Einleitung
In welche Richtung wird sich Lateinamerika in den kommenden Jahren entwickeln, welche gegenwärtigen Trends werden sich in die Zukunft verlängern? Je nach Sichtweise ergeben sich abweichende Antworten und eröffnen sich unterschiedliche Entwicklungsperspektiven.
Herausforderungen für die Demokratie
Zunächst gilt es festzuhalten, dass Lateinamerika - trotz weiter bestehender Defizite der politischen Institutionen - die bisher längste Demokratiephase seiner Geschichte erlebt. Seit 1978 gab es keinen dauerhaften Rückschlag mehr, nachdem sich in einem Land ein demokratisches System etabliert hatte. Die Wahlen entsprechen weitgehend demokratischen Mindeststandards. Im Vergleich zu anderen Weltregionen - Afrika, Asien, Naher und Mittlerer Osten - ist Lateinamerika die eindeutig demokratischere Region. Auch im Hinblick auf die Beteiligung und Repräsentation von Frauen in der Politik unterscheidet sich Lateinamerika positiv von anderen Weltregionen.
Der wirtschaftliche Aufschwung der vergangenen Jahre hat in Lateinamerika tendenziell zu einer größeren Zufriedenheit mit der Demokratie geführt, und er schafft Spielräume, die Armut in der Region weiter zu reduzieren. Die lateinamerikanischen Regierungen müssen diese günstige Gelegenheit nun allerdings für Reformen nutzen. Sonst besteht das Risiko, dass die Enttäuschung über das Fehlen einer ausreichenden Beteiligung an den Früchten des wirtschaftlichen Aufschwungs erneut zur Wahl populistischer Politiker oder zu politischen Unruhen führt. In Lateinamerika haben sich zahlreiche Formen des politischen Protestes entwickelt, und der Sturz von Präsidenten durch den Protest der Straße gehört in einigen Ländern durchaus dazu.
In Staaten mit einem hohen Anteil indigener Bevölkerung wird viel davon abhängen, ob diese Gruppen, nachdem sie sich verstärkt in den politischen Prozess eingebracht haben, dort auch ihre Interessen durchsetzen können. Nur dann wird es gelingen, nach einer Periode des politischen Umbruchs in Ländern wie Bolivien wieder zu mehr Stabilität zu gelangen.
Zu den großen Herausforderungen für die Zukunft gehört in Lateinamerika neben einem verstärkten Bemühen um eine breitere und qualitativ bessere Bildung weiterhin die Bekämpfung der Armut. Eine Verlangsamung des Wirtschaftswachstums und weltweit ansteigende Lebensmittelpreise können erneut das soziale Konfliktniveau in Lateinamerika anheben und in der Folge die Akzeptanz der Demokratie als Regierungsform aushöhlen.
Daneben gehört die Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit in vielen Staaten zu den zentralen Herausforderungen, in einigen Ländern - etwa in Kolumbien, in Ansätzen auch in Guatemala oder Teilen Mexikos - hat der Staat sogar sein Gewaltmonopol verloren. Eng damit verknüpft ist das Drogenproblem, das ohne positive Anreize zum Anbau alternativer Produkte und ohne einen entscheidenden Rückgang der Nachfrage nicht zu lösen ist, wobei sich das Nachfrageproblem schon lange nicht mehr auf die entwickelten Industrieländer beschränkt, sondern Lateinamerika selbst einbezieht.
Wirtschaftliche Aussichten
Lateinamerika hat sich in den vergangenen Jahren wirtschaftlich erholt und weist seit 2004 hohe Wachstumsraten auf. Viele lateinamerikanische Volkswirtschaften profitieren von der großen Nachfrage nach Rohstoffen, vor allem aus Asien. Kann dieser von außen induzierte Wachstumsschub in eine nachhaltige Entwicklungsdynamik überführt werden? Bleibt Lateinamerika auf die Rolle des Rohstoffexporteurs reduziert, oder gelingt es, auch in Zukunftsbranchen Fuß zu fassen? Wird der Ressourcenreichtum einzelner Länder für eine auch langfristig tragfähige Wachstumsstrategie eingesetzt, oder verschwinden die Erlöse aus dem Verkauf von Rohstoffen - wie häufig in der Vergangenheit - weitgehend in privaten Taschen oder werden von den Regierungen für die kurzfristige Mobilisierung von politischem Rückhalt eingesetzt?
Derzeit stagnieren die wirtschaftlichen Integrationsprozesse in der Region überwiegend, Kooperationspotenziale werden unzureichend ausgeschöpft. Insgesamt orientieren sich die meisten lateinamerikanischen Staaten wirtschaftlich immer stärker über die Region hinaus, was den regionalen wirtschaftlichen Zusammenhalt schwächt. Der aktuelle Nachfrageboom nach lateinamerikanischen Rohstoffen und Agrarprodukten verstärkt diese Tendenz. In gewisser Weise hat die bessere Einbindung Lateinamerikas in die internationale Wirtschaft und die Prozesse der Globalisierung die Anreize für eine verstärkte regionale oder subregionale Zusammenarbeit geschwächt.
Während eine baldige politische Einigung des Kontinents angesichts der zunehmenden Differenzen zwischen den Staatschefs unwahrscheinlich erscheint, macht die praktische Integration hingegen Fortschritte. So sind einige Infrastrukturprojekte vorangeschritten, wie beispielsweise die Planung des Straßenbauprojektes transoceánica, das über Brasilien, Bolivien und Chile eine Verbindung von der Pazifik- zur Atlantikküste schaffen soll. Durch den Bau transnationaler Straßen, die Verbindung der Telekommunikationsnetze sowie den Aufbau einer gemeinsamen Energie- und Stromversorgung kann die Basis für eine weiterreichende soziale und wirtschaftliche Integration des Kontinents gelegt werden. Besonders der Energiesektor stellt ein vielversprechendes Kooperationsfeld dar. Im Unterschied zu vielen anderen Wirtschaftsbereichen, in denen die lateinamerikanischen Staaten auf dem Weltmarkt miteinander konkurrieren, ergänzen sich Angebot und Nachfrage im Energiesektor sehr gut, denn die Öl- und Gasvorkommen Lateinamerikas sind überaus ungleich auf die Länder der Region verteilt.
Europa kann bei der Verbesserung der Infrastruktur ein wichtiger Partner für Lateinamerika sein. Gemeinsame Interessen und Herausforderungen bestehen auch im Energiesektor und beim Klimaschutz, wobei das ganze Spektrum möglicher Energieträger von der Atomenergie über fossile Brennstoffe bis hin zu Bioenergie und anderen erneuerbaren Energien (Windkraft, Sonnenenergie) einbezogen werden kann.
Internationale Handlungsspielräume
Die Veränderungen in den Handelsströmen und in der wirtschaftlichen Bedeutung verschiedener Weltregionen haben die Position Lateinamerikas in der internationalen Politik verbessert und neue Handlungsspielräume eröffnet. Allerdings haben in den vergangenen Jahren auch zwischenstaatliche Konflikte in Lateinamerika deutlich zugenommen. Es scheint, als habe der wirtschaftliche Erfolg und der größere außenpolitische Handlungsspielraum nicht die Gemeinsamkeiten gestärkt, sondern Zwietracht gesät. Einzelne lateinamerikanische Staaten erlauben sich mittlerweile den Luxus, Konflikte um die regionale Führerschaft und zwischen konkurrierenden Wirtschaftsmodellen offen auszutragen, die Außenpolitik stärker ideologisch auszurichten und alte Grenzkonflikte neu zu beleben.
Während Lateinamerika in Zeiten der Krise augenscheinlich eher zusammenrückt, verstärken sich in Zeiten des Aufschwungs die zentrifugalen Kräfte und der Hang der lateinamerikanischen Regierungen zu Alleingängen. Statt der Kooperationspotenziale haben die Konfliktpotenziale zugenommen. Lateinamerika spricht nach außen mit vielen Stimmen. Gleichwohl bleibt es - zumindest was die zwischenstaatlichen Beziehungen betrifft - im internationalen Vergleich ein friedlicher Kontinent.