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Demokratien auf schwachem sozialen Fundament | Lateinamerika | bpb.de

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Demokratien auf schwachem sozialen Fundament

Mariana Llanos Detlef Nolte Anika Oettler Detlef Nolte / Anika Oettler / Mariana Llanos

/ 28 Minuten zu lesen

Boliviens Präsident Evo Morales, links, und Venezuelas Präsident Hugo Chavez tragen Kokablätter als Halsketten während sie das Gebäude eines thermoelektrischen Kraftwerk einweihen in der Stadt Entre Rios, Bolivien. (© AP)

Demokratisierung und demokratische Defizite

Von Detlef Nolte

Waren die 1970er Jahre eine Periode, in der in Lateinamerika Militärregime dominierten, so können die 1980er Jahre als Dekade der Demokratisierung bezeichnet werden. Ab 1978 (Dominikanische Republik) etablierten sich in immer mehr Staaten demokratisch legitimierte Regierungen (Ecuador 1979, Bolivien 1979/1982, Peru 1980, Honduras 1982, Argentinien 1983, Brasilien 1985, Uruguay 1985, Panama 1989, Paraguay 1989 sowie Chile 1990). Mit dem demokratischen Machtwechsel in Nicaragua (1990) und den Friedensschlüssen in El Salvador (1992) und Guatemala (1996), die die Bürgerkriege in Zentralamerika beendeten, wurde der Demokratisierungsprozess abgeschlossen.

Einen Rückschlag gab es in Peru unter Alberto Fujimori (1990-2000), der zwar demokratisch gewählt wurde und sich zeitweilig großer Popularität erfreute, während seiner Präsidentschaft aber vorübergehend das Parlament auflöste, die Justiz gleichschaltete und für massive Menschenrechtsverletzungen der Sicherheitsorgane verantwortlich war. Nach Wahlmanipulationen und Korruptionsskandalen floh er im Jahr 2000 nach Japan. 2005 wurde er bei der Einreise nach Chile verhaftet und später an Peru ausgeliefert. Dort wird ihm zur Zeit (2008) der Prozess gemacht.

In Lateinamerika blieb nur Kuba von den Demokratisierungsprozessen der 1980er und 1990er Jahre unbeeinflusst. Die Einparteienherrschaft wurde auch nach dem Ausscheiden Fidel Castros (2006) nicht angetastet. Sein Nachfolger und jüngerer Bruder Raúl Castro hat zwar einen schrittweisen wirtschaftlichen Reformprozess in Gang gesetzt und mehr Spielräume für Diskussion und Kritik innerhalb der sozialistischen Ordnung gefordert, schließt einen Übergang zu einer Mehrparteien-Demokratie westlicher Prägung aber aus.

Krisen und Reformen

Viele der neuen demokratischen Regierungen sahen sich mit massiven wirtschaftlichen Problemen konfrontiert, die teilweise ein Vermächtnis der vorausgegangenen Militärregime, teilweise eine Folge der Verschuldungskrise waren. Zur Problembewältigung wurden in fast allen lateinamerikanischen Staaten in den 1990er Jahren neoliberale Reformen eingeleitet. Diese gingen - wie etwa in Argentinien, Brasilien und Peru - häufig mit einer Machtkonzentration in der Exekutive einher, weil sich nur so Reformen durchführen ließen, die aufgrund ihrer sozialen Folgewirkungen (Verlust von Arbeitsplätzen in Staatsbetrieben oder im öffentlichen Sektor) unpopulär waren. Zugleich begünstigte die Krisenkonstellation das Aufkommen von politischen Außenseitern, die zunächst über keine große parteipolitische Basis verfügten. So gewann 1989 mit Carlos Menem ein relativ unbekannter Provinzpolitiker die argentinischen Präsidentschaftswahlen. Im Jahr 1990 war der bereits erwähnte Sohn japanischer Einwanderer, Alberto Fujimori, in Peru erfolgreich. Die Partei von Fernando Collor de Mello verfügte zwar über weniger als zehn Prozent der Sitze im brasilianischen Parlament, er wurde aber bei seinem Wahlsieg im Jahr 1989 vom wichtigsten Medienkonzern des Landes unterstützt und als ein neues Gesicht in der Politik vermarktet.

Die sozialen Auswirkungen von wirtschaftlichen Krisen und Reformen schwächten viele vormals starke Parteien, führten zum Aufkommen neuer Parteien und bewirkten auf diese Weise den Umbruch ganzer Parteiensysteme (etwa in Venezuela, Kolumbien, Peru und Bolivien). Teilweise war dies eine Folge des Versagens der politischen Elite, teilweise gelangten Gesellschaftsgruppen zu politischem Bewusstsein und begannen sich zu organisieren, die bisher vom politischen Prozess weitgehend ausgeschlossen waren - wie beispielsweise die indigene Bevölkerung.In anderen Ländern haben sich relativ stabile Parteiensysteme herausgebildet, so in Chile, Uruguay, El Salvador oder auch in Mexiko, wobei sich die Gewichte zwischen den Parteien verschieben können. Insgesamt sind in Lateinamerika seit der Rückkehr zur Demokratie mehr Parteien in den Parlamenten vertreten. Dies erschwert tendenziell das Regieren, da diese Parteien im Gesetzgebungsprozess berücksichtigt werden müssen.

Verallgemeinernd lässt sich feststellen, dass die lateinamerikanischen Parteien eher Wähler- als Mitgliederparteien sind. Ihre Aktivitäten beschränken sich weitgehend auf den Wahlkampf. Die Mitgliedschaft ist häufig wenig formalisiert, Mitgliedsbeiträge werden nur selten eingezogen. Wichtiger für die Finanzierung der Politik sind private Spenden und staatliche Gelder. Nach dem Wahlsieg eines Präsidentschaftskandidaten muss in der Regel der engere Kreis seiner Anhänger mit Posten belohnt werden, was die Herausbildung einer effizienten staatlichen Verwaltung erschwert. Die Mehrzahl der Parteien ist auf einzelne Führer fixiert, teilweise konkurrieren aber auch innerparteiliche Strömungen miteinander. Die Parteiprogrammatik spielt eine geringe Rolle, trotzdem lassen sich die meisten Parteien auf einer Links-Rechts-Skala verorten. Die Fraktionsdisziplin variiert, in vielen Parteien ist sie jedoch sehr hoch (etwa in den chilenischen und brasilianischen Parteien), da die Partei- oderFraktionsführer über die politische Zukunft der Abgeordneten entscheiden. Eine wachsende Zahl von Parteien nominiert ihre Kandidaten für das Präsidentenamt nach US-amerikanischem Vorbild mittels parteiinterner Vorwahlen. In Meinungsumfragen erhalten die Parteien durchgehend äußerst niedrige Vertrauenswerte, trotzdem sind sie unverzichtbar für die Verfestigung der lateinamerikanischen Demokratien.

Diese sind bis heute krisenanfällig, es lässt sich kein eindeutiger Trend zu einer qualitativen Verbesserung der demokratischen Institutionen feststellen. Im Zeitraum 1990-2005 wurden insgesamt 35 große politisch-institutionelle Krisen (Staatsstreiche, vorzeitige Rücktritte von Präsidenten) für Lateinamerika registriert, in 19 Fällen war das Militär beteiligt.

Denn auch nach dem Übergang zur Demokratie entzog sich das Militär, die zentrale Stütze der vorherigen autoritären Regime, lange Zeit der zivilen Kontrolle. In Einzelfällen, etwa in Argentinien und Chile, kam es zu Befehlsverweigerungen oder offenen Drohungen gegen die demokratischen Regierungen. In Peru ließ 1993 die Armee Panzer durch die Straßen der Hauptstadt Lima rollen, um Untersuchungen wegen schwerer Menschenrechtsverletzungen zu unterbinden. In Chile versetzte 1991 und 1993 General Pinochet die Truppen in Alarmbereitschaft, als er seine Position durch die neue zivile Regierung bedroht sah.

Ab der Mitte der 1990er Jahre verlor in der Mehrzahl der lateinamerikanischen Staaten das Militär an Bedeutung und Macht. Vor dem Hintergrund neuer Bedrohungen (etwa durch Terrorismus), angesichts der Notwendigkeit von Umwelt- und Ressourcenschutz sowie ausgehend von polizeilichen Defiziten bei der Bekämpfung der Gewaltkriminalität zeigen sich jedoch seit einigen Jahren Tendenzen eines erneuten innenpolitischen Machtzuwachses der Streitkräfte. In Meinungsumfragen gehören die Streitkräfte zu den Institutionen, die von den Bürgern die höchsten Vertrauenswerte erhalten.

QuellentextVertrauen in die Demokratie

Das Latinobarometer führt in Anlehnung an das von der Europäischen Union finanzierte Eurobarometer seit Mitte der 1990er Jahre jedes Jahr eine Meinungsumfrage in allen lateinamerikanischen Ländern durch. Die Bevölkerung wird zu ihrer Einstellung zur Demokratie und zu den politischen Institutionen, aber auch zu aktuellen politischen Themen befragt. Die Umfragen und ihr Aussagewert sind in der Wissenschaft nicht unumstritten, sie stellen aber die einzigen kontinuierlichen Befragungen dar, die gleichzeitig in mehreren lateinamerikanischen Ländern durchgeführt werden. Die Umfragen werden überwiegend aus öffentlichen Geldern finanziert.
Die Meinungsumfragen des Latinobarometers dokumentieren, dass nur eine Minderheit der lateinamerikanischen Bevölkerung mit der Funktionsweise der Demokratie in ihren Ländern zufrieden ist, wobei beachtliche Schwankungen in den Zustimmungswerten und große Unterschiede zwischen den Ländern existieren. Nimmt man das Vertrauen in politische und gesellschaftliche Institutionen, so erhielt in den vergangenen Jahren die Katholische Kirche die höchsten Vertrauenswerte (2007: 74 Prozent), gefolgt vom Fernsehen (47 Prozent), den Präsidenten (43 Prozent) und den Streitkräften (51 Prozent). Betrachten wir die politischen Akteure, so sind es die politischen Parteien, die besonders kritisch bewertet wurden (2007: 20 Prozent). Auch die Parlamente genossen wenig Vertrauen (29 Prozent), die Werte lagen deutlich unter denen der Präsidenten. Bei der Frage, welches politische System sie vorziehen, entschieden sich die Lateinamerikaner in ihrer Mehrheit für die Demokratie, wobei die Zustimmung Schwankungen unterlag. In Zeiten wirtschaftlicher Krisen nahm der Rückhalt für die Demokratie in der Regel ab. Dass immer weniger Menschen in Lateinamerika die Demokratie unterstützen, bedeutet jedoch nicht, dass der Anteil der Anhänger autoritärer Lösungen steigt. Zugenommen hat vor allem der Anteil der Indifferenten. Die Zukunft der Demokratie hängt davon ab, ob es den Demokraten gelingt, die Gruppe der Ambivalenten zu überzeugen.

Detlef Nolte

Grad der Zufriedenheit mit der Funktionsweise der Demokratie

Die politischen Eliten Lateinamerikas reagierten auf die Krisen und den Vertrauensverlust mit politischen Reformen, in nahezu allen Ländern des Kontinents wurden die Verfassungen in Teilen oder in ihrer Gesamtheit reformiert. Eine Studie registriert für den Zeitraum 1985-2004 mehr als 50 Wahlrechtsreformen. Dazu kam es zwischen 1978 und 2008 zu circa 300 Verfassungsreformen, bis 2006 wurden elf neue Verfassungen verabschiedet. In einigen Fällen haben die Reformen die Funktionsfähigkeit des politischen Systems verbessert und zu einer Demokratisierung geführt, in anderen Fällen erwies sich die Hoffnung als trügerisch, allein aufgrund einer Reform der Verfassung die sozialen und politischen Probleme des Landes lösen zu können. Im Jahr 2007 tagten in Bolivien und Ecuador verfassunggebende Versammlungen, in Venezuela wurde eine umstrittene, von der Regierung initiierte Verfassungsreform von der Bevölkerung knapp in einer Volksabstimmung abgelehnt.

Demokratische Defizite manifestierten sich weiterhin im Hinblick auf die Sicherung der Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger und bei der wechselseitigen Kontrolle der politischen Gewalten. Trotz umfassender Justizreformen und trotz neuer Institutionen zum Schutz der Bürgerrechte (Menschenrechtsbeauftragte, Ombudsmänner) bestimmt in der Mehrzahl der lateinamerikanischen Staaten immer noch der soziale Status die Chancen, sein Recht vor Gericht einklagen zu können, und das Risiko, für Vergehen belangt zu werden. Die weit verbreitete Straflosigkeit - einflussreiche Täter können sich der Strafverfolgung entziehen - und die Ineffizienz der Polizei - die Mehrzahl der Verbrechen wird nicht aufgeklärt - tragen zu hohen Kriminalitätsraten bei. Gerade Politiker entziehen sich weitgehend einer rechtlichen Verantwortung bei Straftaten und versuchen immer wieder, Einfluss auf die Justiz zu nehmen. Besonders ausgeprägt ist dies in Argentinien. Dort erhöhte zunächst Carlos Menem (1989-1999) die Zahl der Richter am Obersten Gerichtshof, um sich eine gefügige Justiz zu schaffen, worauf sein siegreicher Gegenkandidat bei den Präsidentschaftswahlen 2003, Néstor Kirchner, sich gleich zu Beginn seiner Amtszeit bemühte, die verbliebenen Richter aus der Menem-Ära aus ihren Ämtern zu drängen. Aber auch in anderen lateinamerikanischen Ländern versuchen die Politiker, sich unbequemer Richter zu entledigen und die Rechtsprechung zu beeinflussen.

QuellentextDas Problem der Straflosigkeit in Brasilien

Impunidade liegt vor, wenn eine Person nicht bestraft wird, obwohl sie eine im rechtlichen Sinne strafwürdige Handlung begangen hat. Impunidade ist die Nicht-Verhängung einer Strafe und ebenso der Nicht-Vollzug einer verhängten Strafe. Impunidade bedeutet daher letztlich Straflosigkeit.
In Brasilien ist die Straflosigkeit ein bekanntes Phänomen, das unmittelbar durch das Justizsystem und die Politik gefördert wird. In der breiten Öffentlichkeit wird die Impunidade zwar als skandalös empfunden, [...] doch Politik und Justiz haben bislang noch keine Schritte unternommen, um die Impunidade wirksam zu verhindern. [...]
Am 12. September [2007] wurde Senatspräsident Renán Calheiros [...], ein wichtiger Verbündeter von Präsident Lula da Silva, von seinen Kollegen in einer geheimen Plenarsitzung des Senats, über die nicht einmal ein Protokoll erstellt werden durfte, von dem Vorwurf des Verstoßes gegen die Standesregeln des Senats freigesprochen. Im Frühjahr war bekannt geworden, dass ein Bauunternehmen in den vergangenen Jahren monatliche Alimente für eine uneheliche Tochter des Senators auszahlte, insgesamt mehrere hundertausend Reais. Der Verdacht lag nahe, dass sich das Unternehmen für Vermittlungsdienste des Senators erkenntlich zeigte. Calheiros aber bestritt die Vorteilsnahme und präsentierte in den vergangenen Wochen und Monaten mehrere Versionen über seine Einnahmen, sein Vermögen und seine Bankgeschäfte. Die Behauptungen [...] erwiesen sich wiederholt als falsch und lügenhaft und die von ihm präsentierten Belege zum Teil als gefälscht. Seine Amtsgewalt nutzte er zur Verschleppung des Verfahrens, doch die Ethikkommission des Senats hat ihn wegen Verstoßes gegen die Standesregeln des Hauses verurteilt. Dieses Urteil bedurfte einer Bestätigung durch das Plenum des Senats. Bei einer Verurteilung hätte er sein Mandat und für acht Jahre das passive Wahlrecht verloren. Calheiros selbst veranlasste die geheime Sitzung des Senatsplenums, um seine Kollegen, die für ihn stimmten, nicht dem Spott der Öffentlichkeit auszusetzen. 35 Senatoren stimmten für die Verurteilung, 40 stimmten dagegen, sechs enthielten sich der Stimme. Damit ist Calheiros freigesprochen. Die Angehörigen der Regierungsparteien haben für ihn gestimmt und auch Präsident Lula hat sich für ihn eingesetzt. Calheiros kann sein Amt weiter ausüben - das System der Impunidade hat wieder einmal funktioniert. Bestraft wurde eine der zentralen Institutionen der brasilianischen Demokratie; denn das Ansehen und Vertrauen der Brasilianer in das Parlament und ihre Repräsentanten erreicht nach diesem Skandal einen neuen Tiefpunkt. [...]
Impunidade ist seit je her, wie [...] der Fall Renán Calheiros bestätigt, in erster Linie ein Privileg für den Bürger der oberen Schichten. Dieser hat Mittel, nicht gefasst zu werden; wird er gefasst, nicht angeklagt zu werden; wird er angeklagt, nicht verurteilt zu werden; wird er verurteilt, nicht ins Gefängnis zu müssen; und selbst wenn er inhaftiert wird, hat er wahrscheinlich genügend Mittel, durch irgendeine juristische Berufung wieder frei zu kommen. Die untere Klasse allerdings ist der Willkür der Polizei ausgesetzt. [...]

Katharina Riehle, "Impunidade - das Problem der Straflosigkeit in Brasilien", in: Länderbericht Focus Brasilien der Konrad-Adenauer-Stiftung vom September 2007

Politische Linke

In der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts zeichnete sich in den lateinamerikanischen Ländern ein Trend zur Wahl populistischer und linker Politiker ab, die sich allerdings programmatisch sehr unterscheiden. Charakteristisch für diese Gruppe von Politikern ist ein auf ihre Person bezogener Politikstil. Sie versuchen in der Regel, etwa durch die Schaffung neuer Parteien, eine Unterstützungsbasis von oben aufzubauen. Zugleich definieren sie diese Basis als soziale Bewegung, die über die Partei hinaus eine Mehrheit des Volkes umfasst. Dem Bewegungscharakter entspricht auch ein Freund-Feind-Denken, das sich häufig gegen die alte politische Führungsschicht und deren Sünden (zum Beispiel Korruption) richtet. Sie bevorzugen einen plebiszitären Führungsstil, der sich über die Medien - etwa das mehrere Stunden dauernde sonntägliche Fernsehprogramm des venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez, "Aló Presidente" - direkt an das Volk wendet oder es durch Referenden an Entscheidungen beteiligt. Zugleich versuchen sie Elemente der Gewaltenkontrolle (in der Legislative und in der Justiz) auszuhebeln. Die lateinamerikanischen Präsidialsysteme erleichtern einen populistischen Regierungsstil. Wirtschaftspolitisch treten die neuen linken Politiker für eine stärkere Kontrolle des Staates über die Wirtschaft und teilweise auch für eine Nationalisierung ausländischer Unternehmen ein. Damit knüpfen sie an ältere nationalpopulistische Strömungen in Lateinamerika an (etwa den argentinischen Peronismus der 1940er und 1950er Jahre) und unterscheiden sich von Populisten der 1990er Jahre (etwa Carlos Menem in Argentinien), die neoliberale Reformen durchgeführt hatten.

QuellentextPolitik und Medien

"Gebt mir einen Balkon, und das Land gehört mir" - dieser Ausspruch wird José María Velasco Ibarra zugeschrieben, der die Ecuadorianer von 1934 an fünf Mal bewegen konnte, ihn zum Präsidenten zu wählen. Inzwischen haben Radio und Fernsehen den Balkon als Propaganda-Plattform ersetzt. Der durchschnittliche Lateinamerikaner kauft, statistisch gesehen, nur drei Zeitungen im Monat und weniger als ein Buch jährlich. Nur jeder Zehnte hat Internet-Zugang. Aber ein Radio oder ein Fernseher läuft noch in der entlegensten Anden- oder Amazonas-Kneipe.
Und so machen sich in Lateinamerika die Staatschefs - nicht nur die linken - die neuen Medien zusehends zunutze. [...] Paradebeispiel für die neue Art des Umgangs mit den Medien ist Hugo Chávez, der jeden Sonntag bis zu acht Stunden lang auf seine Landsleute einredet. "Aló, Presidente" kommt immer aus verschiedenen Orten, die als Belege für die Erfolge der Regierungspolitik angeführt werden. Dabei präsentiert Chávez persönlich die Sendung - eine Ausnahme. Andere Staatschefs geben sich eher als Gast. [...] In Brasilien hat Staatschef Luiz Inácio Lula da Silva eine kurze Sendung namens "Kaffee mit dem Präsidenten".
In Ecuador will der neue, linke Präsident Rafael Correa die Pleite gegangene Traditionszeitung Telégrafo künftig als Staatsblatt herausgeben. - Evo Morales, sein ebenfalls linker Kollege in Bolivien, hat gerade 30 Basis-Radiostationen zum Netzwerk namens "Neues Vaterland" zusammengeschlossen. Neben dem Staatsradio Illimani soll es den privaten Medien Konkurrenz machen, vor allem in ländlichen Regionen, wo das Informationsangebot dürftig ist. Morales beteuert, die neue Kette diene dem Volk, das nun eine Alternative zu den Medien der "Elite" habe, und so begründet auch Correa die Verwandlung des Telégrafo. So schnell auch die Grenze zu undemokratischer Beeinflussung der Presse überschritten ist - dass die Regierungen, linke zumal, den traditionellen Meinungsmachern eine Alternative entgegensetzen möchten, ist verständlich. Zwar gängelt Chávez die Presse, wie der Konflikt um die oppositionelle Fernsehstation RCTV zeigt. Doch gehören in Venezuela, anders als in Deutschland,die Medien zu großen Industriekonzernen. Und wenn der Verleger zum Beispiel auch noch Zementwerke besitzt, werden die Redakteure kaum die Umweltsünden der Zementindustrie aufdecken dürfen: Die traditionellen Medien-Imperien haben zweifellos Macht.
So hat sich in Brasilien noch keine Regierung mit dem Globo-Konzern anlegen wollen, in Peru gehört die einflussreiche Zeitung El Comercio einer der alten, mächtigen Familien. Die Privatisierungswelle der neunziger Jahre hat den Einfluss der Einflussreichen noch verstärkt. Der Anteil an staatlichen Medien an der Berichterstattung ist gesunken.
Ob die Qualität gestiegen ist, darf man bezweifeln - jedenfalls wenn man Qualität an den Entwicklungszielen bemisst, die sich gerade die linken Staatschefs auf die Fahnen geschrieben haben. Veja, Brasiliens wichtigstes Nachrichtenmagazin, treibt zwar auch kritischen, investigativen Journalismus. Aber die Zielgruppe aller Nachrichten-Magazine ist die weiße, gebildete Mittelschicht, deren Interessen, deren Lebensstil, deren Konsumverhalten die Themenauswahl bestimmen. Die Hälfte der 180 Millionen Brasilianer hat dunkle Haut und wenig Geld - wer Veja durchblättert, könnte denken, diese Brasilianer und ihre Probleme gäbe es gar nicht.

Wolfgang Kunath, "Kaffee mit dem Präsidenten", in: Frankfurter Rundschau vom 16. August 2007

Das in der Presse verbreitete Bild eines Linksrucks in Lateinamerika spiegelt nur teilweise die Realität wider. So gewannen in Zentralamerika häufig Politiker aus dem Mitte-Rechts-Spektrum die Präsidentschaftswahlen. Der Präsident mit den zeitweilig höchsten Zustimmungsraten in Lateinamerika, der Kolumbianer Álvaro Uribe (2002-2010), ist dem konservativen Lager zuzurechnen. Und es gibt auch konservative Reformer wie den Mexikaner Vicente Fox, er beendete eine Zeitspanne von 71 Jahren, in der der PRI (Partido Revolucionario Institucional) in Mexiko die Präsidenten gestellt hatte, und trug während seiner Amtszeit (2000-2006) zu einer weiteren Demokratisierung des politischen Systems bei. In anderen Ländern wie etwa in Chile muss die Wahl linker Präsidenten als Zeichen der Rückkehr zur demokratischen Normalität angesehen werden.

Parallel zum Aufstieg linker Politiker in Lateinamerika zeigte sich ein Trend zum Wiedererstarken des Staates in der Wirtschaft. Die Privatisierungswelle der 1990er Jahre wurde im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts gestoppt, noch bestehende Staatsunternehmen, vor allem im Energiesektor, wurden gestärkt. In einigen Ländern, vor allem in Bolivien und Ecuador, gewannen indigene Gruppen an Einfluss in der Politik.

Quellentext"Linksruck" am Beispiel Venezuela

Am Anfang stand ein klassischer Militärputsch: In der Nacht des 4. Februar 1992 versuchen Unteroffiziere der venezolanischen Armee den Präsidentenpalast zu erstürmen. Und scheitern. Ihr Anführer übernimmt die Verantwortung für den Aufstand und erkennt seine Niederlage an. War der Putschversuch militärisch auch ein Fiasko, so gab er doch den Startschuss für die spektakuläre politische Karriere des Hugo Chávez vom verhafteten Anführer einer Militärrevolte zum Präsidenten Venezuelas und einem global player auf der Bühne der Weltpolitik.
Nur zwei Jahre nach dem Aufstand begnadigte die Regierung den Inhaftierten in einem Versuch, die Unterstützung der linken Kräfte im Land zu gewinnen. Doch Hugo Chávez selbst wurde nun zum Führer der linken Kräfte und propagierte seine Vision eines von Elitenkorruption, Neoliberalismus und US-Hörigkeit befreiten Venezuelas. Diesmal wählte er den Weg über die Wahlurnen und wurde 1998 in demokratischer Wahl mit 56 Prozent der Stimmen zum Präsidenten gewählt.
Im Rückgriff auf den Helden der lateinamerikanischen Unabhängigkeitskämpfe vor 200 Jahren, Simón Bolívar, nannte Hugo Chávez sein Projekt "Bolivarische Revolution". Ziel ist, so Chávez, ein "Sozialismus des 21. Jahrhunderts". Ökonomische Grundlage ist der staatliche Ölkonzern PDVSA, der angesichts der auf Rekordhöhe geschnellten Weltmarktpreise für Erdöl so viele Petro-Dollars in die Taschen des Staates spült, dass dieser über reichliche Finanzmittel für soziale Vorhaben und außenpolitische Ambitionen verfügt. Politisch will Chávez nicht nur den zuvor ausgeschlossen Bevölkerungsschichten neue Beteiligungschancen eröffnen, sondern auch mit zunehmend autoritären Zügen seine Macht sichern. Ein vorläufiger Höhepunkt war erreicht, als Chávez im Dezember 2007 das Volk zum Referendum über eine neue, sozialistische Verfassung rief, die unter anderem die uneingeschränkte Wiederwahl des Präsidenten ermöglichen, die Autonomie der Zentralbank abschaffen und die Rolle des Militärs im politischen Leben weiter stärken sollte. Diesmal verlor Chávez an den Wahlurnen: Trotz massiver Kampagnen der Regierung verweigerte ihm eine Mehrheit der Bevölkerung bei diesem Schritt die Gefolgschaft.
Außenpolitisch hat Chávez ein ambivalentes, von beiderseitigem Misstrauen und Konkurrenz geprägtes Verhältnis zu den moderaten Links-Regierungen in Brasilien und Chile. Doch in Bolivien kam mit dem spektakulären Wahlsieg des Indígenas und Führers der Coca-Bauern-Gewerkschaft Evo Morales im Jahr 2006 eine Bewegung an die Macht, die genauso wie Chávez einen grundsätzlichen Umbruch der etablierten Ordnung verspricht. Im Jahr 2007 schließlich kehrte in Nicaragua der ehemalige Revolutionsführer Daniel Ortega per Wahlsieg an die Regierung zurück, und in Ecuador triumphierte der Wirtschaftswissenschaftler Rafael Correa mit einer offenen Kampfansage an das politische Establishment des Landes. Das Wort von Lateinamerikas "Linksruck" machte die Runde.
Für all diese Projekte bietet sich Venezuela als politischer Partner an, der seinen Ölreichtum großzügig in wirtschaftliche Unterstützung im Namen der lateinamerikanischen Integration ummünzt. Doch Anstoß und Ursache zum "Linksruck" in Lateinamerika ist die aktuelle venezolanische Regierung nicht. Die neuen politischen Prozesse in Bolivien, Ecuador, Nicaragua und Venezuela - ganz zu schweigen von Lateinamerikas "alter Linken", dem sozialistischen Kuba - sind vielmehr ein Ergebnis der vorausgegangenen Politik in diesen Ländern, die die soziale Kluft innerhalb der Gesellschaften eher verschärfte als zu ihrer Überwindung beitrug.

Bert Hoffmann

Die Politik blieb jedoch krisenanfällig, häufig wurden Präsidenten nach Massenprotesten zum vorzeitigen Rücktritt gezwungen, zuletzt Fernando de la Rúa in Argentinien (2001), Gonzalo Sánchez de Lozada in Bolivien (2003) sowie Lucio Gutiérrez in Ecuador (2005). In Argentinien riefen die Demonstranten "¡que se vayan todos!" - alle sollen verschwinden -, um ihre Ablehnung der politischen Klasse auszudrücken.

QuellentextGemäßigte Linke in Chile und Brasilien

Mit Ricardo Lagos' Sieg in den Wahlen 2000 gelangte 27 Jahre nach dem Putsch gegen Salvador Allende und der anschließenden blutigen Militärdiktatur Augusto Pinochets erstmals wieder ein Vertreter der Sozialistischen Partei in Chile an die Regierung.
Die Programmatik der Sozialisten hatte sich inzwischen jedoch verändert: Sie steuerten nun einen sozialdemokratischen Kurs, der ein unternehmerfreundliches Wirtschaftsklima als unverzichtbar für Wachstum sah. Wirtschaftlich wie politisch war dies so erfolgreich, dass 2006 die Sozialistin Michelle Bachelet zu Lagos' Nachfolgerin gewählt wurde. Sie ist die erste Präsidentin des Landes und eine der wenigen Frauen im höchsten Staatsamt Lateinamerikas. Die symbolische Bedeutung ihrer Wahl geht aber darüber hinaus: Bachelets Vater war während der Pinochet-Diktatur inhaftiert und gefoltert worden, sie selbst mit ihrer Mutter ins Exil in die DDR geflohen. Dass ihr Amtsantritt weder traumatische Konflikte in der Gesellschaft aufbrechen ließ noch Drohgebärden des Militärs auslöste, sondern als Teil politischer Normalität erlebt wurde, ist vielleicht der sichtbarste Beweis für die Stabilität, die Chiles Demokratie inzwischen erreicht hat.
Auch in Brasilien hat sich die Demokratie seit 1985 gefestigt und Politiker an die Regierung gebracht, die einst zur linken Opposition gegen die Diktatur gezählt hatten. Der 1994 zum Präsidenten Brasiliens gewählte Fernando Henrique Cardoso etwa war einer der prominentesten kritischen Sozialwissenschaftler des Kontinents, bevor er in die Politik wechselte. Seine Popularität, die ihm auch die Wiederwahl 1998 bescherte, verdankte er weniger klassisch "linken" Anliegen sozialer Umverteilung als vielmehr seinen Erfolgen bei der Inflationsbekämpfung und wirtschaftlichen Stabilisierung.
Cardoso im Amt folgte 2002 eine andere weit über Brasilien hinaus prominente Symbolfigur der neuen Linken, Luiz Inácio da Silva, genannt "Lula". Aus ärmsten Verhältnissen stammend, absolvierte Lula nur wenige Schuljahre. Früh musste er als Straßenverkäufer und Schuhputzer zum Lebensunterhalt seiner Familie beitragen. Staatspräsident zu werden, war für jemanden aus einem solchen sozialen Umfeld eigentlich undenkbar. Mit 19 verlor Lula als Metallarbeiter in den Autofabriken um São Paulo einen Finger bei einem Arbeitsunfall. Er wurde Gewerkschaftsführer und noch unter der Diktatur war er einer der Mitbegründer einer neuen linken Partei, der Arbeiterpartei (Partido dos Trabalhadores, PT). Mit der Demokratisierung avancierte Lula zum führenden Oppositionspolitiker im Land. Im vierten Anlauf, im Jahr 2002, gewann er schließlich die Präsidentschaftswahlen - inzwischen nicht mehr als Arbeiterführer mit radikaler Programmatik, sondern als sozial engagierter, aber auf politischen Kompromiss und wirtschaftlichen Pragmatismus bedachter Politiker in Schlips und Anzug, der auch die Stimmen der Mittelschichten für sich gewann.
Während ein Teil seiner Anhänger ihm Verrat an den alten Idealen vorwirft, feiern viele andere ihn als Vorreiter einer modernen, sozialdemokratischen Linken in der Dritten Welt. Das Versprechen der PT auf einen anderen Politikstil, der mit der Käuflichkeit und Korruption des Parteienestablishments bricht, hat durch zahlreiche Skandale schwer Schaden genommen. Gestützt auf eine positive Wirtschaftsentwicklung und die Ausdehnung staatlicher Sozialprogramme blieb Lula in Brasilien dennoch so populär, dass er 2006 wiedergewählt wurde.

Bert Hoffmann

Gesellschaftliche Probleme

Zu den zentralen Herausforderungen der lateinamerikanischen Demokratien gehören die immer noch weit verbreitete Armut und die großen Einkommensunterschiede. Obgleich im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts der Anteil der Armen zurückgegangen ist, stellt sich die Frage, ob die Demokratie auf einem derart brüchigen sozialen Fundament funktionieren kann. Soziale Not schafft politische Abhängigkeiten, Stimmen werden gegen Sozialleistungen getauscht. Populistische Politiker, die eine rasche Verbesserung der Situation der Armen versprechen, aber zugleich autoritäre Neigungen zum Machtmissbrauch offenbaren, werden in das Präsidentenamt gewählt.

Soziale Gegensätze und ein schwacher Staat begünstigen die Gewaltkriminalität, was dazu führen kann, dass Teile des Staatsgebietes zu rechtsfreien Räumen werden. In Lateinamerika liegt das Gewaltniveau (Mordraten) deshalb wesentlich höher als in anderen Weltregionen, allerdings mit großen Unterschieden zwischen den Ländern und innerhalb der Länder (Stadt/Land). In Zentralamerika (Guatemala, El Salvador) erreichte das Gewaltniveau in den letzten Jahren teilweise ein höheres Ausmaß als zur Zeit der Bürgerkriege in den 1980er Jahren. Dazu tragen insbesondere die Jugendbanden (maras) und Übergriffe der Sicherheitskräfte bei. In einigen Ländern ist eine Infiltration des organisierten Verbrechens, vor allem des Drogenhandels, oder paramilitärischer Gruppen in die Politik zu beklagen. Die weit verbreitete Korruption in den politischen und wirtschaftlichen Eliten, die durch unterschiedliche internationale Organisationen und Studien dokumentiert wird, untergräbt dasVertrauen der Bürgerinnen und Bürger, begünstigt den Zynismus gegenüber der Politik und gefährdet den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Transparency International veröffentlichte 2007 eine Liste von 180 Ländern, darunter 20 aus Lateinamerika, die nach dem Grad ihrer Korruption (1 = extrem von Korruption befallen, 10 = frei von Korruption) aufgeführt waren. Nur zwei lateinamerikanische Länder konnten sich in der oberen Hälfte (>5,0 Punkte) platzieren: Chile auf Rang 22 und Uruguay auf Rang 25 (zum Vergleich: Deutschland Rang 16, USA Rang 20). Die Hälfte der lateinamerikanischen Länder weist demgegenüber sehr hohe Korruptionswerte (<3,5 Punkte) auf. Schwache Parteien erschweren die Artikulation gesellschaftlicher Interessen im politischen Prozess. Dazu kommt ein geringes soziales Vertrauen gegenüber den Mitbürgern, wodurch ein gemeinsames politisches Handeln erschwert wird.

QuellentextBürokratie und Korruption

[...] Wenn es etwas gibt, was die 34 Nationen und mehr als 500 Millionen Einwohner zwischen dem Rio Grande und Feuerland eint, dann ist es eine kafkaeske Bürokratie. Sie reglementiert sämtliche Lebensbereiche der Latinos und Latinas mit immer absurderen Vorschriften. Einige Beispiele:
Wenn ein Hausbesitzer in Mexiko sein Heim juristisch korrekt verkaufen will, muss er dafür 55 verschiedene Behördengänge absolvieren, die mindestens 226 Tage benötigen. Die dabei anfallenden Gebühren betragen etwas mehr als 6.000 US-Dollar, was dem Preis eines Hauses in den ärmeren Zonen entspricht.
Wenn ein Kleinbäcker in Guatemala Stadt sein Geschäft gemäß allen lokalen und nationalen Vorschriften registrieren lassen will, muss er dafür einen Behördenmarathon über 120 Tage auf sich nehmen und dazu Gebühren über 2.639 US-Dollar entrichten. Das ist deutlich mehr als das übliche Jahreseinkommen eines Kleinunternehmers in dem Maya-Staat.
Elf Jahre dauert in Argentinien das Verwaltungsverfahren, um Land zu kaufen, es ordnungsgemäß ins Register einzutragen und dazu noch eine Baugenehmigung zu erhalten. Dabei fallen 12.592 US-Dollar Gebühren an, mehr als das Dreifache der Prokopfwirtschaftsleistung des Landes. [...] Dieser Hindernislauf hat System. Von übertriebenen Auflagen profitieren vor allem Zollbeamte, Verkehrspolizisten, Angestellte der Sozialversicherung und Politiker, die sich Gefälligkeiten entlohnen lassen. Selbst in dem als wenig korrupt geltenden Costa Rica leisten die Bürger laut einer Studie der nationalen Universität jährlich 18,8 Millionen US-Dollar Schmiergelder (rund 30 Dollar je Familie). [...]
Die Bürokratie ist dabei mehr als ein leidiges Übel, das sich mit einer Gefälligkeitszahlung aus dem Weg räumen lässt. Vergleicht man die Länder Lateinamerikas, fällt eines auf: Besonders umständlich und teuer arbeitet die Staatsverwaltung ausgerechnet in den ärmsten Ländern des Kontinents, so etwa in Haiti, in Bolivien, in Paraguay, in Ecuador oder in Nicaragua. Dort ist es laut Studien der Weltbank besonders kompliziert, Handel zu betreiben, Eigentum zu registrieren, Schulden einzutreiben oder eine Baugenehmigung zu erhalten. [...] Die Folge: [... Es] findet ein großer Teil des Lebens in Lateinamerika außerhalb der Regeln statt [...]. In Peru etwa sind von den schätzungsweise 2,5 Millionen Kleinunternehmen 650.000 legal registriert. Und in Mexiko, der größten Wirtschaftsnation Lateinamerikas, übersteigt die Zahl der im informellen Sektor arbeitenden Menschen längst die Zahl der sozialversicherungspflichtig Angestellten.
Die Folgen für die Menschen sind fatal. Kleinbauern können nicht darauf vertrauen, dass ihr Land wirklich ihnen gehört. Informelle Arbeiter können keine Schutzrechte und keine Rente geltend machen, ganz gleich wie großzügig die Sozialgesetzgebung des Landes sein mag. Und die Millionen von informellen Kleinunternehmern bekommen weder Bankkredite, noch können sie Export betreiben. [...]
Für Mexiko hat der [peruanische] Ökonom [Hernando] de Soto errechnet, dass 94 Prozent aller Unternehmen informell arbeiten, also ohne legale Anerkennung, ohne Eintragung ins Handelsregister und ohne die erforderlichen Genehmigungen. Sie beschäftigen 47 Prozent der arbeitsfähigen Menschen und ernähren 53 Prozent der über 100 Millionen Einwohner des Aztekenlandes. Das Kapital, das die arme Bevölkerungsmehrheit über Jahre erarbeitet, erspart und investiert hat, schätzt de Soto auf 310 Milliarden US-Dollar. Das ist mehr als das Tausendfache der jährlichen Entwicklungshilfe für Mexiko. Doch legal und effizient eingesetzt werden kann das Kapital nicht - wegen bürokratischer Hürden. [...]

Matthias Knecht, "Verloren im Paragrafendschungel", in: Das Parlament vom 14. Januar 2008

Gewalt und Kriminalität

Von Anika Oettler

In Lateinamerika ist Vielfalt die Regel - dies gilt auch für die Gewaltsituation. Die Furcht vor Kriminalität und Gewalt ist von Ort zu Ort verschieden und an unterschiedliche Gewaltformen und Erfahrungsbestände gekoppelt. Meinungsumfragen haben in den vergangenen Jahren gezeigt, dass die Unsicherheit in der Wahrnehmung der Bevölkerung zu einem immer drängenderen Problem geworden ist. In El Salvador, Venezuela und Guatemala wurde 2006 die Kriminalität von mehr als 35 Prozent der Befragten als das größte Problem des Landes angesehen.

Das Alltagsleben ist in mehr oder minder großem Ausmaß von verschiedenen Gewaltformen überschattet. Dazu zählen zunächst "gewöhnliche" Gewaltformen wie Straßenprügeleien und verbale/körperliche Auseinandersetzungen im Straßenverkehr. Ein zweites Bündel von Gewaltformen, das in den vergangenen Jahren verstärkt registriert wurde, verweist auf die Geschlechterordnungen. Gewalt in Partnerschaften, Gewalt gegen Kinder und sexuelle Gewalt sind in Lateinamerika weit verbreitet und auch - aber nicht nur - mit den dominanten Rollenbildern des Machismo (dem übersteigerten Ausleben dominanter Heterosexualität) und des Marianismo (dem Leitbild der aufopferungsvollen jungfräulichen Mutter Maria) verknüpft.

Während Gewalt gegen Frauen und Kinder jahrhundertelang nicht hinterfragt wurde, hat die Frauenbewegung im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts einen Umschwung hervorgerufen, der sich gesetzlich niedergeschlagen und zu einem allmählich verbesserten Anzeigeverhalten geführt hat. In vielen Ländern Lateinamerikas verwenden Frauenrechtsgruppen inzwischen den Slogan ¡Ni una muerta más! (keine weitere Tote!), der aus der mexikanischen Grenzstadt Ciudad Juárez stammt. Dort wurde seit 1993 eine Welle von Frauenmorden registriert, die bis heute weder aufgeklärt noch gestoppt ist. Doch nicht nur in Nordmexiko sind Frauen bedroht. In Guatemala wurden zwischen 2001 und Juni 2006 über 2200 Morde an Mächen und Frauen registriert. Diese Zahlen stellen jedoch lediglich die Spitze eines Eisberges dar.

Während Gewalt gegen Frauen und Kinder sowohl in städtischen als auch in ländlichen Lebensumfeldern zum Alltag gehört, sind andere Gewaltformen vor allem in den Städten, und hier vor allem in den Armutsvierteln, verbreitet. Die Mittel- und Oberschichten versuchen in ganz Lateinamerika, sich durch die Errichtung von Wohlstandsfestungen - umzäunten und abgeriegelten Wohnvierteln - und durch die Einstellung von privatem Sicherheitspersonal vor Gewalt und Kriminalität zu schützen. In anderen Teilen der Städte sieht die Situation zumeist anders aus. Die Bedrohung, ausgeraubt und überfallen zu werden, hängt für viele Stadtbewohner wie ein Damoklesschwert über dem Alltag. Diese Bedrohung hat sich in öffentlichen Räumen (Straßen, Plätzen, öffentlicher Personenverkehr) festgesetzt und ist vor allem dort präsent, wo weder private Sicherheitsdienstleister noch gemeinschaftlich organisierte Sicherheitskomitees für Ruhe und Sicherheit sorgen.

Für Überfälle und Diebstahl sind unterschiedlichste Tätergruppen verantwortlich. In den öffentlichen Debatten um Sicherheit geht es zumeist weniger um verzweifelte Arme und Drogenabhängige als vielmehr um organisierte Formen von Jugendgewalt: Im Brennpunkt des öffentlichen Interesses stehen (organisierte) Straßenkinder und Jugendbanden.

QuellentextKaum eine Perspektive für "mareros"

[...] Die Jungen mit den kahlgeschorenen Köpfen und den Tätowierungen [im honduranischen Kinder- und Jugendgefängnis Tamara] sind Mörder, Räuber, Vergewaltiger. Sie gehören zur M 18, der Mara Dieciocho, einer der beiden bis aufs Blut verfeindeten Jugendbanden Mittelamerikas. Mehr als 35 000 Mann stark sind die Gangs allein in Honduras. [...]
Die Banden teilen ganze "barrios marginales", Armenviertel in Tegucigalpa, San Pedro Sula und anderen großen Städten in Honduras, unter sich auf. [...] Keine Nacht vergeht ohne Territorialkämpfe der Unterabteilungen, der "clikas", keine Nacht ohne Rauschgift- und Waffenhandel, ohne Mord und Totschlag. [...]
Mara - der Begriff wird meist abgeleitet von "marabuntes", den Amazonas-Ameisen, die in Heerscharen über ein Gebiet hereinfallen und alles zerstören. [...] M 18 geht zurück auf die 18. Straße im Stadtteil Rampart in Los Angeles. [...] Als in den achtziger und neunziger Jahren zahllose Bewohner Mittelamerikas vor Armut und Bürgerkrieg in die Vereinigten Staaten flohen, rotteten sich Jugendliche in den Elendsvierteln amerikanischer Städte in Streetgangs zusammen. Sie lernten die mörderische Lektion von Bandenehre, Rauschgift und Gewalt. Als 1996 der amerikanische Kongress das Abschieben straffällig gewordener Nichtamerikaner erleichterte, wurden Hunderttausende deportiert und fanden sich in ihren lateinamerikanischen und karibischen Heimatländern wieder. Die Verhältnisse dort sind kaum besser geworden, und die Banden haben nicht die geringsten Schwierigkeiten beim Rekrutieren neuer Mareros. Das Reservoir allein in Honduras ist groß genug: 350 000 "Kinderarbeiter", dazu Zehntausende entwurzelter Kinder, die auf den Straßen der großen Städte vegetieren, anfällig für den Familienersatz Mara, für [...] das Leben mit Bandensolidarität, [...] Rauschgift und Gewalt.
In Honduras, wo fast die Hälfte der Bevölkerung unter fünfzehn Jahre alt ist, versucht der schwache Staat (7000 Polizisten, 9000 Soldaten), der Banden mit einer Politik der harten Hand Herr zu werden - unter großer Zustimmung der verängstigten Bevölkerung, aber am Ende wohl vergeblich. Die oft verfallenen Anstalten füllten sich zum Bersten mit Kindern und Jugendlichen. Nach dem Anti-Mara-Gesetz von 2003 ist schon die Bandenmitgliedschaft strafbar, und wer Kinder und Jugendliche in Notwehr tötet, wird strafrechtlich nicht verfolgt. Casa Alianza, eine mittelamerikanische Menschenrechtsorganisation, rechnet vor, dass von 1998 bis 2007 in Honduras mit seinen gut acht Millionen Einwohnern mehr als 3900 junge Leute unter 21 Jahren getötet wurden, auch von Polizei, Armee und von privaten Sicherheitsdiensten. Casa Alianza prangert die Zustände in den Gefängnissen und die Rechtlosigkeit der Kinder aus den Armenvierteln an. [...]
Die jungen Leute sollen rehabilitiert werden, "in die Gesellschaft zurück, nicht in die Kriminalität", wie es [der Arzt Elmer] Villeda formuliert, [der das honduranische Büro der evangelischen Kindernothilfe leitet]. In Honduras ist es noch immer ein fast revolutionärer Gedanke, dass man dem Abgleiten ganzer Generationen in die Kriminalität auch vorbeugen kann. Immerhin hört man jetzt auch von Richtern, Offizieren und Politikern häufiger die Formel, dass Prävention vor Repression gehen müsse. Wer das angesichts der mörderischen Mara-Banden für sozialromantischen Kitsch hält, müsste sagen, wie er denn sonst die verzweifelte Lage der jungen Leute wenigstens ein bisschen verbessern will.

Axel Wermelskirchen, "Keine Nacht ohne Mord und Totschlag", in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 4. November 2007

Drogenhandel und organisiertes Verbrechen

Von Anika Oettler

Sowohl die politischen Systeme als auch die sozialen und wirtschaftlichen Ordnungen werden in den meisten lateinamerikanischen Ländern von organisierter Kriminalität untergraben. Dabei handelt es sich um lokal verankerte Banden, aber auch um transnational operierende mafiöse Strukturen, die im florierenden Geschäft des Kidnappings, Autodiebstahls, Waffenhandels, Menschenhandels, der Zwangsprostitution und vor allem des Drogenhandels tätig sind.

Das Drogengeschäft verläuft in mehreren Etappen und wird von hierarchischen Netzwerken getragen. Für den Kokaanbau und für die Weiterverarbeitung des Rohstoffs (Kokapaste, Kokain), für den Transport zu den Absatzmärkten und für den Endverkauf gilt, dass ein Umfeld benötigt wird, in dem sich die kriminelle Ökonomie weitgehend ungehindert entfalten kann. Dieses Umfeld wird hauptsächlich durch Gewalt und Korruption geschaffen. Sowohl Akteure aus staatlichen Institutionen (Polizei, Justiz, Militär, Politik) als auch parastaatliche und aufständische Gruppierungen sind so Teil der kriminellen Wirtschaftstruktur geworden. Außerdem geht es darum, den Rückhalt der Bevölkerung - in den Anbaugebieten, in der Nähe der illegalen Produktionsstätten und entlang der Transportrouten - zu gewinnen. Um dies zu erreichen, treten Drogenbosse zumeist nicht nur als Bedrohung, sondern auch als soziale Dienstleister auf. Ein besonderer Fall war der kolumbianische Drogenboss Pablo Escobar, nach dem ein von ihm gebautes illegales Stadtviertel in Medellín benannt ist.

Die Haupterzeugerländer von Kokain sind Kolumbien, Bolivien und Peru. Nachdem die US-Administration 1998 mit dem Plan Colombia (auch) dem Drogenhandel den Krieg erklärt hatte, hat sich die kolumbianische Koka-Anbaufläche von 169 800 Hektar (2001) auf 144 000 Hektar (2005) verkleinert. Im gleichen Zeitraum ist, so die U.S. Drug Enforcement Administration DEA, die Anbaufläche in Bolivien von 19 900 ha auf 26 500 ha und in Peru von 31 000 ha auf 38 000 ha ausgeweitet worden. Das noch im Andenraum weiterverarbeitete Koka wird auf dem Land-, Luft- und Wasserweg zu den US-amerikanischen Absatzmärkten gebracht, circa 90 Prozent der Ware passiert dabei den zentralamerikanisch-mexikanischen Korridor. Während Kokain in Lateinamerika vor allem in den Kreisen der High Society kursiert, verbreiten sich in den Unterschichten billige Varianten der Droge mit extremem Abhängigkeitspotenzial. Dazu zählen neben dem aus Backpulver, Wasser und Kokain hergestellten Crack verschiedene Abfallprodukte aus derKokainherstellung. Diese werden unter anderem mit Kerosin, gemahlenen Glassplittern und Putzmitteln gestreckt und finden zum Beispiel in Kolumbien als Basuco oder in Argentinien als Paco reißenden Absatz - mit desaströsen gesundheitlichen und sozialen Folgen.

QuellentextErbe der Gewalt

[...] Die Gewalt haben nicht erst Farc und Paramilitärs über Kolumbien gebracht. Sie war längst schon ein Instrument der privilegierten Klasse, die von den Patrones der Provinzen und der wenigen Landbesitzerfamilien angeführt wurde. Auch die Vertreibungen sind eine alte Geschichte. 1950 ließ Präsident Laureano Gomez über der bewaldeten Ostregion Flugblätter abwerfen, mit denen die sofortige Räumung verschiedener Zonen angeordnet wurde. Die Indios, die kein Spanisch konnten, blieben. Truppen zogen daraufhin brandschatzend und mordend durch ihre Dörfer. Auch die Farc-Rebellen, die später selbst zu Mördern wurden, sind vor über 40 Jahren aus bäuerlichen Selbstverteidigungsgruppen hervorgegangen, die zu Recht eine Agrarreform forderten. Die Großgrundbesitzer setzten ihnen die Paramilitärs entgegen, deren genauer Name Autodefendas Unidas de Colombia (AUC) lautet. Die Anregung zu ihrer Gründung kam aus Washington, wie inzwischen freigegebene Dokumente von CIA und Pentagon belegen.
[Präsident Álvaro] Uribe möchte gegen dieses Erbe der Gewalt die Autorität des Staates errichten. Nur verfolgt er sein Ziel als traditioneller Caudillo, als Übervater, der von Parteien wenig hält und unumgängliche Verfassungsänderungen wie die für seine zweite Wahl 2006 schon mal erkaufen lässt. So kam er auch auf die Idee, die neuen Patrones des Drogenhandels und der Paramilitärs zu urbanisieren und zu den Paten eines modernen, erfolgreichen Unternehmertums zu machen.
Am 3. Juni 2005 billigte Bogotás Parlament das Gesetzesprojekt "Gerechtigkeit und Frieden" zur Wiedereingliederung bewaffneter Verbände ins Zivilleben. Selbst Massenmördern der Todesschwadronen wurde darin zugesagt, bei freimütigen Geständnissen mit fünf bis acht Jahren und zusätzlichen Strafmilderungen davonzukommen. [...]
Dem Aufruf zur Rückkehr ins zivile Leben folgten 31000 Paramilitärs, die rund 20 000 Waffen mitbrachten. Die schlimmsten Killer, die sich selbst zur Ermordung von Hunderten namentlich bekannter Opfer bekannten, lieferten auch Dokumente ab, die enge Verbündete des Präsidenten als Vertragspartner der Paramilitärs entlarvten. Inzwischen sitzen 33 Abgeordnete im Gefängnis. Sie sollen mit Massenmördern und Drogenhändlern kooperiert haben. Gegen insgesamt 63 Kongressmitglieder laufen Strafverfahren - fast alle aus dem Umfeld Uribes. [...]
Zwar hat Uribe schon im Oktober 2007 vor der UN-Vollversammlung verkündet, es gebe keine Paramilitärs mehr. In Wahrheit sind dieser Hydra längst wieder Köpfe gewachsen. Die großen Rauschgiftlieferungen über die venezolanische Grenze betreiben inzwischen die Aguilas Negras und die Aguilas Rojas, die schwarzen und roten Adler. Die Kokaproduktion und den Drogenhandel in der Region Nariño gegenüber Ecuador haben die Nueva Generación Colombia und die Manos Negras in ihre schwarzen Hände genommen. Vor den Kommunal- und Regionalwahlen im vergangenen Herbst wurden allein in der Stadt San Onofre, die an der Drogenroute nahe der karibischen Küste liegt, 23 Kandidaten ermordet. Unmittelbar vor dem Wahltag ließen die "Schwarzen Adler" einen Brief mit Todesdrohungen gegen namentlich genannte Einwohner zirkulieren.
Auch die demobilisierten Paramilitärs haben sich längst nicht alle "urbanisiert". Sie verunsichern zwar nicht mehr das reiche Zentrum der Metropole Bogotá. Doch in den Armenvierteln der Hauptstadt mit Hunderttausenden Flüchtlingen lassen sie des Nachts ihre Macheten noch oft genug niedersausen. Vor allem auf jene Jugendlichen, die anders aussehen, einen Ohrring tragen, nicht in das militarisierte Weltbild passen. Limpieza social, soziale Säuberung, nennen die Mörder diese Aktionen. Andere Jugendliche werden rekrutiert, erhalten den Mindestlohn von 400 000 Pesos, dazu ein Handy, eine Waffe.
Immerhin: Die Zeit der Entführungen, der Lösegelder, der Massenmorde ist vorbei. Die Drangsal für die Flüchtlinge, für die um ihr Land betrogenen Bauern, für die vom Bauboom aus Drogengeldern platt gemachten Gemeinden aber wird bleiben. [...]

Christian Schmidt-Häuer, "Der Retter aus dem Drogenwald", in: Die Zeit Nr. 29 vom 10. Juli 2008

Neue soziale Akteure

Von Anika Oettler

Aber es gibt auch positive Entwicklungen. In den vergangenen beiden Dekaden haben zivilgesellschaftliche Akteure an Einfluss gewonnen. Waren es zunächst Menschenrechtsorganisationen - wie etwa die "Mütter der Plaza de Mayo" in Argentinien - und Selbsthilfeorganisationen in den Armenvierteln, die Einfluss auf die Politik genommen haben, so hat sich später, gerade im Gefolge wirtschaftlicher und sozialer Krisen, das Spektrum zivilgesellschaftlicher Akteure erweitert und ausdifferenziert.

Während traditionelle soziale Akteure wie die Gewerkschaften an Einfluss verloren, kam es häufig zu neuen Formen des Protestes, wie etwa zur Blockade wichtiger Verkehrsadern durch Arbeitslose während der wirtschaftlichen Krise 2001/2002 in Argentinien. Die ungleiche Verteilung von Chancen im Bildungssektor trieb Schüler und Studierende zum Protest, auf der lokalen Ebene konnten bisher ausgeschlossene soziale Gruppen (wie zum Beispiel indigene Organisationen) in den politischen Prozess eingebunden werden und Formen direkter Demokratie zur Anwendung kommen. Besonders bekannt ist die Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger an der Aufstellung des städtischen Haushalts in der brasilianischen Großstadt Porto Alegre. Aber auch auf nationaler Ebene wurden neue partizipative Elemente wie Volksbegehren und Plebiszite erprobt. Diese wurden allerdings häufig von oben, von den Regierungen, für ihre Interessen eingesetzt. In Venezuela gelang es der Opposition 2004, ein Referendum zur Abwahl vonPräsident Hugo Chávez durchzusetzen, das dieser allerdings deutlich zu seinen Gunsten entscheiden konnte.

Indigene Bewegungen

Die 1990er Jahre waren das Jahrzehnt der indigenen Bewegungen. 1992, als sich die Eroberung Lateinamerikas zum 500. Mal jährte, mobilisierten auf dem gesamten Kontinent indigene Gruppierungen zu Kundgebungen und Veranstaltungen. Im gleichen Jahr erhielt die indigene Aktivistin Rigoberta Menchú Tum den Friedensnobelpreis für ihren friedlichen Protest gegen Krieg und Unterdrückung und für ihren Kampf um die Rechte der indigenen Bevölkerung in Guatemala. Am 1. Januar 1994, als das nordamerikanisch-mexikanische Freihandelsabkommen NAFTA in Kraft trat, besetzten indigene Guerilleros im südmexikanischen Bundesstaat Chiapas einige Städte und erklärten die Aufnahme des bewaffneten Kampfes. Damit war das Ejército Zapatista de Liberación Nacional (EZLN, Zapatistische Armee zur nationalen Befreiung), benannt nach dem historischen Anführer der mexikanischen Revolution, Emiliano Zapata (1879-1919), zum ersten Mal öffentlich in Erscheinung getreten. Bereits nach wenigen Tagen wurde der bewaffnete Kampf jedoch durch eine Strategie ersetzt, die basisdemokratische Gegenstrukturen in Chiapas schaffen und politische Initiativen auf der nationalen und internationalen Ebene entfalten will. Die Zapatisten und ihr Anführer, Subcomandante Marcos, haben in den vergangenen Jahren wichtige Impulse für die weltweite Anti-Globalisierungsbewegung geliefert, so stammt etwa der Slogan "Eine andere Welt ist möglich!" aus dem lakandonischen Urwald. Nachdem Verhandlungen mit der mexikanischen Staatsführung zu keinem für die Zapatisten befriedigenden Ergebnis geführt hatten, hat sich die EZLN nunmehr auf eine außerparlamentarische Bündnisstrategie verlegt. Im Rahmen der "anderen Kampagne" bereist Subcomandante Marcos seit 2006 das Land, um eine Vielzahl von Initiativen zu einer gemeinsamen außerparlamentarischen Bewegung zu bündeln.

In Chiapas, wie auch in anderen Regionen Lateinamerikas, vertreten indigene Bewegungen ein breites Spektrum an Forderungen. Dazu zählen eine territoriale Neuordnung (politische Selbstverwaltung), der Zugang zum Bildungs- und Gesundheitssystem, Landreformen und Ernährungssicherheit, die Selbstverwaltung von natürlichen Ressourcen sowie die Anerkennung eigener Rechts- und Verwaltungstraditionen. Der multiethnische/multikulturelle Charakter der Gesellschaft(en) ist inzwischen in Bolivien, Brasilien, Ecuador, Guatemala, Kolumbien, Nicaragua, Panama, Paraguay und Venezuela verfassungsrechtlich anerkannt. An den miserablen Lebensbedingungen, der Ausbeutung von Bodenschätzen und der politischen Diskriminierung hat sich jedoch vielerorts wenig geändert.

Die stärksten indigenen Bewegungen haben sich in Ecuador und Bolivien entwickelt. In Ecuador blickt die indigene Bewegung auf eine lange Geschichte zurück. In den 1980er Jahren waren schlagkräftige indigene Dachverbände gegründet worden, unter anderem die CONAIE (Confederación de Nacionalidades Indígenas de Ecuador), der sich schätzungsweise drei Viertel der ecuadorianischen indigenen Organisationen angeschlossen haben. Diese waren eine tragende Kraft bei den Protestbewegungen, die im Jahre 2000 zur Absetzung des Präsidenten Jamil Mahuad führten. 1996 wurde die indigene Partei Pachakutik als verlängerter Arm der CONAIE und der indigenen Bewegung gegründet. In den folgenden Jahren erzielte die Partei beträchtliche Wahlerfolge und stellte Abgeordnete, Bürgermeister und Regierungsvertreter. 2004 beteiligte sich Pachakutik an der Regierung Gutiérrez, sah die indigenen Forderungen ignoriert und zog sich schnell wieder aus der Regierungsverantwortung zurück. Mit einemStimmenanteil von knapp zwei Prozent erlebte die Partei bei den Präsidentschaftswahlen von 2006 eine herbe Niederlage, die sowohl ein Ausdruck der Enttäuschung der Parteibasis ist als auch von den internen Auseinandersetzungen der vergangenen Jahre zeugt.

In Bolivien wurde 2005 erstmals in der Geschichte des Landes ein indigener Präsident gewählt. Evo Morales ist ein Aymara, der sich als solcher auch in Bezug auf seine Kleidung zu erkennen gibt. Welche Rolle aber spielt die indigene Herkunft des Präsidenten? Seine politische Biographie ist von den gewerkschaftlichen Aktivitäten der Cocaleros (Koka-Bauern) geprägt. Seine Partei, Movimiento al Socialismo (MAS), steht weltanschaulich vor allem in einer marxistischen und trotzkistischen Tradition, indigene Forderungen sind mithin nur ein Teil des Regierungsprogramms.

Gemeinsamer Nenner: Eintreten für eine "andere Welt"

Die Bewegung der bolivianischen Cocaleros hat mit anderen sozialen Bewegungen in Lateinamerika vor allem eines gemein: die Ablehnung des (mehr oder weniger definierten) Neoliberalismus und das Eintreten für eine (mehr oder weniger definierte) "andere Welt". Darüber hinaus sind alle wichtigen lateinamerikanischen sozialen Bewegungen - von indigenen und feministischen Bewegungen, LBGT- (Lesben-, Schwulen, Bisexuellen-, Transgender-)bewegungen, Umwelt-, Gewerkschafts-, Stadtteilbewegungen bis hin zu Schüler- und Studentenbewegungen - Teil von transnationalen Netzwerken, in denen weltanschauliche Positionen und strategische Ansätze verhandelt werden. Die Weltsozialforen, die erstmals 2001 und bis 2005 ausschließlich in Porto Alegre, Brasilien, stattfanden, zeugen von dieser netzwerkartigen Struktur.

Die sozialen Bewegungen sind nicht nur Oppositionsbewegungen, sondern entfalten zivilgesellschaftliche Initiativen dort, wo staatliche Strukturen nicht präsent sind. Im Schatten der argentinischen Währungs- und Wirtschaftskrise besetzte 2001/2002 die Arbeitslosenbewegung der Piqueteros (piquete = Streikposten) Betriebe, um sie in Eigenregie weiterzuführen, sie berief Stadtteilversammlungen ein und unterhielt Tauschbörsen und Volksküchen. Spaltungsprozesse und die Annäherung einiger Führungsfiguren an das politische System haben die Piqueteros inzwischen deutlich geschwächt. Andere Beispiele sind die autonomen zapatistischen Gemeinden in Chiapas und die brasilianische Landlosenbewegung. Die größte Organisation, Movimiento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra (MST) kämpft nicht nur um Land und Landtitel, sondern unterhält mehr als 1200 Schulen und seit 2005 auch eine eigene Hochschule, die Escola Nacional Florestan Fernandes in Guararema. Ob diese alternativen Sozialsysteme langfristig Bestand haben, wird sich noch erweisen.

Gestaltung der politischen Systeme

Von Detlef Nolte

Präsidentialismus

Gemeinsam ist allen lateinamerikanischen Demokratien ihre Grundstruktur als Präsidialsysteme. Damit unterscheidet sich Lateinamerika von den Staaten Westeuropas, die in ihrer Mehrzahl parlamentarische Regierungssysteme besitzen. Auch in der englischsprachigen Karibik sind parlamentarische Demokratien vorherrschend. Im Präsidialsystem sind Exekutive und Legislative weitgehend getrennt. So darf der Präsident, der die Funktionen des Regierungschefs und des Staatsoberhaupts vereint, nicht dem Parlament angehören. Wie die Abgeordneten und Senatoren erhält der Präsident seine Legitimation über die direkte Wahl durch das Volk. Dadurch kann es vorkommen, dass der Präsident über keine Mehrheit im Parlament verfügt. In Lateinamerika hatten die Parteien der Präsidenten im Zeitraum 1984 bis 2004 im Durchschnitt nur in jeder vierten Wahlperiode (definiert über die Neuwahl von Präsident oder Parlament) eine Mehrheit im Kongress. Ungeachtet der Mehrheitsverhältnisse im Parlament istder Präsident für die Dauer seiner Amtszeit von der Legislative nicht absetzbar, außer durch ein Amtsenthebungsverfahren bei schweren Rechtsverfehlungen. Aber umgekehrt kann auch der Präsident das Parlament nicht auflösen. Im Gesetzgebungsprozess müssen beide zusammenarbeiten. Die Gesetze werden vom Parlament verabschiedet, der Präsident kann die Gesetzesvorlagen aber mit seinem Veto blockieren. Bei Konflikten zwischen dem Präsidenten und einer oppositionellen Parlamentsmehrheit bestand in der Vergangenheit die Gefahr, dass der Präsident aufgrund seiner Machtfülle das Parlament ausschaltete oder das Parlament die Regierungsarbeit blockierte und im Extremfall das Militär gegen beide gewählten Verfassungsorgane intervenierte.

Die große Zahl vorzeitig aus dem Amt ausgeschiedener Präsidenten (insgesamt 18 im Zeitraum von 1985 bis 2005) scheint auf eine große Instabilität lateinamerikanischer präsidentieller Demokratien hinzuweisen. Allerdings ging die Zahl militärischer Interventionen seit 1990 deutlich zurück. Im Konfliktfall zwischen Präsident und Parlament setzte sich in der Regel die Parlamentsmehrheit durch. Empirische Untersuchungen belegen, dass eine unabhängige Justiz und die Verankerung rechtsstaatlicher Strukturen deutlich zur Stabilität von Präsidialdemokratien beitragen.

In Lateinamerikas aktueller Demokratieperiode bilden sich häufig Koalitionen, wenn die Partei des Präsidenten über keine parlamentarische Mehrheit verfügt. Die Parteien werden über Ministerposten an die Regierung gebunden und unterstützen im Parlament die Regierungspolitik. Diese Form des "Koalitionspräsidentialismus" ist insbesondere in Brasilien und Chile ausgeprägt, wurde aber auch in anderen lateinamerikanischen Ländern (unter anderem Bolivien, Uruguay) praktiziert.

Daneben sind Exekutive und Legislative in Lateinamerika stärker verschränkt als in den USA. Das Parlament verfügt in vielen Ländern über die Möglichkeit, Minister vorzuladen und im Parlament zu befragen, in einigen Ländern können Minister auch durch ein Misstrauensvotum gestürzt werden. Die Exekutive hat das Recht, Gesetze direkt im Parlament einzubringen - für einige Bereiche sogar das exklusive Initiativrecht. In den meisten lateinamerikanischen Demokratien geht wie in parlamentarischen Demokratien die Mehrzahl der Gesetze auf Initiativen der Exekutive zurück. Die Präsidenten verfügen über weitreichende Kompetenzen, um den Gesetzgebungsprozess zu steuern (zum Beispiel indem sie über Gesetzesinitiativen der Exekutive beschleunigt und bevorzugt beraten lassen). In Einzelfällen haben sie das Recht, mit Dekreten (Verordnungen) den Gesetzgebungsprozess zu umgehen und am Parlament vorbei zu regieren. So hat beispielsweise der argentinische Präsident Néstor Kirchner (2003-2007) während seiner Amtszeit mehr Gesetzesdekrete als Gesetze initiiert. Der brasilianische Präsident kann Gesetze erst einmal per Dekret in Kraft setzen, bevor das Parlament nachfolgend darüber entscheidet. Einige Präsidenten verfügen darüber hinaus über ein Teilveto, das heißt sie können diejenigen Bestandteile eines Gesetzes in Kraft setzen, denen sie zustimmen, und gegen den Rest ihr Veto einlegen. Dies stärkt ihre Position im Gesetzgebungsprozess. Auch bei der Verabschiedung des Staatshaushaltes (oder bei der Umschichtung von Haushaltsmitteln) sind die präsidentiellen Kompetenzen sehr weitreichend. Im Extremfall tritt das Budget selbst dann in Kraft, wenn das Parlament die Zustimmung verweigert. In Chile kann das Parlament Gesetzesinitiativen, soweit sie die Staatsfinanzen betreffen, nur zustimmen oder sie ablehnen bzw. eine Verringerung der Ausgaben vorschlagen, aber keine Ausgabenerhöhung im Gesetzgebungsprozess vornehmen.

Die Macht lateinamerikanischer Präsidenten hängt neben dem parteipolitischen Rückhalt im Parlament von der Ausprägung der genannten Kompetenzen und der Stärke des Vetos ab, das heißt davon, ob das Veto vom Parlament mit einer einfachen oder nur mit einer Zweidrittelmehrheit überstimmt werden kann. Der Verfassung nach starke Präsidenten gibt es in Argentinien, Brasilien, Chile, Ecuador, Kolumbien und Peru, schwächer sind die Präsidenten in Mexiko, Paraguay und in der Mehrzahl der zentralamerikanischen Republiken.

Macht der Parlamente

Auch die lateinamerikanischen Parlamente unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Macht. Sie sind keinesfalls ohne Einfluss; bei Konflikten mit der Exekutive können sie den Gesetzgebungsprozess blockieren oder Untersuchungsausschüsse einsetzen. In den 1990er Jahren wurden mehrere Präsidenten durch Amtsenthebungsverfahren (oder deren Androhung) zum Rücktritt gezwungen (unter anderem Fernando Collor de Mello in Brasilien 1992; Carlos Andrés Pérez in Venezuela 1993; Raúl Cubas Grau in Paraguay 1999). Das Verfahren der Amtsenthebung wurde zuweilen wie ein Misstrauensvotum angewendet. In Ecuador wurde beispielsweise 1997 ein umstrittener Präsident, Abdalá Bucaram, vom Parlament für geistig unzurechnungsfähig erklärt und abgesetzt. Das Ansehen der Parlamente in der Bevölkerung liegt jedoch deutlich unter dem der Präsidenten. Schwachpunkte der Parlamente sind ihre unzureichenden technischen Beratungsdienste und eine niedrige Wiederwahlquote der Abgeordneten, die eine Professionalisierung der Parlamentsarbeit erschweren.

Die politischen Systeme Lateinamerikas

Neun lateinamerikanische Demokratien (unter ihnen Brasilien und Mexiko) verfügen wie die USA über zwei Kammern - Senat und Abgeordnetenhaus. In zwei weiteren Ländern, Peru und Venezuela, ist der Senat in den 1990er Jahren abgeschafft worden. Vordergründig sollten mit dieser Maßnahme die politischen Entscheidungsprozesse gestrafft und Kosten eingespart werden. Der Verdacht liegt allerdings nahe, dass Präsidenten mit autoritären Neigungen sich eines zweiten parlamentarischen Kontrollkörpers entledigen wollten. Denn die Senate sind ein Element der Gewaltenteilung und -kontrolle, sie dienen aber auch der Repräsentation einzelstaatlicher Interessen in föderalen Systemen (Argentinien, Brasilien, Mexiko) oder größerer Regionen (Departments / Provinzen, in Chile, Bolivien und der Dominikanischen Republik). In Kolumbien, Paraguay und Uruguay wiederum repräsentieren die Senatoren, die in einem einzigen Wahlkreis gewählt werden, die Nation in ihrer Gesamtheit gegenüber den eher lokalen Interessen der Abgeordneten. Bei den meisten lateinamerikanischen Senaten handelt es sich um machtvolle Verfassungsorgane, die über annähernd gleiche Kompetenzen wie die Abgeordnetenhäuser verfügen und zuweilen andere politische Mehrheitsverhältnisse als diese aufweisen.

Wahlen und Wahlrecht

Von Detlef Nolte

Das aktive Wahlrecht liegt in den lateinamerikanischen Staaten bei 18 Jahren, in Einzelfällen (Brasilien) bei 16 Jahren. Bis auf wenige Ausnahmen gilt Wahlpflicht, die Nichtbeteiligung wird allerdings nur in wenigen Ländern, wie etwa Chile, Peru und Uruguay bestraft. Die Wahlbeteiligung lag im Zeitraum seit 1978 im lateinamerikanischen Durchschnitt bei ungefähr 70 Prozent bei abnehmender Tendenz und großen Unterschieden zwischen den einzelnen Ländern. In Kolumbien (keine Wahlpflicht) geben traditionell weniger als 50 Prozent der Wahlberechtigten ihre Stimme ab und in Guatemala (Wahlpflicht, aber keine Bestrafung bei Nichtbeteiligung) weniger als 60 Prozent. Eine Wahlbeteiligung von über 80 Prozent war demgegenüber häufig in Argentinien, Brasilien, Chile und Uruguay zu finden. Wahlfälschungen kommen in Lateinamerika nur noch selten vor, dazu haben auch internationale Wahlbeobachtungsmissionen unter anderem der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) beigetragen. Gleichwohl dokumentieren Meinungsumfragen weiterhin ein Misstrauen der Wähler, ob die Wahlen wirklich fair und ohne Manipulationen durchgeführt wurden. Dazu trägt nicht zuletzt die häufig wenig transparente Parteienfinanzierung bei. Wirtschaftliche Interessen nehmen Einfluss auf den Wahlkampf. Die Konzentration im Mediensektor führt zur Bevorzugung bestimmter Kandidaten. Zuweilen beeinflussen auch Gewaltakteure wie das organisierte Verbrechen (Guatemala) oder paramilitärische Gruppen (Kolumbien) den Wahlausgang. Immer noch wird versucht, Stimmen im Austausch gegen personalisierte soziale Leistungen (zum Beispiel den Zugang zu staatlichen Sozialprogrammen) einzuwerben.

Bei den Präsidentschaftswahlen lassen sich zwei Grundtypen unterscheiden: die Wahl mit relativer Mehrheit (diese hat der Kandidat mit den meisten Stimmen) und die Wahl mit absoluter Mehrheit (mehr als die Hälfte der möglichen Stimmen). Im letztgenannten Fall kommt es zu einer Stichwahl zwischen den beiden Kandidaten, die im ersten Wahlgang die meisten Stimmen auf sich vereinen konnten. Dies ist der in Lateinamerika vorherrschende Wahlmodus (Bolivien, Brasilien, Chile, Kolumbien, Dominikanische Republik, El Salvador, Guatemala, Peru, Uruguay). Verfassungsreformen in den 1990er Jahren ließen die Zahl der mit relativer Mehrheit gewählten Präsidenten deutlich zurückgehen (im Jahr 2008: Honduras, Mexiko, Panama, Paraguay, Venezuela). Bei der Wahl mit absoluter Mehrheit kann sich der Präsident auf den ersten Blick auf ein klares Mandat der Wählerschaft stützen. Trotzdem verfügt er nicht zwingend über eine Mehrheit im Parlament. So müssen beispielsweise die brasilianischen Präsidenten immer eine Vielzahl von Parteien in einer Koalition zusammenbringen, um über die notwendige parlamentarische Mehrheit zur verfügen.

In einigen lateinamerikanischen Ländern (Argentinien, Costa Rica, Ecuador, Nicaragua) wird versucht, durch Mischsysteme die Nachteile beider Grundtypen zu vermeiden. Die Präsidenten werden zwar mit relativer Mehrheit gewählt, es wird jedoch ein Mindeststimmenanteil gefordert - in der Regel zwischen 35 Prozent und 45 Prozent - in Einzelfällen zusätzlich ein Mindestvorsprung gegenüber dem zweitplatzierten Kandidaten. Werden diese Kriterien nicht erfüllt, kommt es zu einer Stichwahl zwischen den beiden Kandidaten mit der höchsten Stimmenzahl im ersten Wahlgang. Einen Sonderfall bildet Bolivien. Dort wird der Präsident im ersten Wahlgang direkt vom Volk gewählt. Erhält ein Kandidat die absolute Mehrheit der Stimmen, ist er gewählt. Dies geschah in der aktuellen Demokratieperiode, das heißt seit 1983, allerdings erst einmal (im Jahr 2006 bei der Wahl von Evo Morales mit 54 Prozent der Stimmen). Erreicht kein Kandidat die absolute Mehrheit, entscheiden beide Kammern des Parlaments in gemeinsamer Sitzung zwischen den beiden Kandidaten, die im ersten Wahlgang die meisten Stimmen auf sich vereint haben.

Die lateinamerikanischen Präsidialdemokratien unterscheiden sich nicht nur aufgrund der Wahlsysteme, sondern auch im Hinblick auf die Möglichkeiten der Wiederwahl der Amtsinhaber. Zu Beginn der aktuellen Demokratieperiode war in der Mehrzahl der lateinamerikanischen Demokratien die direkte Wiederwahl ausgeschlossen. Vor dem Hintergrund autoritärer Herrschaftserfahrungen in vielen Ländern sollte dem Machtmissbrauch zur "Verewigung" im Präsidentenamt vorgebeugt werden. In Guatemala, Honduras, Mexiko und Paraguay besteht ein absolutes Verbot der Wiederwahl des Präsidenten. Die meisten der lateinamerikanischen Staaten ermöglichen eine erneute Kandidatur nach Ablauf einer oder zweier Amtsperioden. Seit den 1990er Jahren besteht jedoch die Tendenz, die einmalige direkte Wiederwahl zu gestatten, häufig in Kombination mit einer Verkürzung der präsidialen Amtszeit. Die Initiative ging zumeist von politisch erfolgeichen und populären Präsidenten aus, wie Carlos Menem (1989-1999) inArgentinien, Fernando Henrique Cardoso (1995-2002) in Brasilien und Álvaro Uribe (2002-2010) in Kolumbien. Daneben gilt diese Regelung in Venezuela und in der Dominikanischen Republik.

In der Mehrzahl der lateinamerikanischen Staaten finden die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen (zumindest für den ersten Wahlgang) am gleichen Tag statt. In einigen Fällen wird für beide Wahlen sogar der gleiche Stimmzettel benutzt. Untersuchungen zeigen, dass sich das Wahlverhalten bei den Präsidentschaftswahlen auf die Parlamentswahlen auswirkt. Die Partei des siegreichen Kandidaten erhält dadurch einen höheren Stimmenanteil. Finden die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen zu unterschiedlichen Zeitpunkten statt, erhöht sich das Risiko, dass der Präsident über keine ausreichende Mehrheit im Parlament verfügt. Zeitlich versetzt werden die Parlamente in Kolumbien, El Salvador, Argentinien und Mexiko gewählt.

Die Wahlsysteme zum Senat spiegeln die jeweilige Aufgabenzuschreibung wider. Senate, welche die Nation in ihrer Gesamtheit repräsentieren sollen, werden nach dem Verhältniswahlrecht auf nationaler Ebene in einem einzigen Wahlkreis gewählt (Kolumbien, Paraguay, Uruguay). Senate, die dem Prinzip der territorialen Repräsentation entsprechen, werden nach dem Mehrheitswahlrecht gewählt.

Bei den Wahlen zum Abgeordnetenhaus wird - mit Ausnahme Chiles - durchgehend das Verhältniswahlrecht angewendet. Inwieweit dies zu einer proportionalen Vertretung - im Vergleich zu ihrem nationalen Stimmenanteil - der Parteien im Parlament führt, hängt von der durchschnittlichen Zahl der in den Wahlkreisen zu vergebenden Mandate ab. Ein neue Tendenz ist die Einführung so genannter Mischsysteme (Bolivien, Mexiko, Venezuela), die sich teilweise an das deutsche personalisierte Verhältniswahlrecht anlehnen. Dort wird ein Teil der Abgeordneten über Direktmandate in Einpersonenwahlkreisen, ein Teil über Parteilisten gewählt.

Die lateinamerikanischen Wahlsysteme unterscheiden sich auch darin, ob sie kandidaten- oder listenzentriert sind. Im letztgenannten Fall können die Parteien einen stärkeren Einfluss auf die Abgeordneten ausüben, da sie über den Listenplatz entscheiden. Dies erhöht in der Regel die Fraktionsdisziplin. Die Wählerinnen und Wähler geben ihre Stimme für eine starre Parteiliste und nicht für einen Kandidaten ab. Bei lose gebundenen oder freien Listen entscheiden die Wählerinnen und Wähler demgegenüber darüber, welche Kandidaten sich auf der Liste durchsetzen. Die Kandidaten verfügen dadurch über eine stärkere Position gegenüber ihrer Partei. In Brasilien wechselte zeitweilig mehr als ein Drittel der Abgeordneten während der Legislaturperiode die Fraktion. Dies wurde vom Obersten Wahlgericht 2007 verboten.

Ein besonderes Problem vieler lateinamerikanischer Wahlsysteme im internationalem Vergleich besteht in der Verzerrung zwischen der geographischen Verteilung der Bevölkerung und der Verteilung der Mandate. Bevölkerungsschwache Regionen, die häufig auch wirtschaftlich unterentwickelt sind, sind gegenüber den bevölkerungsstarken Regionen überrepräsentiert. Dies gilt besonders für Argentinien und Brasilien. Dieser Verzerrungseffekt ist politisch gewollt, um die Konzentration von ökonomischer und politischer Macht abzumildern, führt aber auch zu einer politischen Bevorzugung bestimmter regionaler und sozioökonomischer Interessen.

Frauen in der Politik

Von Mariana Llanos

Im Oktober 2007 wurde mit Cristina Fernández de Kirchner zum ersten Mal eine Frau zur Präsidentin Argentiniens gewählt, nachdem bereits Michelle Bachelet im März 2006 das chilenische Präsidentenamt antrat. Diese beiden Präsidentinnen verkörpern die ambivalente Rolle der Frau in der lateinamerikanischen Politik: Beide sind bereits seit 30 Jahren in der Politik tätig und hatten schon wichtige öffentliche Ämter inne. Allerdings kam Bachelet nach jahrzehntelanger aktiver Mitgliedschaft in der Sozialistischen Partei an die Macht, während Cristina Kirchner die Nachfolge ihres Ehemanns, Néstor Kirchner, antrat, der zu ihren Gunsten auf eine erneute Kandidatur verzichtet hatte.

Frauenanteil in den Parlamenten

Der Anteil von Frauen in Wahlämtern ist in Lateinamerika und der Karibik im Jahre 2008 im weltweiten Vergleich hoch. Laut der Inter-Parliamentary Union nimmt die Region mit einem durchschnittlichen Parlamentarierinnenanteil von 19,4 Prozent den zweiten Platz hinter den skandinavischen Ländern (41,6 Prozent) und knapp vor den europäischen OSZE-Mitgliedsländern (19 Prozent) ein. Eine ähnliche Situation ergibt sich für die Besetzung der Ministerposten, auch hier ist die Repräsentation der Frauen im Lauf der Zeit stetig gestiegen: 2003 hatten Frauen 18 Prozent der Ministerämter in Lateinamerika inne (im Vergleich zu fünf Prozent 1980 und sieben Prozent 1990), während der weltweite Durchschnitt im selben Jahr bei zwölf Prozent lag. Allgemein ist die politische Repräsentation der Frau in der Welt noch immer niedrig. Gerade aus diesem Grund ist es bemerkenswert, dass in den vom Machismo geprägten Ländern Lateinamerikas, in denen Frauen lange Zeit diskriminiert und auf zweitklassige Ämter verwiesen wurden, diesbezüglich ein bedeutender Fortschritt zu verzeichnen ist.

Der steigende Anteil von Frauen in den Parlamenten und Ministerien ist eine Entwicklung der letzten 15 Jahre. Die Konsolidierung (Festigung) der Demokratien in den lateinamerikanischen Ländern und die Forderungen von sozialen und feministischen Bewegungen erzeugten einen starken Druck mit dem Ziel, die Wahl von Frauen durch Formen der "positiven Diskriminierung" wie Quotenregelungen zu fördern. Argentinien führte 1993 als erstes Land Geschlechterquoten im Rahmen von Parlamentswahlen ein. Seitdem haben elf weitere lateinamerikanische Staaten ein ähnliches Regelwerk für Parlamentswahlen und die Besetzung politischer Ämter etabliert: Costa Rica, Ecuador, Honduras, Panama, Peru, Bolivien, Mexiko, Paraguay (Abgeordnetenhaus und Senat), Kolumbien (nur für Führungsämter, nicht für das Parlament), Brasilien und die Dominikanische Republik (jeweils nur für eine Kammer). Diese Quotenregelungen haben sich als effektiv erwiesen, weil sie alle an den Wahlen teilnehmenden Parteien dazu verpflichten, einen Mindestprozentsatz an Frauen in ihre Wahllisten aufzunehmen; dieser variiert je nach Land zwischen 25 und 45 Prozent.

Jedoch hat die Einführung einer Quote nicht in allen Fällen zum gleichen Erfolg geführt, denn nur eine gute Ausgestaltung des Gesetzes kann die gewünschten Effekte erzielen. Dazu gehört erstens, dass Frauen auf den oberen und nicht auf den unteren Listenplätzen aufgeführt werden, die erfahrungsgemäß selten gewählt werden. Zweitens zählt dazu die Möglichkeit von Sanktionen wie zum Beispiel Bußgelder oder der Ausschluss von Listen, welche die festgelegten Richtlinien nicht einhalten. Drittens weisen die Quotenregelungen einen größeren Erfolg auf, wenn sie in relativ großen Wahlkreisen mit starren Parteilisten zur Anwendung kommen. Als Erklärung für die unterschiedliche weibliche Repräsentation in den lateinamerikanischen Parlamenten können zum einen vorhandene Quotenregelungen und deren Ausgestaltung herangezogen werden, zum anderen die spezifischen Merkmale des Wahlsystems.

Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass die politische Partizipation der Frauen in Lateinamerika große Fortschritte verzeichnen konnte, wozu Quoten und ihre Ausgestaltung entscheidend beigetragen haben. Wenn einige Länder weiterhin eine sehr geringe weibliche Repräsentation in der Politik aufweisen, macht dies deutlich, dass ein Demokratisierungsprozess ohne begleitende Maßnahmen nicht ausreicht, um die Frauen in die politischen Strukturen zu integrieren.

Dr. Mariana Llanos ist Politikwissenschaftlerin und seit 2006 als wissenschaftliche Mitarbeiterin am GIGA Institut für Lateinamerika-Studien tätig. Sie befasst sich u.a. mit politischen Institutionen, Präsidentialismus, Parlamenten und der rechtsprechenden Gewalt.

Kontakt: llanos@giga-hamburg.de

Prof. Dr., unterrichtet in den Studiengängen Politikwissenschaft und Lateinamerika-Studien an der Universität Hamburg. Er ist Vizepräsident des GIGA German Institute of Global and Area Studies / Leibniz-Institut für Globale und Regionale Studien in Hamburg und Direktor des zugehörigen GIGA Instituts für Lateinamerika-Studien. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die politischen Systeme Lateinamerikas, die Rolle Lateinamerikas in der internationalen Politik sowie Fragen der globalen und regionalen Machtarchitektur.

Kontakt: nolte@giga-hamburg.de

Dr., ist Soziologin und seit 2003 als wissenschaftliche Mitarbeiterin am GIGA Institut für Lateinamerika-Studien tätig. Sie befasst sich u.a. mit Sozialstrukturen, Gewaltdynamiken und sozialen Bewegungen.

Kontakt: oettler@giga-hamburg.de