Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Medienkompetenz und Schule | Medienkompetenz in einer digitalen Welt | bpb.de

Medienkompetenz in einer digitalen Welt Editorial Wandel medialer Techniken Historische und theoretische Perspektiven auf Medienkompetenz Zur Geschichte der Medienkompetenz Dimensionen von Medienkompetenz Medienkompetenz und Medienbildung Medienkompetenz und Kontexte der Mediensozialisation Medienkompetenz und Familie Frühe Medienbildung und Medienkompetenzförderung in Kindertagesstätten Medienkompetenz und Schule Medienkompetenz und Jugendarbeit Aktuelle Herausforderungen und Diskurse Jugend und soziale Medien Vertrauenskrise des Journalismus Fake News, Misinformation, Desinformation Chancengerechtigkeit und digitale Medien Gesellschaftlicher Zusammenhalt und mediale Öffentlichkeit Jugendmedienschutz Glossar Gesamtes Literaturverzeichnis Impressum
Informationen zur politischen Bildung Nr. 335/2023

Medienkompetenz und Schule

Julia Nickel Sonja Ganguin

/ 9 Minuten zu lesen

Der Bildungs- und Erziehungsauftrag der Schule umfasst nicht nur wichtige Kulturtechniken wie das Lesen, Schreiben und Rechnen, sondern auch den Erwerb von Medienkompetenz. Doch was ist damit gemeint?

An einer Schule in Neuss (Nordrhein-Westfalen) wird im Unterricht mit Virtual Reality-Brillen gearbeitet, Foto vom 15. Dezember 2017 (© picture-alliance/dpa, Ina Fassbender )

Die Schule hat den Auftrag, Kinder und Jugendliche beim Aufwachsen auf das Leben und Arbeiten in der Gesellschaft vorzubereiten und sie zur selbstbestimmten und sozial verantwortlichen Teilhabe an dieser zu befähigen. Dieser sogenannte Bildungs- und Erziehungsauftrag von Schule ist in unserer Gesellschaft auch vor dem Hintergrund der Digitalisierung zu betrachten, die alle Lebensbereiche beeinflusst: Online-Bewerbungsportale, digitale Sprachassistenten und Haushaltshelfer, Onlinebanking, personalisierte Werbung, Influencer-Marketing, Online-Aktivismus, Selbstdarstellungen in sozialen Medien – digitale Medien und digitalisierungsbezogene Phänomene spielen nicht nur im Freizeit- und Arbeitsbereich eine wichtige Rolle. Sie sind auch im Kontext der Bewältigung alltäglicher Anforderungen und Aufgaben relevant und für Prozesse der Persönlichkeitsentwicklung von Bedeutung. Medienkompetenz ist in diesem Zusammenhang als Schlüsselqualifikation zu verstehen. Souverän und kritisch-reflektiert mit digitalen Medien umzugehen, ist eine wichtige Voraussetzung für die Teilhabe an der Gesellschaft. Als weitere wichtige Kulturtechnik neben dem Lesen, Schreiben und Rechnen müssen Schüler:innen in der Schule dementsprechend auch Medienkompetenz erwerben.

Kompetenzbereiche für die Schule

(© Gesellschaft für Informatik e.V. (GI): Dagstuhl-Erklärung: Bildung in der digitalen vernetzten Welt, März 2016, S. 3)

Welche Kompetenzen für die Teilhabe an einer von digitalen Medien geprägten Gesellschaft erforderlich und somit auch in Schule und Unterricht zu fördern sind, wird in Definitionen und Dimensionierungen von Medienkompetenz deutlich. Inzwischen liegen eine Vielzahl von Modellen zum Erwerb von Medienkompetenz und auch von digitalisierungsbezogenen Kompetenzen (z. B. Kompetenzmodell „DigComp“) vor, von denen sich einige auch konkret auf den schulischen Bildungsbereich beziehen.

Das sogenannte Dagstuhl-Dreieck aus der „Dagstuhl-Erklärung: Bildung in der digitalen vernetzten Welt“ stellt die Wechselwirkung zwischen Menschen und der von digitalen Medien geprägten Gesellschaft als Dreieck dar. Dies veranschaulicht, dass allein die Kompetenz, digitale Medien bedienen zu können, für eine selbstbestimmte Teilhabe an der digitalen Welt nicht ausreicht. Die drei gleich langen Seiten des Dag­stuhl-Dreiecks zeigen Kompetenzbereiche auf, die einander beeinflussen und gleichermaßen bedeutsam sind. So erfordert selbstbestimmtes Handeln in der digitalen Welt zwar, Funktionsweisen und Nutzungsmöglichkeiten zu kennen (technologische Perspektive: Wie funktioniert das?). Gleichzeitig sind aber auch persönliche Nutzungsgewohnheiten zu reflektieren (anwendungsbezogene Perspektive: Wie nutze ich das?), und zudem ist die gesellschaftliche Bedeutung digitaler Medien bzw. digitalisierungsbezogener Phänomene, Gegenstände und Situationen zu verstehen (gesellschaftlich-kulturelle Perspektive: Wie wirkt das?). Diese Perspektiven spiegeln sich auch in bildungspolitischen Vorgaben wider.

Die Kultusministerkonferenz hat im Jahr 2016 für die schulische Bildung in Deutschland einen verbindlichen Kompetenzrahmen beschlossen, der die Förderung von Kompetenzen in den folgenden Bereichen für alle Schulfächer vorschreibt:

  • Suchen, Verarbeiten und Aufbewahren,

  • Kommunizieren und Kooperieren,

  • Produzieren und Präsentieren,

  • Schützen und sicher Agieren,

  • Problemlösen und Handeln,

  • Analysieren und Reflektieren.

Förderung von Medienkompetenz in der Schule

Um dem schulischen Bildungs- und Erziehungsauftrag gerecht zu werden, ist ein Umfeld zu schaffen, das Schüler:innen ermöglicht, selbsttätig mit, aber auch über und durch Medien zu lernen. Das bedeutet zum einen, die Potenziale zu nutzen, die digitale Medien als Unterrichtsmittel oder Mittler von Fachinhalten für das Lernen und Lehren bieten. Zum anderen sind Schüler:innen zu einem souveränen, kreativen, kritisch-reflektierten und sozial-verantworteten Medienhandeln zu befähigen sowie in ihrer Persönlichkeitsentwicklung in einer von digitalen Medien geprägten Umwelt unterstützend zu begleiten. In diesem Kontext sind digitale Medien auch als wichtige Erfahrungs- und Entwicklungsräume zu begreifen. Soziale Medien wie Instagram, Tiktok oder Youtube können als „digitale Sozialräume“ verstanden werden. In diesen bieten sich vielfältige Handlungsoptionen, Orientierungsmöglichkeiten und Lerngelegenheiten, um zentrale Entwicklungsaufgaben zu bearbeiten: sich mit der eigenen Identität auseinandersetzen, Beziehungen aufzubauen sowie Wert- und Normvorstellungen zu entwickeln und zu ver­treten. Medienkompetenz ist hierbei von zentraler Bedeutung.

Um diese überfachliche Kompetenz zu fördern und Heranwachsende in ihrer Persönlichkeitsentwicklung zu stärken, sind digitale Medien nicht nur als Lehr- und Lernmittel für den Fachunterricht zu verstehen. Digitale Medien und digitalisierungsbezogene Phänomene müssen auch thematisiert werden: Medienerfahrungen, persönliche und gesellschaftlich-politische Bedeutungen und Einflüsse digitaler Medien sind also auch zum Gegenstand der Auseinandersetzung in Schule und Unterricht zu machen. Das bedeutet: Vor dem Hintergrund des schulischen Bildungs- und Erziehungsauftrags sind digitale Medien über alle Fächer hinweg als Unterrichtsmittel zu nutzen (Mediendidaktik), aber auch fachintegrativ zum Unterrichtsinhalt zu machen (Medienerziehung). Schüler:innen sind also beim Lernen mit, über und durch digitale Medien pädagogisch zu begleiten.

QuellentextModellfach „Digitale Welt“

Wer an einem Mittwochvormittag den Unterricht der Carl-von-Weinberg-Schule besucht, der glaubt: Hier in Frankfurt hat die digitale Zukunft schon begonnen. Zumindest in den zwei fünften Klassen. In einer zerlegen Amira, Raabeah, Milda, Emilia und Melina gerade einen PC in seine Einzelteile. Während der Computer da sein Innenleben offenbart – Schaltkreise, Kabel, Platinen –, stehen sie begeistert davor und diskutieren angeregt. „Wo ist denn jetzt das Mainboard?“, fragt eines der Mädchen, als sie sich suchend über den Computer beugt. Die Aufgabe: Die Schüler*innen müssen die Computereinzelteile ihren Funktionen und Namen zuordnen.

Diese Autopsie am Computer ist Teil eines deutschlandweit einzigartigen Modellfachs. Der schlichte Titel: „Digitale Welt“. Am zwölf Schulen in Hessen läuft seit Schuljahresbeginn dieser Versuch. Ein Jahr lang, so die Startvorgabe, soll das Ganze an fünften Klassen erprobt werden. Das selbstgesteckte Ziel der Landesregierung: „Ein neues Schulfach für das digitale Zeitalter“ […].

[…] Der Inhalt von Digitale Welt: grundlegende Kompetenzen der Informatik vermitteln. Diese sollen dann mit ökonomischer und ökologischer Bildung verknüpft werden, erklärten die zuständigen Ministerien bei der Vorstellung des neuen Fachs. Ein fixes Curriculum gebe es zwar noch nicht. Doch auch Medienbildung, Datenschutz, Algorithmen könnten Teil des neuen Fachs sein. Es ist also einiges, was sich Hessen da vorstellt – und das für Klasse 5.

„Ich finde, man kann gar nicht früh genug anfangen“, entgegnet John Klemen-Geiger, der an der Carl-von-Weinberg-Schule das neue Fach unterrichtet. Gerade erst vor wenigen Wochen habe es an der Schule einen Vorfall gegeben, der seiner Meinung vielleicht hätte verhindert werden können, wenn es ein solches Fach regulär schon früher gegeben hätte. Eine junge Schülerin habe ein Video mit den Konterfeis ihrer Mitschüler*innen zusammengeschnitten und ins Internet gestellt. Weil alle minderjährig waren, ein echtes Problem. „Obwohl alle permanent online sind, fehlt es vielen an Wissen zu dem, was sie da eigentlich tun“, sagt Klemen-Geiger, der normalerweise Mathe und Physik unterrichtet. […]

Die ersten Rückmeldungen der Eltern seien positiv, berichtet Schulleiterin Carolin Kubbe. „Ich hatte kurz vor den Sommerferien Anrufe von Eltern, die noch zu uns wollten, nur wegen Digitale Welt“, schildert sie. Geklappt habe das nicht, weil die Anmeldephase da schon lange vorbei war. Auch im Kultusministerium spricht man von hoher Nachfrage. Einige Schulen hätten sogar weitere Pilotklassen beantragt.

Doch braucht es wirklich ein eigenes Fach? Lehrer Klemen-Geiger findet ja: „Die bisherigen Versuche, Digitalisierung als Querschnittsthema zu verankern, haben nicht funktioniert.“ Viele Lehrkräfte täten sich selbst schwer mit der Digitalisierung – wie solle es da fächerübergreifend vermittelt werden?

Das sieht der Vorsitzende der hessischen Bildungsgewerkschaft GEW, Thilo Hartmann, anders. „Digitalisierung muss überall im Unterricht gelebt werden – und nicht in ein einzelnes Fach ausgelagert werden.“ Vor allem seien die Lehrkräfte zu eingespannt, um die Digitalisierung nebenher zu schaffen: Ein Fünftel der Lehrkräfte arbeite nach einer GEW-Studie mehr als 48 Stunden die Woche. „Wie und vor allem wann sollen sie da noch Konzepte zur Didaktik der Digitalisierung im Unterricht entwickeln?“

Mit dem Wunsch, Digitalisierung als Querschnitt zu begreifen, liegt Hartmann ganz auf Linie der KMK. Auch sie fordert, dass die Digitalisierung nicht in einem einzigen Fach abgehandelt werden soll. Das Kultusministerium in Hessen sieht in den KMK-Vorgaben und dem eigenen Fach keinen Widerspruch. Ein Ministeriumssprecher sagt auf taz-Anfrage, dass die Schüler*innen das erlernte digitale Handwerkszeug „selbstverständlich in allen Unterrichtsfächern“ anwenden sollen.

Apropos Qualifikation: Für den aktuellen Modellversuch gab es nur wenige Wochen Vorlauf. Dass das Fach dennoch so schnell umgesetzt werden konnte, liegt vor allem an zwei Faktoren. Der eine: Die teilnehmenden Schulen waren ohnehin schon umtriebig in Sachen Digitales und wurden extra danach ausgewählt. […]

Der zweite Grund: das Engagement der Lehrerkräfte. […]Es sind also besondere Voraussetzungen, die die Projektschulen schon mitbringen. Lehrer Klemen-Geiger glaubt deshalb auch nicht, dass sich das neue Fach kurzfristig an allen hessischen Schulen einführen ließe. Gewerkschafter Hartmann versteht nicht, warum es dieses Fach überhaupt geben sollte: „Jahrelang wurde der Informatikunterricht stiefmütterlich behandelt, Arbeitslehre an Gymnasien abgeschafft. Und jetzt soll es ein ganz neues Fach geben?“ Für ihn ist das Fach Digitale Welt deswegen ein strategisches Leuchtturmprojekt. […]

Alina Leimbach, „Braucht es das wirklich?“, in: taz vom 23. November 2022. Online: https://taz.de/Digitales-Schulfach-in-Hessen/!5893762/

Mediendidaktik: Lernen und Lehren mit digitalen Medien

Die Digitalisierung beeinflusst alle Lebensbereiche und verändert auch das Lernen und Lehren. Hierauf muss Schule als Bildungsinstitution reagieren. Dass digitale Medien in der Schule inzwischen häufiger zum Lehren und Lernen genutzt werden, zeigen Ergebnisse der Studie „Schule digital – der Länderindikator 2021“ im Vergleich mit Ergebnissen aus dem Jahr 2017.

In der Auswertung wird festgehalten, dass es eine zunehmende Verbreitung und Akzeptanz der pädagogisch-didaktischen Nutzung digitaler Medien im Unterricht gibt, Deutschland im internationalen Vergleich aber noch immer nicht an den Stand in anderen Bildungssystemen anschließen kann. Hier besteht weiterhin Verbesserungspotenzial. Neben dem quantitativen Merkmal der Nutzungshäufigkeit sollte dabei aber auch die Qualität, also die Gestaltung von Unterrichtsprozessen berücksichtigt werden. Schul- und Unterrichtsentwicklung sollten sich nicht darin erschöpfen, bisherige Lehrwerkzeuge wie das Arbeitsblatt oder die Tafel einfach auszutauschen und durch digitale Medien zu ersetzen.

(© Thomas Plaßmann/Baaske Cartoons Müllheim)

Zwar entstehen im Prozess der Digitalisierung neue technische Infrastrukturen, die auch Einzug in die Bildungsinstitution Schule erhalten haben. Bildung und Lernen im digitalen Wandel sind aber nicht nur als technische Ausstattung, sondern viel umfassender zu begreifen: Mit dem digitalen Wandel verändern sich auch Lerninhalte sowie die Art und Weise, wie wir uns diese aneignen. Digitale Medien wie das Smartphone oder das Tablet erlauben zum Beispiel mobiles Lernen, indem sie zeit- und ortsunabhängigen Zugriff auf Lerninhalte bieten und über das Internet dabei auch nahezu unbegrenzten Zugang zu Informationen aller Art ermöglichen. Die freie Verfügbarkeit von Wissensbeständen und die Fülle an Daten und Informationen erfordern dabei wiederum Orientierung und Reflexion: Informationen müssen gefiltert, bewertet und verarbeitet werden. Das Auswendiglernen von Faktenwissen hilft im digitalen Zeitalter folglich nur bedingt weiter, vielmehr sind überfachliche Kompetenzen wie Medienkompetenz oder auch Kompetenzen des selbstgesteuerten Lernens gefordert.

Mit dem Wandel von Lernkulturen verändern sich somit Anforderungen an die Wissensvermittlung bzw. das Lehren. Zum einen bekommt die Förderung der überfachlichen Kompetenzen eine größere Bedeutung. Zum anderen verändert und erweitert sich auch das traditionelle Verständnis vom Lehren und der Rolle von Lehrkräften bei der Wissensvermittlung. Um den Erwerb von Medien- und auch Selbstlernkompetenz zu fördern, sind so zum Beispiel auch im schulischen Bildungskontext Möglichkeiten des selbstgesteuerten Lernens mit digitalen Medien zu schaffen.

Digitale Medien bieten vielfältige didaktische Potenziale. Diese können gezielt genutzt werden, um im Unterricht Lehr-Lern-Prozesse anzuregen und zu unterstützen. Dabei geht es nicht nur um Anschlussfähigkeit an die Lebenswelt von Schüler:innen oder erhöhte Motivation. Mithilfe von digitalen Medien können Lerninhalte veranschaulicht, ein individualisierter Unterricht oder ganz neue Formen der Zusammenarbeit ermöglicht werden:

  • machen oder im Rahmen aktiver Medienarbeit durch die eigenständige Produktion dieser von Schüler:innen selbsttätig erarbeiten.

  • Komplexe Zusammenhänge, historische Entwicklungen oder (im Unterrichtskontext) unerreichbare (Lern-)Orte können mit Hilfe von Virtual Reality-Brillen oder 360°-Videos für Schüler:innen erfass- und erfahrbar gemacht werden.

  • Lernfortschritte können über die Möglichkeiten digitaler Lernplattformen dokumentiert und so zum Ausgangspunkt für individualisierten Unterricht werden.

  • Individuelle Lernstände und -typen können berücksichtigt werden, indem verschiedene und multimediale Lernquellen angeboten werden (z. B. neben Texten und schriftlichen Aufgaben auch Lernvideos, Podcasts oder Lernspiele).

  • Digitale Medien bieten nicht nur Interaktionsmöglichkeiten für Austausch und Feedback zwischen Lehrkräften sowie Schüler:innen. Sie können auch für die Zusammenarbeit unter Schüler:innen genutzt werden. Über Chats, Foren und Videokonferenzen wie auch über (Online-)Texteditoren können Lernaufgaben arbeitsteilig gelöst werden und gemeinsame Lernprozesse und -produkte entstehen.

Mit Blick auf diese beispielhaft skizzierten Potenziale des Einsatzes digitaler Medien wird deutlich, dass es nicht nur um eine technische Ausstattung der Schulen oder um das Ersetzen bisheriger Unterrichtsmittel durch digitale Medien zum Selbstzweck geht: Im digitalen Zeitalter ergeben sich ganz neue Möglichkeiten und Ziele des Lernens und Lehrens, die sinnvoll in Schule und Unterricht integriert werden sollten. Der aktive Umgang mit digitalen Medien in schulischen Lehr-Lern-Kontexten setzt Medienkompetenz von Schüler:innen dann zwar gewissermaßen voraus, trägt aber auch entscheidend zu ihrer Entwicklung bei.

Medienerziehung: Medienthemen und -erfahrungen bearbeiten

Damit Schüler:innen Medienkompetenz in allen relevanten Kompetenzbereichen erwerben können, reicht es aber nicht aus, digitale Medien im Unterricht als Lehr- und Lernmittel zu nutzen. Digitale Medien bzw. digitalisierungsbezogene Phänomene, Gegenstände und Situationen müssen auch zum Unterrichtsinhalt werden. Dies liegt zum einen daran, dass sich durch die Digitalisierung Fachinhalte verändern. Zum anderen wird mit dem Bildungs- und Erziehungsauftrag von Schule neben den jeweiligen fachlichen Unterrichtszielen auch der Erwerb von überfachlicher Medienkompetenz zum Unterrichtsziel.

Neben der Mediendidaktik ist somit auch schulische Medienerziehung gefordert: also die gezielte und auf die Lebens- und Medienwelten von Schüler:innen bezogene Förderung des selbstbestimmten, kreativen, kritisch-reflektierten und sozial verantwortlichen Handelns mit digitalen Medien. Ergebnisse der Studie „Schule digital – der Länderindikator 2021“ zeigen jedoch, dass Medienerziehung bisher zu wenig in den Fachunterricht integriert wird.

Anknüpfungspunkte für die von der Bildungspolitik geforderte fachintegrative Medienerziehung bieten die Fachlehrpläne, in denen auch relevante medienbezogene Themen und Inhalte deutlich werden. Die gezielte Förderung von Medienkompetenz beschränkt sich dabei nicht nur auf gesellschaftswissenschaftliche Schulfächer wie Deutsch, Ethik, Geschichte oder den Politikunterricht, in dem beispielsweise auf medienrechtliche Fragestellungen oder die Bedeutung von Fake News und algorithmischen Empfehlungssystemen für Information und politische Meinungsbildung eingegangen werden kann. Auch im MINT-Unterricht (Mathematik, Informatik, Naturwis­senschaften und Technik) lassen sich digitalisierungsbezogene Phänomene, Gegenstände und Situationen aufgreifen. So können (im Zusammenhang mit entsprechenden Fachinhal­ten) etwa Chancen und Risiken Künstlicher Intelligenz, Anforderungen des Umwelt- und Gesundheitsschutzes im Zusammenhang mit der Nutzung digitaler Medien oder die Bedeutung medial transportierter Geschlechterrollenbilder im Kontext der Identitätsentwicklung diskutiert werden.

QuellentextRisiken und Chancen Künstlicher Intelligenz

Die gute Nachricht zuerst: Was das Verhältnis des Menschen zur künstlichen Intelligenz betrifft, sind wir längst über das dystopische Klischee à la „I, Robot“ und andere Filme hinaus, in denen die KI die Macht übernimmt und den Menschen versklavt oder gar liquidiert. Es geht in der KI-Debatte nicht mehr darum, ob KI uns besiegen wird, sondern darum, mit welchen Werten wir sie ausstatten sollen.

Die schlechte Nachricht: Wir wissen es nicht. Gewiss, körperliche Unversehrtheit und Selbstbestimmung können als universelle Werte gelten. Aber schon beim Individualismus gehen die Ansichten der Kulturen auseinander. Wirtschaftliche Unabhängigkeit und die Befreiung aus traditionellen Zwängen sind keine universellen Werte, sondern eine Art „Aufklärungs-Liberalismus“, westlicher Partikularismus, der sich als universell ausgibt. So sehen das nicht nur junge [Schwarze] […] Frauen, sondern selbst alte weiße Männer. […]

Fragt man ChatGPT nach der Autorschaft seiner Auskünfte, erfährt man, dass „der von ChatGPT generierte Text auch als kollektives Werk betrachtet werden (kann), das den Beitrag vieler Autoren widerspiegelt“. Der ChatGPT-Text als Patchwork eines Autorenkollektivs? Das klingt interessant. Ist das zitierbar und wenn ja, wie lautet die richtige Quellenangabe?

Hier stoßen wir auf das Kernproblem von ChatGPT. Was eine KI über Gott und die Welt „denkt“, ist immer das, was die Menschen in den Gigabytes an Text, mit denen die KI gefüttert wird, am meisten dazu geäußert haben. Bedenkt man, dass 90 Prozent der Wikipedia-Einträge von weißen gebildeten Männern stammen, die auch in anderen Datenquellen dominieren, ahnt man, dass ChatGPT mehr Probleme mit sich bringt als Plagiarismus und Denkfaulheit.

[…] Keine KI kann vernünftiger sein als die Mehrheit der Daten, aus denen sie schöpft. Und wer über die Trainingsdaten der KI bestimmt, bestimmt darüber, wie die KI – und alle, die ihr folgen – die Welt sieht. Deswegen lancierten KI-Ethiker im Frühjahr 2022 das AI Decolonial Manyfesto, das vor der kolonialen Auslöschung nicht westlicher Seins- und Wissensformen warnt und fordert, dass jede historisch marginalisierte Gemeinschaft in der KI zu Wort zu kommt. Wie diese Inklusion alternativer Weltanschauungen praktisch aussehen soll, weiß allerdings derzeit niemand so richtig. […]

Vielleicht liegt hier die eigentliche bildungspolitische Herausforderung, die ChatGPT mit sich bringt. Verbote (ChatGPT als Schreibhilfe zu benutzen) oder Gegentechnologien (das „digitale Wasserzeichen“, um ChatGPT-Texte zu identifizieren) werden nicht helfen. Man kann nicht verbieten, dass ChatGPT künftig Texte schreibt, also muss man die von ChatGPT geschriebenen Texte nutzen, um über das Schreiben zu sprechen.

Dies kann zunächst durch eine Tiefenanalyse von Logik und Stil geschehen: Wo bleibt ChatGPT vage? Wo wiederholt es Allgemeinplätze? Welche Gegenargumente fallen einem ein? So könnte die Aufgabenstellung lauten, die sich auch gut als Gruppenarbeit organisieren ließe – mit der Zusatzaufgabe, der KI eine bessere Antwort durch ein leicht verändertes Prompt abzuringen. Interessant wäre auch, Diskursschnittpunkte herzustellen. Indem man ChatGPT etwa bittet, einen Essay über sich selbst aus der Perspektive der Kritischen Theorie im Stil von Edgar Allan Poe zu schreiben. Oder aus der Perspektive des Liberalismus im Stil von Goethe. Und dann analysiert man die Unterschiede.

Aber das ist noch nicht alles. Der nächste Schritt wäre das Experiment mit verschiedentlich erzogenen und verschiedentlich temperierten ChatGPTs.

1. Es wäre spannend, ambivalente Themen wie Waffenbesitz, Abtreibung, Sterbehilfe, soziale Gerechtigkeit und individuelle Freiheit von kulturell unterschiedlich dominierten KIs behandeln zu lassen. Vielleicht lässt sich das PALM-Konzept (Process for Adapting Language Models to Society) nutzen, bei dem eine existierende KI eine Feinabstimmung erfährt durch die Eingabe bestimmter Wertvorstellungen auf einer höheren Verarbeitungsstufe. Stundenziel wäre die Erfahrung der Relativität von Werten und „Wahrheiten“, an die sich eine Diskussion zu den Themen Post-Truth und Postmoderne anschließen ließe – samt Abstimmung, zu welchen Themen die KI mit welchen Werten eingestellt werden soll.

2. Die Temperatur der KI bezeichnet im Fachjargon den Wahrscheinlichkeitsfaktor, mit dem die KI operiert. Niedrige Temperatur bringt hoch wahrscheinliche Wortkombinationen, hohe Temperatur bringt ungewöhnliche, überraschende Kombinationen. So lässt sich mit Mainstream und Innovation experimentieren. ChatGPT und andere KI-Applikationen sind natürlich auf niedrige Temperatur eingestellt, weil sie der Weisheit der Menge vertrauen und weil sie schon aus juristischen Gründen lieber einen Allgemeinplatz wiederholen, als eine heikle These zu formulieren. Wird so Quantität zum einzigen Qualitätskriterium mit der Aussicht auf eine Mainstreamkultur, in der alles Abwegige als absurd ignoriert wird? Welche Folgen hätte das? Auch diese Unterrichtseinheit ist voller Zündstoff in politischer wie philosophischer Hinsicht.

3. Genau hier ist die Bildungspolitik gefragt. Wenn der Eingriff der KI in die gesellschaftlichen Prozesse nicht verhindert werden kann, muss der Mensch befähigt werden, kritisch mit KI umzugehen. Er lernt dies am besten im Umgang mit ihr. So könnte ChatGPT genau das Gegenteil von dem bewirken, was allgemein befürchtet wird. Es könnte eine Diskussion veranlassen über Werte und Perspektiven beim Denken, Sprechen und Schreiben statt des Endes von alledem. […]

Roberto Simanowski, „ChatGPT – und algorithmischer Kolonialismus“, in: Wirtschaftswoche vom 10. Mai 2023.

„ChatGPT simuliert Sprache lediglich“

Frau Simon, ChatGPT wird seit Wochen gehypt, und gleichzeitig wird scharf davor gewarnt. Können Sie diese gespaltene Reaktion nachvollziehen?

Die Reaktionen auf ChatGPT sind sicher deswegen so gespalten, weil das Tool ein so großes Potenzial hat. Entsprechend ergeben sich große Möglichkeiten, aber gleichzeitig auch sehr viele Herausforderungen. Es ist natürlich so, dass Medien, neue Technologien – von der Schrift, über den Buchdruck zum Computer –, oft große Sorgen ausgelöst haben, dass alles den Bach runtergeht. Letztlich haben Menschen und Technologien sich dann aber gemeinsam weiterentwickelt. Allerdings finden diese Veränderungen heute erheblich rasanter statt.

Chatbots wie ChatGPT greifen auf alle möglichen Daten aus dem Netz zu, auf Texte aus Onlineforen und sozialen Netzwerken. Wie verarbeiten die Chatprogramme diese Daten?

Diese großen Sprachmodelle erkennen im Grunde genommen Muster in all diesen Daten, mit denen sie gefüttert wurden. Dabei geht es zum einen um Wahrscheinlichkeiten von Wortkombinationen, also welches Wort folgt auf welches mit welcher Wahrscheinlichkeit. Aber es geht auch darum zu erkennen, durch welche Muster sich bestimmte Textgenres, etwa Kriminalromane, Essays, Zeitungsartikel oder wissenschaftliche Artikel, auszeichnen. Gibt man dem System dann einen Prompt – das heißt, eine Frage beziehungsweise Anweisung, welche Art von Text zu welchem Thema produziert werden soll –, werden neue Texte basierend auf diesen zuvor erlernten Mustern produziert. Das funktioniert mittlerweile so gut, dass man oft nicht mehr unterscheiden kann, ob der Text von diesen Sprachsystemen oder von Menschen produziert wurde.

Diese Programme werden somit automatisch auch mit Hatespeech, Rassismus oder Verschwörungserzählungen gefüttert, was sie dann, wie bei Vorgängerprogrammen gesehen, reproduzieren könnten, richtig?

Dadurch, dass Sprachmodelle aus Materialien lernen, mit denen sie gefüttert wurden, übernehmen sie tatsächlich auch deren Fehler und Verzerrungen – und können natürlich auch Verschwörungserzählungen oder Hassrede übernehmen. Ein klassisches Beispiel war hier der Chatbot Tay von Microsoft, der innerhalb von Stunden aufgrund rassistischer und sexistischer Kommentare wieder vom Netz genommen wurde. Hier lernte der Chatbot dieses Verhalten von Twitter-Nutzern, die teilweise wohl auch bewusst die Schwachstellen von Tay ausnutzten. Auch Vorgänger von ChatGPT hatten nachweislich dieses Problem, dennoch hat OpenAI sich entschieden, das Tool frei verfügbar zu machen.

Bedeutet das, dass diese Sprachmodelle die in der Gesellschaft vorhandenen Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten verfestigen?

Alle Systeme, die basierend auf alten Daten neue Ausgaben produzieren, spiegeln die Gegenwart der Welt, so wie sie in den verwendeten Daten repräsentiert wird, wider und schreiben sie damit in die Zukunft fort. Das gilt für ChatGPT genauso wie für Software, die Musik empfiehlt oder Risikoscores berechnet. Und wenn Menschen mit solchen Systemen interagieren, dann wirken die Antworten dieser Chatbots auf sie zurück – und das selbst, wenn sie wissen, wie diese Systeme funktionieren. Gerade bei Systemen, die eine so große Anwendungsbreite haben, von so vielen Nutzer:innen verwendet werden und noch dazu vortäuschen können, menschlich zu sein, ist es also umso entscheidender, dass man diese Gefahren vermeidet. […]

Die Entwicklerinnen und Entwickler halten eine große Verantwortung in ihren Händen.

Ja, wenn man so hochperformante Systeme wie ChatGPT loslässt, ist man natürlich mit verantwortlich für all die positiven wie auch negativen Dinge, die damit geschehen können. Dadurch sind alle an der Entwicklung beteiligten Personen natürlich verantwortlich für ihr Tun – aber eben nicht nur sie, sondern auch die Manager, die entscheiden, ein solches System zu entwickeln – und es dann frei zugänglich zu machen. […]

ChatGPT wurde von OpenAI entwickelt, die mit Microsoft zusammenarbeiten. Googles Sprachsystem heißt LaMDA. Chatbots sollen bald in Suchmaschinen integriert werden. Könnte man sich vorstellen, dass es in naher Zukunft eine Konkurrenz von KI-gesteuerten Wissenssystemen gibt, die vielleicht dann jeweils eine andere Ausrichtung haben?

Durch die Auswahl der Daten, mit denen ein System lernt, und verschiedene methodische Entscheidungen kann man natürlich auch den späteren Output beeinflussen. Dadurch ist es durchaus möglich, zum Beispiel konservativere oder liberalere, rechte oder linke Tendenzen in diese Sprachmodelle zu importieren. Natürlich können unterschiedliche Firmen unterschiedliche Sprachmodelle entwickeln, aber am Ende spielt es natürlich auch einfach eine Rolle, welches Modell leistungsstärker ist. Ich denke, es werden sich Sprachmodelle durchsetzen, die am passendsten und überzeugendsten auf die unterschiedlichsten Anfragen der Nutzer:innen antworten.

Die Lernfähigkeit dieser Systeme scheint enorm, sie können Schlussfolgerungen ziehen, auf ethische Fragestellungen antworten, Smalltalk halten. Dadurch wirkt es, als könnte dieses System selber denken. Ist es komplett ausgeschlossen, dass irgendwann in diesem System ein Bewusstsein existiert?

Dass ein System wie ChatGPT oder LaMDA ein Bewusstsein hätte, ist Unsinn. Diese irreführende Diskussion geht zurück auf den Turing-Test. Dort wird insinuiert, dass eine Maschine dann denken könne, wenn ein Mensch nicht mehr zwischen dem Output einer Maschine und dem eines Menschen unterscheiden könne. Diese Ununterscheidbarkeit scheint ja bei den von ChatGPT produzierten Texten durchaus gegeben. Aber natürlich sagt die Tatsache, dass ein Mensch nicht unterscheiden kann, ob ein Text von einem Menschen oder einer Maschine produziert wurde, rein gar nichts über die (Denk-)Kompetenz der Maschine aus, sondern nur über die Kompetenz des Menschen, zwischen beidem zu unterscheiden. ChatGPT denkt nicht, es versteht nicht, es simuliert nur Sprache, und der Mensch kann das nicht unterscheiden. […]

Interview: Lisa Berins

Judith Simon ist Professorin für Ethik in der Informationstechnologie an der Universität Hamburg. Sie ist Mitglied des Deutschen Ethikrates sowie verschiedener anderer Gremien für wissenschaftliche Politikberatung.

Judith Simon über Chatbots: „ChatGPT versteht nicht, es simuliert nur Sprache“, in: Frankfurter Rundschau vom 31. Januar 2023. Online: https://www.fr.de/kultur/gesellschaft/judith-simon-ueber-chatbots-chatgpt-versteht-nicht-es-simuliert-nur-sprache-92060094.html

(© Thomas Plaßmann/Baaske Cartoons Müllheim)

Wenn es vor dem Hintergrund des schulischen Bildungs- und Erziehungsauftrags darum geht, Schüler:innen beim Lernen mit, über und durch Medien pädagogisch zu begleiten und sie zu einem selbstbestimmten Handeln mit digitalen Medien zu befähigen, gilt dies auch über die Grenzen des Fachunterrichts und Klassenzimmers hinaus. Außerschulisches Medienhandeln von Kindern und Jugendlichen wirkt, beispielsweise über das Smartphone, in die Schule hinein. Auch auf diese Weise können digitale Medien zum Thema werden (z. B. Probleme in Klassenchats, Fälle von Cybermobbing). Neben geschützten Räumen für die Mediennutzung sollten im Schulalltag daher auch (Kommunikations-)Anlässe für die Bearbeitung von (negativen) Medienerfahrungen und eine partizipative Aushandlung von Kommunikations- und Nutzungsregeln geschaffen werden, um Schüler:innen in ihrer Medienkompetenz und Persönlichkeitsentwicklung zu stärken.

Lehrkräfte als Medienpädagog:innen?

Wenn es um die Förderung der Medienkompetenz in Schule und Unterricht geht, spielen Lehrkräfte eine zentrale Rolle. Ausgehend vom schulischen Bildungs- und Erziehungsauftrag und bildungspolitischen Vorgaben sind sie aufgefordert, mediendidaktisch tätig zu werden und digitale Medien im Fachunterricht einzusetzen. Zudem haben sie die medienerzieherische Aufgabe, Kinder und Jugendliche beim Aufwachsen in einer von digitalen Medien geprägten Welt pädagogisch zu begleiten und überfachliche Medienkompetenz zu fördern: also Anlässe für die Analyse und Reflexion von Medienthemen und -phänomenen sowie die Bearbeitung von Medienerfahrungen zu schaffen.

QuellentextGehören digitale Medien in den Unterricht?

Digitale Medien in der Schule: Nach einem enormen Sprung im Lockdown scheint die Begeisterung jetzt wieder ziemlich abgeflacht. Bessere Leistungen sind nicht belegt, so das Fazit eines aktuellen Gutachtens im Auftrag des Philologenverbands NRW. Was sagen Sie als Erziehungswissenschaftlerin dazu?

Anna-Maria Kamin: Die Erwartungen sind hoch. Es geht aber gar nicht darum, die digitalen Lehr- und Lehrmittel als Ersatz für traditionelle, analoge Medien einzusetzen. Sondern vielmehr darum, einen Bezug zur aktuellen Lebenswelt der Kinder zu schaffen. Da gehören digitale Medien einfach dazu. Sie sind aber sicher auch kritisch zu betrachten und ganz bestimmt nicht das Zaubermittel, das alle Probleme richtet und automatisch zu besseren Lernleistungen führt.

Ihre Kollegin aus der Neurowissenschaft geht noch weiter: Digitale Medien machten Kinder dümmer, Handys, Notebooks und Tablets hätten in Schulen nichts zu suchen. Kinder könnten nur analog lernen […]. Wie ordnen Sie das ein?

Die Aussage ist zu wenig differenziert, das Thema muss interdisziplinärer betrachtet werden. Ohne Frage lauern eine Menge Gefahren, aber denen muss man sich stellen. Digitale Medien sind omnipräsent und haben einen festen Platz im Familienalltag. Es geht nicht nur darum, dass Kinder in der Grundschule oder sogar auch schon in der Kita frühzeitig das technische Handling lernen: Das haben sie oftmals viel schneller drauf als wir. Vielmehr geht es um echte Medienkompetenz, kreative Möglichkeiten und Chancen einerseits und das Bewusstsein um Gefahren auf der anderen Seite. Um einen kritischen Umgang. Das kann und sollte man früh trainieren.

Zur fünften Klasse bekommen viele Schüler ein Handy. Auch, weil sie sonst außen vor sind, berichten sie und ihre Eltern. Von der High-Tech-Elite im Silicon Valley hingegen hört man, dass die Kinder seit einiger Zeit vermehrt auf Waldorfschulen geschickt werden und deutlich später eigene Geräte bekommen als hier bei uns. Wäre das nicht auch hier wünschenswert?

Aus Sicht einiger Eltern sicherlich. Aus meiner Sicht bringt es allerdings nichts, die Kinder unter eine Käseglocke, die nicht der Lebenswirklichkeit entspricht, zu packen. Man sollte digitale Medien nicht ausklammern, sondern sinnvoll einsetzen. Es bringt wenig, wenn jemand zum Beispiel in der Grundschule einen Vortrag über die Gefahren und Möglichkeiten hält. Kinder müssen damit arbeiten und lernen, wie Algorithmen funktionieren. So können sie durchschauen, welche Mechanismen hinter Computerspielen mit Belohnungsfaktoren stecken, warum man da einfach nicht aufhören kann. Oder, dass Anbieter ihnen nicht einfach nur nett helfen wollen, wenn ihnen entsprechend ihrer Suchbegriffe immer wieder neue Produkte angeboten werden. […]

Bis alle Tablets liefen und alle im WLAN seien, sei schon die halbe Unterrichtsstunde vorbei, ist von Lehrern zu hören. Schüler selbst geben zu, dass sie die Tabletzeit oft nicht wirklich für Unterrichtsinhalte nutzen. Was läuft da falsch?

Dass die Stadt [Bielefeld – Anm. d. Red.] die technische Ausstattung in den Schulen und die WLAN-Verbindung verbessert hat und zusätzliche Fachkräfte für die IT zur Verfügung stellt, ist auf jeden Fall schonmal sehr hilfreich. Großer Ausbaubedarf besteht auf jeden Fall noch bei der Qualifikation und Professionalisierung der Pädagogen, damit digitale Medien lernfördernd und angemessen eingesetzt werden und die Kinder die Unterrichtszeit damit auch sinnvoll nutzen. Schüler verfügen da oftmals über mehr Bedienerkompetenz als ihre Lehrer. Digitale Medien, richtig eingesetzt, bieten tolle Möglichkeiten, stärken- und ressourcenorientiert zu arbeiten. So kann beispielsweise auch schon ein Grundschüler, der sehr kreativ ist, sich aber beispielsweise in Mathematik schwertut, einen kleinen Erklärfilm drehen und sich so die wenig geliebten Inhalte mit mehr Enthusiasmus aneignen. So lernen Kinder fächerübergreifend, eigenständig und durch eigenes Ausprobieren.

Damit digitale Medien den Kindern beim Lernen mehr helfen als schaden, muss also noch einiges optimiert werden. Auch die Eltern können dazu beitragen – und haben auch eine große Verantwortung, oder?

Das stimmt. Die ganze Diskussion ist immer noch sehr von der Technik bestimmt. Reflexionsprozesse, die bei dem Thema ganz wichtig sind, kommen noch zu kurz. Es muss nicht alles digitalisiert werden. Die Frage ist, wo kann durch die technischen Möglichkeiten etwas erweitert, wo kann differenziert, wo können neue Lernformen, individuelle Förderung und Teilhabe eröffnet werden? Dazu gibt es viele Forschungsergebnisse, die leider noch zu wenig berücksichtigt und zu wenig in die Bildungspolitik miteinfließen. Was die Eltern angeht: Die Nutzung von digitalen Medien birgt immer Auseinandersetzung und Konfliktpotenzial. Aber auch neue Kommunikationschancen, gerade auch mit älteren Kindern. Eltern und Schulen sind gefragt, die Kinder bei der Mediennutzung zu unterstützen und zu begleiten. Auch die Aussicht, dass die Schüler keinen schweren Tonni mehr tragen müssen, sondern alle Lehrbücher inklusive ergänzenden Erklärfilmen oder Audiodateien auf dem Tablet immer dabeihaben, ist doch sehr verlockend – und zudem nachhaltig.

Das Gespräch [mit der Medienpädagogin Anna-Maria Kamin von der Universität Bielefeld – Anm. d. Red.] führte Redakteurin Ivonne Michel.

„Wie digitale Medien Kindern helfen können“, in: Neue Westfälische vom 16. November 2022. © Neue Westfälische, 16. November 2022. Texte sind urheberrechtlich geschützt. Weiterverwendung nur mit schriftlicher Genehmigung der Redaktion. Autorin: Ivonne Michel

Lehrkräfte müssen in ihrer Berufspraxis folglich immer auch medienpädagogisch tätig werden. Dabei müssen sie keine Medienexpert:innen in allen Bereichen sein. Eine wichtige Grundlage ist vielmehr eine offene Haltung gegenüber aktu­ellen Entwicklungen in der Medienlandschaft. Dazu gehört auch der Aufbau einer professionellen, kritisch-optimistischen Perspektive auf digitale Medien und die Medienwelten von Schüler:innen. Zudem müssen Lehrkräfte den schulischen Bil­dungs- und Erziehungsauftrag der Medienkompetenzför­derung nicht in alleiniger Verantwortung umsetzen: Sie sollten mit wei­­teren medienpädagogischen Akteur:innen zusammenar­bei­ten (z. B. mit Fachkolleg:innen, Schulsozialarbeiter:innen, Medien­pädagog:innen, Erziehungspersonen) und können sich gezielt Unterstützung suchen.

Zwar müssen Lehrkräfte keine allumfassende Expertise im Bereich digitale Medien und Digitalisierung haben, dennoch benötigen sie sowohl eigene Medienkompetenz als auch medienpädagogische Kompetenz, um die Veränderungen von Lernen und Lehren und damit auch von Schule in einer von digitalen Medien geprägten Gesellschaft mittragen und mitgestalten zu können.

Nicht nur die Lehrkräfte selbst sind aber in der Verantwortung, diese Kompetenzen zu erwerben und in der Schule und ihrem Fachunterricht entsprechend tätig zu werden. Auch müssen gleichzeitig schulische Rahmenbedingungen und die Aus-, Fort- und Weiterbildung von Lehrkräften so gestaltet werden, dass Prozesse der Schul- und Unterrichtsentwicklung möglich werden und der Bildungs- und Erziehungsauftrag in einer von digitalen Medien geprägten Gesellschaft umgesetzt werden kann.

Julia Nickel ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Medienkompetenz- und Aneignungsforschung der Universität Leipzig. Sie promoviert zum Thema Medienerziehung in der Schule. Ihre Forschungsschwerpunkte sind darüber hinaus die Mediensozialisation von Kindern und Jugendlichen sowie die Professionalisierung von (angehenden) Lehrkräften im Bereich Medienpädagogik.
E-Mail-Adresse: E-Mail Link: julia.nickel@uni-leipzig.de

Prof.‘in Dr. Sonja Ganguin ist Professorin für Medienkompetenz- und Aneignungsforschung am Institut für Kommunikation- und Medienwissenschaft und Direktorin des Zentrums für Medienproduktion an der Universität Leipzig. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Medienkompetenz, Medienkritik, digitale Spiele und digitales Lernen.
E-Mail-Adresse: E-Mail Link: sonja.ganguin@uni-leipzig.de