwicklungspolitische Zielsetzungen, wie beispielsweise die Stärkung von Teilhaberechten oder die Bildung von nachhaltigen Institutionen, scheiterten an der Befürchtung, dass diese möglicherweise die politische Stabilität der autoritären Regime bedrohen könnten. Aktuelle Formen der Entwicklungszusammenarbeit nach dem Arabischen Frühling konzentrieren sich auf eine Unterstützung der verbliebenen politischen Transitionsprozesse und in den Bürgerkriegsländern auf humanitäre Hilfe, den Wiederaufbau und die Etablierung politischer Institutionen. Daneben konzentriert sich die deutsche Entwicklungszusammenarbeit für die Region des Nahen Ostens insgesamt auf die Schwerpunkte Wasser und Abwasser, erneuerbare Energien, nachhaltige Wirtschaftsentwicklung sowie Berufs- und Hochschulausbildung.

QuellentextEuropas Versagen im arabischen Frühling

Die EU und ihre südlichen Nachbarn sind historisch, politisch, wirtschaftlich und kulturell eng miteinander verbunden. Ab Mitte der 1990er-Jahre fing man an, diese Verbindungen durch die Schaffung gemeinsamer Institutionen zu vertiefen: Die Euro-Mediterrane Partnerschaft (EMP 1995), die Nachbarschaftspolitik (ENP 2004) und die Union für das Mittelmeer (UfM 2008) ergänzen sich komplementär und enthalten rechtlich bindende Freihandels- und Assoziierungsabkommen.

Der Arabische Frühling kam für die EU trotzdem völlig unerwartet, hatte man doch – entgegen der proklamierten Förderung von Demokratie und Menschenrechten – auf eine enge Kooperation mit den arabischen Autokratien gesetzt. Die Stabilisierung der herrschenden Regime galt als verlässlichere Strategie zur Durchsetzung europäischer Sicherheits- und Wirtschaftsinteressen als der steinige und unberechenbare Weg politischer Reformen.

Vor diesem Hintergrund wird das Dilemma der EU bei Ausbruch des Arabischen Frühlings deutlich: Ganz offensichtlich hatte die EU weder Demokratie noch Stabilität gefördert, durch eine geradezu ostentative Demokratisierungsrhetorik jedoch eine enorme Glaubwürdigkeitslücke geschaffen. Der Arabische Frühling warf somit ein grelles Licht sowohl auf das realpolitische als auch das normative Versagen der EU-Mittelmeerpolitik. Als internationaler Akteur trat sie während des Arabischen Frühlings kaum in Erscheinung. Abgesehen von Maßnahmen der humanitären Hilfe und des Grenzschutzes war die EU schlichtweg nicht präsent, als sich in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft ein politischer Umbruch von historischer Bedeutung vollzog.

Im Lichte dieser Ereignisse vollzog die EU jedoch einen erstaunlichen Lernprozess und entwickelte 2013 konstruktive Ansätze im Rahmen des ENP. Durch eine politikfeldübergreifende Demokratisierungspolitik wollte man nunmehr nachhaltige Stabilität im Nahen Osten und in Nordafrika stiften. Zum einen sollten autokratische Regime unter dem Motto more for more zur politischen Transformation ermutigt werden, zum anderen wollte man enger mit den arabischen Zivilgesellschaften in Kontakt treten und deren Einsatz für politischen Wandel aktiver fördern.

Diese Vorhaben kamen allerdings über erste Ansätze nicht hinaus. Unter dem wachsenden Druck von Bürgerkrieg und Staatszerfall in Syrien und Libyen, verstärkt durch die terroristischen Aktivitäten des IS, auch in Europa, – und nicht zuletzt in Reaktion auf die wachsende Zahl von Flüchtlingen wurden die Prioritäten der ENP 2015 erneut verschoben. Heute setzt die EU wieder auf eine enge (Sicherheits-)Kooperation mit ihren nach wie vor autoritär regierten Nachbarn, die durch Rücknahmeabkommen und andere Maßnahmen Flüchtlinge von Europas Küsten fernhalten sollen. Damit begibt sich die EU jedoch in ein Abhängigkeitsverhältnis, das wenig Spielraum für die Förderung von Transformationsprozessen lässt und, ganz im Gegenteil, zur Stabilisierung dieser Regime beiträgt.

Ernüchterung hat sich in Brüssel breit gemacht angesichts der eskalierenden Gewaltkonflikte einerseits und der wachsenden Konkurrenz anderer externer Akteure andererseits. Aufgrund ihrer schwindenden Handlungsspielräume, die die EU zumindest in Teilen selbst zu verantworten hat, kann sie heute kaum mehr politischen Einfluss auf die Nachbarregion nehmen. Vor diesem Hintergrund ist es fraglich, ob die EU in absehbarer Zeit den Willen und die Kraft zu einem grundsätzlichen Politikwechsel aufbringen wird, der die regionalen Probleme von ihrer Wurzel her angehen müsste.

Parallel zu einem verbesserten akuten Krisenmanagement müsste ein solcher Ansatz langfristig auf politische Transformation in enger Kooperation mit den arabischen Zivilgesellschaften setzen, den Schutz der Menschenrechte fördern sowie eine nachhaltige Wirtschaftsentwicklung unterstützen, von der nicht nur eine zahlenmäßig kleine Elite profitiert.

Notwendig ist eine großzügige Öffnung des EU-Binnenmarktes auch für Arbeitnehmer, die legale Wege der Ein- und Ausreise nach Europa dringend benötigen. Da ein derart ganzheitlicher Ansatz derzeit jedoch nicht erkennbar ist, wird das Mittelmeer, einst gedacht als verbindendes Element einer EuroMed-Region des Friedens, der Stabilität und des gemeinsamen Wohlstands, mehr und mehr zu einem Massengrab und zugleich zu einer virtuellen Mauer, mit der sich die EU von ihren südlichen Nachbarn abzuschotten versucht. Konsequente Fluchtursachenbekämpfung und nachhaltige Regionalpolitik sehen anders aus.

Annette Jünemann

Annette Jünemann ist Professorin am Institut für Internationale Politik an der Helmut-Schmidt-Universität der Bundeswehr Hamburg

Karikatur: Bitte bleiben Sie da und erwarten Sie die Bekämpfung der Fluchtursachen in Ihrem Heimatländern. Ihre EU (© Thomas Plaßmann / Baaske Cartoons)

Dr. Thomas Richter ist Politikwissenschaftler und seit 2008 wissenschaftlicher Mitarbeiter am GIGA Institut für Nahost-Studien. Seine aktuellen Forschungsschwerpunkte sind: Stabilität und Wandel autoritärer Regime, Rentierstaatstheorie, Politikdiffusion und die arabischen Golfstaaten.
Kontakt: E-Mail Link: thomas.richter@giga-hamburg.de