Einleitung
Flüchtlinge 1970: Von Mitte der 1970er bis Ende der 1980er Jahre flohen ungezählte Menschen vor dem Krieg in Vietnam und Kambodscha auf das Südchinesische Meer. Mehr als 10 000 von ihnen retteten beherzte Helfer auf der Cap Anamur, einem zum Hospital umgebauten Frachtschiff, und brachten sie, getragen von einer Welle der Hilfsbereitschaft, nach Deutschland.
Flüchtlinge 2004: 25 Jahre nach ihrem ersten Einsatz nahm die Cap Anamur im Juli 2004 37 Flüchtlinge im Mittelmeer auf. Ihre Asylanträge für Deutschland wurden abgelehnt und die italienischen Behörden verweigerten der Cap Anamur eine Landeerlaubnis. Als nach fast dreiwöchiger Blockade das Schiff den sizilianischen Hafen Porto Empedocle anlaufen durfte, wurden der Kapitän und der Chef der gleichnamigen Hilfsorganisation wegen "Beihilfe zur illegalen Einreise" festgenommen, das Schiff beschlagnahmt und die Flüchtlinge aus Ghana und Nigeria bis auf einen wieder in ihre Heimat abgeschoben. Am Ende dieser Dienstfahrt mussten sich die Verantwortlichen den Vorwurf gefallen lassen, das Leid der Flüchtlinge als Druckmittel gegen die europäische Flüchtlingspolitik und nationale Bestimmungen missbraucht zu haben.
Flüchtlingstragödien im Mittelmeer, vor der westafrikanischen Küste oder an den Grenzsperranlagen der spanischen Exklave Melilla in Marokko, Flüchtlinge in Somalia, im sudanesischen Darfur, im Tschad oder Uganda: Angesichts der Fülle solcher Schreckensmeldungen scheint sich im Europa am Beginn des 21. Jahrhunderts eine Stimmung resignativer Abwehr breitzumachen.
Menschen auf der Flucht
Schon seit jeher haben Menschen vor politischer, religiöser und rassischer Verfolgung flüchten müssen. Erinnert sei an die Verfolgungen des Judentums seit zweitausend Jahren in verschiedenen Ländern, erinnert sei an die protestantischen Glaubensflüchtlinge im Europa der frühen Neuzeit.
Im 20. Jahrhundert erreichten Flucht und Vertreibung gewaltige Dimensionen. Erheblichen Anteil daran hatten naturgemäß die beiden Weltkriege und ihre unmittelbaren Folgen. Durch die Auflösung des österreichisch-ungarischen Vielvölkerstaates 1918 kam es zu einer ersten "Entmischung" der Nationalitäten, mussten viele Menschen ihre angestammte Heimat verlassen. Etwa zur gleichen Zeit flohen in der Oktoberrevolution und im Bürgerkrieg etwa eine Million Menschen aus Russland.
Bald darauf setzte nach den faschistischen Machtergreifungen in Italien, Deutschland und Spanien die Emigration politisch Verfolgter ein. Parallel dazu kam es zwischen 1933 und 1939, solange es noch möglich war, zu einem Exodus von rund 340 000 Juden aus Deutschland. Im Gefolge der NS-Diktatur und des Zweiten Weltkrieges wurden etwa 30 Millionen Menschen verjagt und verschleppt, evakuiert und umgesiedelt, darunter auch die Urheber des Krieges, die Deutschen, mit 12,5 Millionen Menschen.
In der Zeit des Kalten Krieges war Flucht für viele Menschen im östlichen Europa die einzige Möglichkeit, den kommunistischen Herrschaftsbereich zu verlassen. Dennoch liegt das Schwergewicht des Fluchtgeschehens seit der Jahrhundertmitte nicht mehr in Europa.
Der erfolgreichen Entkolonialisierung Afrikas und Asiens gingen meist Konflikte zwischen Befreiungsbewegungen und der jeweiligen Kolonialmacht voraus, die in der Regel von Flucht und Vertreibung begleitet waren. Für viele der neuen unabhängigen Staaten erwiesen sich die Grenzen aus der Kolonialzeit als eine schwere Hypothek, da sie oft ohne Rücksicht auf ethnische und religiöse Verhältnisse gezogen waren. Versuche, eine gewaltsame Lösung herbeizuführen, mündeten bis in die Gegenwart zwangsläufig in Krieg, Flucht und Vertreibung. Schließlich führte auch die Konfrontation der unterschiedlichen Ideologien von Ost und West zu Fluchtbewegungen.
In zahlreichen Krisen der jüngeren Zeit stellten Massenvertreibungen nicht eine Folge von kriegerischen Konflikten, sondern das erklärte Ziel bestimmter Kriegsherren dar, so im ehemaligen Jugoslawien, wo mehr als drei Millionen Menschen entwurzelt wurden, und gegenwärtig in der sudanesischen Provinz Darfur. 2005 ließ Simbawbes Präsident Robert Mugabe unter dem Vorwand, die Infrastruktur verbessern und die Kriminalität bekämpfen zu wollen, in einer "Operation Müllentsorgung" ohne Vorwarnung in der Hauptstadt Harare Zwangsräumungen in Armenvierteln durchführen und die Wohnungen zerstören. Mehr als zwei Millionen Menschen wurden so ihrer Lebensgrundlage beraubt und als Vertriebene in jene ländlichen Gebiete zurückgeschickt, aus denen sie wegen Hunger oder politischer Gewalt geflohen waren.
Die Entwicklung des Weltflüchtlingsproblems muss differenziert betrachtet werden. Zwar hat die Zahl der zwischenstaatlichen Flüchtlinge abgenommen und 2006 mit 8,4 Millionen den niedrigsten Stand seit über 25 Jahren erreicht - und dies, obwohl seit Beginn des dritten Golfkrieges etwa zwei Millionen Iraker aus ihrem Land geflohen sind. Dafür haben innerstaatliche Auseinandersetzungen und Bürgerkriege zugenommen, die wiederum die Zahl von Binnenflüchtlingen und Vertriebenen innerhalb ihrer Heimatländer auf 25 Millionen Menschen anwachsen ließen. Insgesamt dürfte die Gesamtzahl aller Flüchtlinge und Menschen in fluchtähnlichen Situationen bei rund 40 Millionen Menschen liegen.
Soziale Situation und rechtlicher Status
Es gibt Merkmale, die allen Flüchtlingen gemeinsam sind:
Jeder Mensch, der aus politischen Gründen seine Heimat verlässt, muss wählen zwischen Unterdrückung in der Heimat und erhoffter Freiheit in der Fremde. Dabei sieht er in der Flucht und ihren Folgen das kleinere Übel.
Jeder Flüchtling leidet unter dem Zustand der Entwurzelung und muss häufig auf seinen Besitz, den Freundeskreis, ja sogar auf seine Familie verzichten.
Er lebt zunächst isoliert in einer Umgebung, von der er sich durch Erziehung, Kultur und Mentalität unterscheidet. Fremdartiges Aussehen und Sprachbarrieren vermögen seine Vereinsamung noch erheblich zu steigern. In seiner Unsicherheit zieht sich der Flüchtling automatisch in den Kreis seiner Landsleute zurück. Diese Gettosituation kann anfangs viel zum Überleben beitragen, verhindert auf Dauer jedoch die Integration in eine neue Umwelt.
Obwohl solche Beobachtungen bei allen Menschen, die ihre Heimat unfreiwillig verlassen haben, gemacht werden können, hat man den Begriff des Flüchtlings völkerrechtlich sehr eng gefasst. Nach der international anerkannten Definition des Genfer Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge von 1951 gelten nur diejenigen Personen als Flüchtlinge, die aus der "begründeten Furcht vor Verfolgung" aus politischen, religiösen oder rassischen Gründen ihren Heimatstaat verlassen haben und seinen Schutz nicht mehr beanspruchen können oder wollen.
Humanitäre Hilfe
Nur für diese Flüchtlinge kann das Amt des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR: United Nations High Commissioner for Refugees) Rechtsschutz und humanitäre Hilfe leisten, und nur sie werden in offiziellen Statistiken erfasst. Jene juristische Eingrenzung entspricht allerdings dem Flüchtlingsproblem unserer Zeit schon lange nicht mehr. So verlässt eine steigende Zahl von Menschen, besonders aus der Dritten Welt, ihre Heimat auch aus wirtschaftlichen Gründen, und viele irren als Binnenflüchtlinge im eigenen Land umher, ohne die Staatsgrenzen zu überschreiten. Daher sieht es der UNHCR, dessen Mandat seit 1954 regelmäßig um jeweils fünf Jahre verlängert wurde und von freiwilligen Beiträgen einzelner Länder finanziert wird, als seine dringende Aufgabe an, humanitäre Hilfe auch Binnenflüchtlingen zukommen zu lassen. Freilich bedarf es hierzu einer Aufforderung durch den UN-Generalsekretär oder die Generalversammlung und natürlich der Bereitschaft der jeweiligen Regierung, mit dem UNHCR zu kooperieren. Daher erreichte seine Hilfe 2005 erst etwa 6,6 Millionen Menschen, zum Beispiel in Kolumbien, im Sudan, in Liberia, Sri Lanka, Bosnien und Staaten in der ehemaligen Sowjetunion. Darüber hinaus verfolgt UNHCR auch langfristige Programme zur freiwilligen Rückkehr von Flüchtlingen in ihre Heimatländer oder Neuansiedlung in Einwanderungsländern. So kehrten bereits über vier Millionen Flüchtlinge aus Afghanistan zurück und nach einem zwei Jahrzehnte dauernden Bürgerkrieg im Südsudan besteht Hoffnung auf die Heimkehr von vier Millionen Binnenvertriebenen und Flüchtlingen.
Bereits 1950 haben die Vereinten Nationen ein eigenständiges Hilfswerk für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (United Nations Relief and Works Agency for Palestine Refugees in the Near East - UNRWA) gegründet. Es betreut derzeit mehr als 4,4 Millionen Palästinenser im Gaza-Streifen und im Westjordanland sowie in Jordanien, Syrien und im Libanon. Dabei arbeiten selbst etwa 28 000 Flüchtlinge als Lehrkräfte und in medizinischen oder in anderen sozialen Berufen als Angestellte der UNRWA für die Grundversorgung der Palästinenser, vor allem im Erziehungs- und Gesundheitswesen.
Asylrecht
Jeder Mensch hat gemäß Artikel 14 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 das Recht, in anderen Ländern vor Verfolgung Asyl zu suchen und zu genießen. Trotzdem besitzen politisch Verfolgte nach dem Völkerrecht keinen individuellen Anspruch auf Asyl. Die Gewährung oder Ablehnung von Asyl gehört vielmehr zu den Rechten eines souveränen Staates. Daran ändert auch das Genfer Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge von 1951 nichts, in der lediglich die rechtliche Absicherung des einmal gewährten Asyls geregelt ist.
Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland ging über die Regeln des Völkerrechts weit hinaus und räumte politisch Verfolgten ein subjektives Recht auf Asyl ein. Artikel 16 Absatz 2 Satz 2 bestimmte: "Politisch Verfolgte genießen Asylrecht." Bei der Formulierung dieses Grundrechtes standen die Mütter und Väter des Grundgesetzes unter dem Eindruck des enormen Flüchtlingselends nach dem Zweiten Weltkrieg und der Tatsache, dass viele politisch Verfolgte während des Dritten Reiches ihr Leben nur deshalb hatten retten können, weil sie von anderen Ländern aufgenommen wurden. Als unverzichtbaren Kerngehalt des Asylrechts sah man an, dass Schutzsuchende an der Staatsgrenze nicht zurückgewiesen und nicht abgeschoben werden dürfen in einen möglichen Verfolgerstaat oder einen Staat, in dem die Gefahr der weiteren Abschiebung in einen Verfolgerstaat besteht.
Solange die Zahl der Asylsuchenden relativ gering war, blieb das Grundrecht auf Asyl unumstritten. Erst als seit Mitte der 1970er Jahre die Flüchtlingszahlen aus den Krisenregionen der Dritten Welt anstiegen und die Zweifel an der Fähigkeit zur Integration der Ankömmlinge wuchsen, stimmte eine Bundestagsmehrheit 1993 für eine Änderung des Artikels 16 GG.
Danach genießen politisch Verfolgte zwar weiterhin Asyl, allerdings kann sich nicht mehr auf den Schutzbereich dieses Grundrechtes berufen, wer aus einem "sicheren Drittstaat" einreist. Dazu zählen neben den Staaten der Europäischen Union alle Länder, die die Genfer Flüchtlingskonvention anerkennen, da davon ausgegangen wird, dass Asylsuchende bereits dort Sicherheit finden können. Asylgewährung in Deutschland hängt somit weniger von tatsächlich erlittener Verfolgung als von der Wahl des Fluchtweges ab.
Mit dieser Einschränkung des Grundrechtes auf Asyl geht Deutschland konform zur Praxis der übrigen europäischen Staaten. Sie reagieren damit auf die Angst weiter Bevölkerungskreise vor einer Überfremdung und einem Ansteigen der Kriminalität. Verbreitet ist vor allem die Vorstellung, dass durch die Ankömmlinge eine übermäßige Belastung unserer Sozialsysteme erfolgen könne.
Durch die Abschaffung der Kontrollen an den Binnengrenzen im Rahmen des Schengener Abkommens ist es auch für angekommene Zuwanderer möglich, sich zwischen den EU-Staaten frei zu bewegen. Umso mehr kommt es der EU darauf an, ihre Außengrenzen gegenüber unerwünschten Einwanderern zu schließen.
Aus dem gleichen Grund hat die EU auch ihre Visumspflicht auf über 130 Länder ausgeweitet. Fluggesellschaften und andere Transportunternehmen müssen mit Strafen rechnen, wenn sie Passagiere ohne (ausreichende) Reisedokumente befördern.
Soweit es Flüchtlingen gelingt, in der EU doch einen Asylantrag zu stellen, oder europäische Staaten doch bereit sind, Flüchtlinge aus Kriegsgebieten auf Zeit bei sich aufzunehmen, müssen diese sich meist auf ein zähes Ringen mit den Behörden einstellen. Dies beginnt beispielsweise in Frankreich damit, dass Asylanträge in französischer Sprache gestellt werden müssen, Dolmetscherdienste aber nicht mehr ohne Weiteres geleistet werden. Allgemein beklagen Menschenrechtsorganisationen die verordnete Perspektivlosigkeit von Flüchtlingen in Europa, da sie in der Regel keine Arbeits- und Bildungsmöglichkeiten besitzen und vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen bleiben. Besonders gravierend wirken sich derartige restriktive Maßnahmen aus, wenn sich Asylverfahren jahrelang hinziehen oder Jugendliche betroffen sind.
Während die menschenrechtlichen Standards allgemein qualitativ und quantitativ wachsen, ist im Asylbereich eine gegenläufige Entwicklung zu beobachten. So sind im Ergebnis die Asylbewerberzahlen weltweit rückläufig. Zwar stand Europa in der UNHCR-Statistik zum 1. Januar 2006 mit 223 600 Asylsuchenden an zweiter Stelle hinter Afrika mit 252 400 Menschen, doch ist allein in Deutschland die Zahl der Asylbewerber von der Rekordmarke von fast 440 000 Personen 1992 auf 21 000 im Jahr 2006 gesunken. Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International oder Pro Asyl hoffen deshalb darauf, dass sich die EU-Staaten - wie angekündigt - bis 2010 auf ein einheitliches europäisches Asylrecht verständigen, das den Anforderungen der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) entspricht. Kritik wird vor allem an der gängigen Abschiebepraxis abgelehnter Asylbewerber und der Rückführung von Kriegsflüchtlingen laut. Nach Art. 33 der GFK ist es nämlich verboten, einen Flüchtling in sein Heimatland abzuschieben, solange ihm dort eine Verfolgung droht. Häufig begnügen sich europäische Behörden mit der Feststellung, dass im Herkunftsland eine politische Veränderung stattgefunden hat, ohne im Einzelfall zu prüfen, ob der jeweilige Staat den Schutz des rückkehrenden Flüchtlings wirklich gewähren kann.
QuellentextKeine Papiere, keine Perspektive
[...] Spanien, in dem noch im Jahr 1998 nur eine halbe MillionAusländer lebten, zählt gegenwärtig nahezu vier Millionen legale und illegale Immigranten. Bei einer Gesamtbevölkerung von 44 Millionen geht ihre Zahl auf die Zehn-Prozent-Grenze zu.
Ob und in welchem Umfang die große, von mehreren EU-Partnern kritisierte Legalisierungskampagne des Vorjahres, die "zum letzten Mal" eine Dreiviertelmillion "Papierloser" integrieren wollte, einen nachwirkenden "Lockvogeleffekt" hatte, ist Gegenstand bitterer innenpolitischer Debatten.
Nach einem schon seit mehr als einem Jahrzehnt währenden Wirtschaftsboom, in dem billige Arbeitskräfte benötig wurden, gibt es erste Krisenzeichen. Ein Abflauen der Konjunktur wäre ein schwerer Schlag für den Arbeitsschwarzmarkt. Zugleich sammelt sich mit den Kosten für die medizinische Versorgung, Schulung der Kinder und Unterbringung der zumeist mittellosen, ungelernten, häufig sprachunkundigen Neuankömmlinge aus Afrika erheblicher sozialer Sprengstoff an. [...]
Trotz eines euromediterranen Gipfels in Rabat, eines spanischen "Plans Afrika" mit vielfältigen Hilfsofferten, sporadischen Patrouillen vor den Atlantikküsten und Beistandszusagen der Europäischen Union, deren Erfüllung sich beständig verzögert, war der Exodus aus dem Nachbarkontinent bislang nicht zu bremsen.
Mehr als achtzehntausend Afrikaner haben allein in den ersten acht Monaten dieses Jahres [2006 - Anm. d. Red.] ihr "Transitziel" Kanarische Inseln schon erreicht. Die meisten wurden inzwischen vom Innenministerium nach kurzer Internierung auf Spaniens Großstädte verteilt - das Gesetz schreibt eine Vierzigtagefrist für die Freilassung von "undokumentierten" und damit "nicht repatriierbaren" Einwanderern vor.
In Madrid streifen Hunderte von Afrikanern ziel- und stellungslos durch den Retiropark und trommeln dort, verkaufen Rauschgift oder vertreiben Handtaschen und Raubdisketten. In Barcelona wiederholen sich die gleichen Szenen des Herumlungerns und der Suche nach Obdach, Essen und Beschäftigung auf den Ramblas.
In Murcia schlafen die willigen, aber nicht immer gefragten "Erntehelfer" auf den Bänken im Chinesischen Garten und verrichten zum Mißfallen der Einheimischen ihre Notdurft am Ufer des Seguraflusses. Die Nachrichten von den Kanaren, wonach immer wieder Illegale wegen Tuberkuloseverdachts, Aids oder der Krätze in Quarantäne genommen wurden, steigern auf dem Festland die Akzeptanz nicht.
Die afrikanische Odyssee hat etwas Kafkaeskes, weil eigentlich niemand für die Männer, wenigen Frauen und immer mehr Jugendlichen zuständig sein möchte. Ihre Herkunftsländer verweigern oft trotz wohlklingender Abkommen und Entwicklungshilfe die Rücknahme, weil ihre Deviseneinnahmen von den Auswanderern abhängen. Einmal in Spanien angelangt, sind die Afrikaner auf sich selbst, ihre Landsleute, das Rote Kreuz, andere Nichtregierungsorganisationen und die bemühte katholische Kirche gestellt.
Sind die Afrikaner auf dem Madrider Flughafen angelangt, versucht die spanische Polizei sie möglichst schnell wieder loszuwerden. Sie händigt jedem einen schriftlichen Ausweisungsbescheid aus, der nicht vollstreckt werden kann, aber auch weder Arbeits- noch Aufenthaltsrecht gibt.
In der Praxis sieht es dann so aus, daß die Beamten ihnen ein belegtes Brot, eine Cola und einen Metrofahrschein mit der Adresse einer privaten Hilfsorganisation geben. Die U-Bahn muß nicht selten als erste Notunterkunft herhalten. Beim Roten Kreuz gibt es dann saubere Kleidung, aber keine Antwort auf die Frage "Was nun?" [...]
Leo Wieland, "Ein belegtes Brot, ein Fahrschein und dann adiós", in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 24. August 2006
Armutsmigration
Karikatur: Können Sie einen Arbeitsplatz nachweisen?
Karikatur: Können Sie einen Arbeitsplatz nachweisen?
Weit größer als die Zahl der politischen Flüchtlinge sind die Ströme der Menschen auf der Flucht vor Armut und Chancenlosigkeit. Schätzungsweise 200 Millionen Menschen suchen derzeit ihr Glück in fremden Ländern. Solange sie über dringend benötigte Qualifikationen verfügen oder ihr Vermögen investieren wollen, stellt die Aufnahme im Allgemeinen kein Problem dar. So sind beispielsweise Experten im IT-Bereich in Deutschland hochwillkommen. Für alle anderen stehen die Chancen schlecht, da die Industrieländer keinen Bedarf für eine Masseneinwanderung sehen.
In ihrer Menschenwürde besonders gefährdet sind die illegalen Einwanderer. Etwa sechs Millionen von ihnen sollen in der EU leben, 500 000 bis eine Million allein in Deutschland. Da es sich oft nicht um ungebildete und gänzlich mittellose Menschen handelt, reisen sie nicht selten mit einem Touristenvisum ein und tauchen dann unter. Andere werden von kriminellen Schleuserbanden unter großer Gefahr für Leib und Leben eingeschmuggelt, zum Beispiel mit kleinen Booten von der afrikanischen Küste aus nach Europa gebracht. Den Weg in die Legalität, beispielsweise durch eine Eheschließung, schaffen nur wenige. Die meisten leben von wenig attraktiven Jobs in der Gastronomie oder in der Landwirtschaft und in ständiger Sorge, entdeckt oder wieder arbeitslos zu werden.
QuellentextIllegal in Deutschland
[...] Diese Geschichte handelt von Emilia aus Rumänien und Carmen von den Philippinen. [...] Carmen ließ einen Sohn und eine Tochter zurück beim Ehemann, als sie im Oktober 1997 nach Frankfurt aufbrach. Sie kam mit einem einmonatigen Touristenvisum und einem Plan: In fünf Jahren wollte sie genug Geld verdienen, um damit auf den Philippinen ein kleines Geschäft aufzumachen. Neun Monate später reichte der Mann die Kinder an die Großeltern weiter und kam nach. Wenn sie zu zweit arbeiten, so die Überlegung, würden sie es vielleicht schneller schaffen, und am Anfang sah es auch gut aus. Putzen, Bügeln, Babysitting, Dogsitting, Catsitting und Gartenarbeiten war vor allem den vielen im Frankfurter Raum ansässigen Amerikanern gutes Geld wert, und bald machte das Ehepaar aus den Philippinen 3000, manchmal 4000 Mark im Monat. Davon floss einiges zurück für den Unterhalt der Kinder und für ihre schulische Zukunft. Zu diesem Zweck hatten die Eltern in Manila eine Ausbildungsversicherung abgeschlossen. Gespart wurde auch. Inzwischen sieht es nicht mehr so gut aus. Viele Amerikaner seien weg, sagt Carmen, die Deutschen sparten, [...] und die Ausbildungsversicherung in Manila habe pleite gemacht. Das ganze eingezahlte Geld - verloren. Der schöne Plan - hinfällig. In diesem Jahr ist Carmens Mann zurückgegangen, das dritte, in Frankfurt geborene Kind hat er mitgenommen. Carmen selber putzt weiter hessische Wohnungen, im zehnten Jahr. Ein Jahr noch, sagt sie und glaubt es selber nicht. [...]
Was die junge Philippina als Putzfrau leistet, gehört zu jenen Tätigkeiten, von denen der Migrationsforscher Klaus Jürgen Bade sagt, sie würden ohne Illegale in Deutschland kaum noch ausgefüllt werden. Ob im Bau- oder im Gaststättengewerbe, ob bei häuslichen oder bei Reinigungsdiensten - nichts geht mehr ohne die illegalen Migranten, die, vielleicht eine Million stark, längst zu einem Wirtschaftsfaktor geworden sind. [...]
Statt die Schattenwirtschaft zu skandalisieren und gleichzeitig inoffiziell zu tolerieren, statt die dort Beschäftigten als Wirtschaftsflüchtlinge zu denunzieren und sie als Illegale schutzlos zu lassen, sei es höchste Zeit, einen Niedriglohnsektor aufzumachen, wo ausländische Arbeitswanderer legal und auf Zeit arbeiten könnten. Denn Bedarf gäbe es, sagt Bade - "sonst kämen sie nicht". Bedarf, wie er von Emilia gedeckt wird. Die arbeitet in der häuslichen Pflege, kümmert sich um Alte und Kranke. Einen Todkranken betreuen, vier mal 16 Stunden pro Woche, seine Blase und seinen Darm entleeren, ihn waschen und anziehen, ihn herausholen aus dem Bett und zurückschaffen ins Bett - das ist schon unter normalen Umständen sehr schwere und mit regulär 28 Euro pro Stunde einigermaßen angemessen bezahlte Arbeit. Was die Familie des Kranken der Pflegerin Emilia bezahlte, waren sieben Euro pro Stunde. Später reduzierte sie auf 5,60 Euro und dann noch einmal auf 4,30 Euro. Als Emiliaschüchtern fragte, wie weit sie denn noch heruntergehen wolle, da lautete die Antwort: "Was willst du? Du bist doch illegal." [...]
Ein Leben als Illegaler muss man sich vorstellen wie Autofahren ohne Stoßdämpfer, wie Artistik ohne Netz. [...] Schließlich ist das ganze Sinnen und Trachten eines illegalen Migranten darauf ausgerichtet, um keinen Preis aufzufallen. Carmen kann die entsprechenden Regeln herunterbeten als wär's das Vaterunser. Geh nach der Arbeit sofort nach Hause. Geh in der Dunkelheit nicht mehr auf die Straße. [...] Fahr' nie schwarz. [...] Melde dich am Handy nie mit Namen. Bewahre Pässe und Dokumente nicht zu Hause, sondern an einem sicheren Ort auf, denn wenn man deine Identität nicht feststellen kann, kann man dich auch nicht ausweisen. Zahle immer cash. Gib möglichst nie deine Adresse an. Und am wichtigsten: Lass dich in der Öffentlichkeit nie auf Streit oder Auseinandersetzungen ein. Will im Bus jemand deinen Sitzplatz, steh' einfach auf und sag' nichts. [...] Manch einer hat in solchem Verhalten schon den tugendhaften Musterausländer gesehen. Das freilich ist ein großes Missverständnis. In Wahrheit, sagt Migrationsforscher Bade, handle es sich um "überangepasste Wesen", die unter Aufgabe ihrer eigenen Identität und Interessen hilf- und chancenlos am Rande der Gesellschaft ein Schattendasein führten und sich der Gefahr von "psychischen Deformationen" aussetzten. [...]
Stefan Klein, "Die Angst vor roten Ampeln", Süddeutsche Zeitung vom 20. Oktober 2006
Ihre Arbeitgeber nützen diese Situation oft weidlich aus: So gesellen sich zu langen Arbeitszeiten, gesundheitsschädliche Arbeitsbedingungen und Unterbringung in menschenunwürdigen Behausungen. Nur der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass es solche Verhältnisse nicht nur in Europa gibt, sondern in ähnlicher Weise auch in den USA oder in Südkorea.
Für die Zukunft werfen diese Entwicklungen folgende Fragen auf:
Können die wohlhabenden Länder auf Dauer den Einwanderungszustrom verhindern oder begrenzen, ohne dass der Weltfrieden gestört wird?
Lassen sich die "Inseln der Reichen" mit der universalen Geltung von Menschenwürde und Menschenrechten in Einklang bringen?
Welche politischen, wirtschaftlichen und sozialen Maßnahmen sind in ärmeren Staaten notwendig, um große Fluchtbewegungen im Ansatz zu verhindern, und welche Rolle spielt dabei die Verwirklichung von (kollektiven) Menschenrechten?
Wie kann Menschenwürde geschützt werden, wenn die Last der Migration auf wirtschaftlich schwächere Drittstaaten abgewälzt wird und Bürgerkriegsflüchtlingen die Anerkennung als "politisch Verfolgte" mit dem Argument verweigert wird, ihrem Schicksal fehle der individuelle Charakter einer Verfolgung?
Etwas mehr Verständnis für und Solidarität mit Migranten würden wichtige Schritte zur Verwirklichung der Menschenrechte und zu mehr Frieden bedeuten.