Die Verschuldungskrise
Von Wolfgang Hein
Bis in die 1970er Jahre hinein hatten die lateinamerikanischen Länder eine wirtschaftspolitische Strategie der importsubstituierenden Industrialisierung verfolgt. Zwar war infolgedessen die Industrieproduktion vor allem in den größeren Ländern erheblich gestiegen, doch war die lateinamerikanische Industrie weder international wettbewerbsfähig geworden, noch hatte sie es vermocht, einen umfassenden gesellschaftlichen Entwicklungsprozess in Gang zu setzen. Große Teile der Bevölkerung blieben am Rand des Modernisierungsprozesses, soziale Konflikte nahmen zu.
Schließlich scheiterte die Importsubstitutionsstrategie an ihren außenwirtschaftlichen Problemen. In den 1970er Jahren nahm in Lateinamerika die Auslandsverschuldung kontinuierlich zu und mündete ab 1981 in eine Verschuldungskrise. Sie eröffnete den internationalen Finanzinstitutionen (Weltbank und Internationaler Währungsfonds) sowie den wichtigsten Industrieländern die Möglichkeit, unter vereintem Druck in den betroffenen Staaten neoliberale Wirtschaftsmodelle durchzusetzen. Im Folgenden werden diese Zusammenhänge kurz skizziert.
Die importsubstituierende Industrialisierung war abhängig vom Import von Maschinen, Halbfertigwaren und bestimmten Rohstoffen; darüber hinaus wollten transnationale Konzerne häufig ihre Gewinne wieder ins Mutterland des Konzerns zurückführen. Produziert wurde jedoch für den Binnenmarkt, Devisenerlöse (Erlöse in Form ausländischer Währung) aus eigener industrieller Produktion gab es also kaum. Sie konnten nur durch die Ausweitung traditioneller Exporte erzielt werden, also - je nach Land - von mineralischen Rohstoffen oder Agrarprodukten. Wachsende Exportmengen von Rohstoffen führten jedoch langfristig zu sinkenden Rohstoffpreisen. Ohne ein Wachstum industrieller Exporte führte dieses Modell notwendigerweise in eine Sackgasse, das heißt, die betreffenden Staaten waren gezwungen, sich die notwendigen Devisen durch Kreditaufnahme im Ausland zu beschaffen. Lediglich eine Umkehr der Rohstoffpreistrends hätte den Anstieg der Verschuldung stoppen können. Verhandlungen imRahmen der UN mit dem Ziel, höhere Rohstofferlöse zu stabilisieren und die internationalen Bedingungen für die industrielle Entwicklung in den Ländern des Südens zu verbessern, scheiterten in den 1970er Jahren jedoch an den Industrieländern, die Bedenken gegen zu starke Eingriffe in die Rohstoffmärkte hegten und nur begrenzt zu handelspolitischen Zugeständnissen bei Industriegütern bereit waren.
Die zweite zentrale Ursache für die Verschuldungskrise lag im Bereich der globalen Finanzmärkte - auf die sich zusätzlich ein Politikwandel in den USA auswirkte. In der zweiten Hälfte der 1970er Jahre hatten die internationalen Kreditmärkte ein Überangebot von Kapital, Folge der Ölkrise des Jahres 1973. Da sich die Rohölpreise als Folge eines Ölembargos der arabischen Ölstaaten im Rahmen des Yom-Kippur-Krieges innerhalb kürzester Zeit vervierfacht hatten, suchten die ölexportierenden Staaten nach Anlagemöglichkeiten für ihr "überschüssiges" Kapital ("Petrodollar"). Die Zinsen waren entsprechend niedrig, die Kreditaufnahme war nicht, wie im Falle der Weltbank, an spezifische Projekte geknüpft. Dies verführte die Entwicklungsländer zu verstärkter Kreditaufnahme - auch wenn diese Kredite meist keine lange Laufzeit hatten und immer wieder durch neue Kredite zu aktuellen Zinssätzen ersetzt werden mussten. In Folge stiegen die Auslandsschulden der Entwicklungsländer von etwa 100 Milliarden US-Dollar im Jahr 1972 auf knapp 800 Milliarden zehn Jahre später. Ende der 1970er Jahre zogen die ölexportierenden Länder allerdings einen großen Teil der Petrodollar wieder von den internationalen Finanzmärkten ab, um in Projekte wie Ölraffinerien und den Aufbau ganzer Industrie-komplexe in der eigenen Region zu investieren. Das internationale Zinsniveau stieg aber vor allem auch als Folge einer Hochzinspolitik in den USA, die mit dieser Maßnahme die Inflation bremsen und ausländisches Kapitel zur Finanzierung ihrer hohen Haushaltsdefizite anlocken wollten. Die internationalen Zinssätze stiegen von durchschnittlich 6,1 Prozent 1977 auf 16,5 Prozent im Jahre 1981. Obwohl einzelne Entwicklungsländer schon gegen Ende der 1970er Jahre in Zahlungsbilanzschwierigkeiten gerieten, wird die Erklärung der Zahlungsunfähigkeit Mexikos im August 1982 als der eigentliche Beginn der Verschuldungskrise angesehen.
Die Verschuldungskrise wurde ähnlich wie die in den Industrieländern verbreitete "Stagflation" (geringes Wirtschaftswachstum bei relativ hoher Inflation) von neoliberalen Theoretikern als Ergebnis einer zu starken Intervention des Staates in marktwirtschaftliche Prozesse und einer häufig leichtsinnigen Finanzierung politischer Projekte durch Kreditaufnahme angesehen. Dies galt für Wirtschaftsförderung und Sozialpolitik in den Industrieländern ebenso wie für die Industrialisierungs- und Modernisierungsstrategien im Süden. Ausgehend vor allem von den USA (Ronald Reagan) und Großbritannien (Margaret Thatcher) gewannen neoliberale Positionen zunehmend auch international an Einfluss.
Die internationalen Finanzinstitutionen (IFIs), denen seit 1945 die Aufgabe zukommt, das internationale Währungssystem durch Beistandskredite für Länder in Zahlungsbilanzschwierigkeiten zu stabilisieren (Internationaler Währungsfonds, IWF) sowie Entwicklungsländer durch projekt- und programmbezogene Kredite zu fördern (Weltbank), reagierten auf die Verschuldungskrise mit so genannten Strukturanpassungsprogrammen, deren Akzeptanz eine Bedingung für die Gewährung neuer Kredite darstellte. Sie wurden später auch häufig mit dem Begriff des Washington Consensus (Grundkonsens zwischen der US-Regierung und den in Washington ansässigen IFIs über die notwendigen makroökonomischen Reformen) umschrieben. Diese Programme sahen vornehmlich Bemühungen um Deregulierung und Liberalisierung vor, die Staatshaushalte sollten durch eine konsequente Sparpolitik konsolidiert werden, die auch als Grundlage für die Bekämpfung der Inflation angesehen wurde. Die Steuerung wirtschaftlicher Entwicklung sollte den Märkten überlassen werden, wirtschaftliche Modernisierung dem Zustrom ausländischer Investitionen. Investitionshindernisse (wie staatliche Genehmigungsverfahren für Auslandsinvestitionen, Beschränkungen für den Rücktransfer von Gewinnen) galt es abzubauen. Die Annahme, freie Märkte seien besser als wirtschaftspolitische Strategien in der Lage, eine optimale Ausnutzung der Wettbewerbsvorteile auf internationalen Märkten zu gewährleisten, bildete den Kern dieser "Strukturanpassung."
Die Verschuldungskrise - Zahlungsunfähigkeit bzw. Sparprogramme zu deren Abwendung - führte in den meisten Fällen zu einem kurz- bis mittelfristigen extremen wirtschaftlichen Einbruch. Während Lateinamerika im Jahrzehnt von 1970 bis 1980 ein durchschnittliches Wirtschaftswachstum von sechs Prozent verzeichnen konnte, waren die Wachstumsraten 1982 und 1983 im kontinentalen Durchschnitt negativ (-1,0 Prozent und -3,1 Prozent); dort, wo sich die Krisen zuspitzten, war die Rezession dramatisch (Chile 1982: -14,1 Prozent; Peru 1983: -zwölf Prozent, Uruguay 1982: -9,4 Prozent). Die Investitionsraten sanken stark (Argentinien: 1971-80: 21,7 Prozent, 1985: 10,9 Prozent; Chile: 1981: 27,6 Prozent, 1983: 9,3 Prozent), und die staatlichen Sozialausgaben gingen in einigen Ländern dramatisch zurück (Pro-Kopf-Ausgaben der Zentralregierung für Gesundheit; 1980=100; Argentinien, 1982: 53; Bolivien 1982: 22; Costa Rica: 1982: 57). Den Entwicklungen der folgenden zwei Jahrzehnte lässt sich entnehmen,dass dieser wirtschaftliche Einbruch nur sehr begrenzt als Ausgangspunkt einer langfristig erfolgreichen Strukturanpassung der lateinamerikanischen Ökonomien angesehen werden kann.
Wirtschaftliche Trends
Von Susan Steiner
Nach der Verschuldungskrise war das Hauptziel der Strukturanpassungsprogramme und der Wirtschaftspolitik im Allgemeinen, makroökonomische Stabilität (das heißt geringe Inflation, einen stabilen Wechselkurs, ein niedriges Budgetdefizit und eine ausgeglichene Leistungsbilanz) sowie Wirtschaftswachstum zu erreichen und die Grundelemente des protektionistischen Entwicklungsmodells abzuschaffen.
In den ersten Jahren nach der Verschuldungskrise wurden die entsprechenden Reformen jedoch selten konsequent verfolgt, so dass sich die Situation in vielen Ländern zunächst noch verschlechterte, was den 1980er Jahren weithin den Beinamen "verlorenes Jahrzehnt" einbrachte. So machten die Budgetdefizite in einigen Ländern (zum Beispiel Argentinien, Brasilien, Mexiko, Peru) Ende der 1980er Jahre über fünf Prozent des BIP aus. Erst im folgenden Jahrzehnt wurden die Staatsausgaben konsequent reduziert, indem staatliche Unternehmen privatisiert, Staatsbedienstete entlassen, Subventionen gestrichen und Investitionen der öffentlichen Hand zurückgestellt wurden. Darüber hinaus wurde versucht, durch Steuerreformen und die Stärkung der Finanzverwaltungen die Staatseinnahmen zu erhöhen.
In den meisten Ländern gelang es innerhalb weniger Jahre, das Budgetdefizit drastisch zu senken; in einigen Fällen wurden sogar Haushaltsüberschüsse erwirtschaftet. Auch bei der Inflationsbekämpfung konnten die lateinamerikanischen Regierungen beachtliche Erfolge vorweisen: Während die durchschnittliche Inflationsrate in der Region Ende der 1980er Jahre noch fast 500 Prozent betrug (oftmals, weil das Budgetdefizit durch den Druck von Geldnoten finanziert wurde), lag der Preisanstieg zehn Jahre später unter zehn Prozent. Ermöglicht wurde dies einerseits durch neue gesetzliche Regelungen und politisch unabhängigere Zentralbanken, die den Regierungen keine erneute inflationäre Geldpolitik ermöglichten, und andererseits durch wechselkursbasierte Stabilisierungsmaßnahmen. Ein Extrembeispiel für eine solche wechselkursbasierte Stabilisierung bietet Argentinien. Die einheimische Währung Peso wurde 1991 durch ein Gesetz im Verhältnis 1:1 an den US-Dollar gebunden, und dieZentralbank wurde verpflichtet, genügend Fremdwährung zu halten, um theoretisch alle Pesos in US-Dollar umtauschen zu können. Im Hinblick auf den Preisverfall war diese Strategie äußerst erfolgreich, denn die Inflationsrate ging innerhalb weniger Jahre von 3000 Prozent auf einstellige Beträge zurück. Im Hinblick auf die internationale Wettbewerbsfähigkeit der argentinischen Wirtschaft hingegen war die feste Wechselkursbindung katastrophal. Die argentinische Inflation war zwar stark gesunken, lag aber immer noch über der US-amerikanischen Inflation, was aufgrund der 1:1-Bindung an den US-Dollar einer realen Aufwertung des Peso entsprach. Die Folge dieser Überbewertung war der Verlust der Wettbewerbsfähigkeit und damit ein hohes Leistungsbilanzdefizit sowie eine stetig steigende Auslandsverschuldung. Im Jahre 2002 musste Argentinien die Zahlungsunfähigkeit erklären und die feste Wechselkursbindung aufgeben.
Regionale wirtschaftliche Integration
Zentrale Elemente der neuen wirtschaftlichen Ausrichtung waren die Öffnung der Märkte und die Exportförderung als Antriebsmotor des Wirtschaftswachstums. In den meisten Ländern der Region wurden die Ausfuhrzölle weitgehend abgeschafft, die durchschnittlichen Einfuhrzölle von 40 auf zehn Prozent reduziert und nichttarifäre Handelshemmnisse, wie zum Beispiel Einfuhrquoten, abgebaut. Teil dieser Orientierung nach außen waren die Prozesse (regionaler) wirtschaftlicher Integration, die zu Beginn der 1990er Jahre in Gang kamen. Sie knüpften zum Teil an Integrationsversuche der Vergangenheit an, die aber in Anlehnung an das Modell der importsubstituierenden Industrialisierung eine gemeinsame Abschottung vom Weltmarkt angestrebt hatten und meist an Abstimmungsproblemen und nationalen Vorbehalten der beteiligten Länder gescheitert waren.
Der Gemeinsame Zentralamerikanische Markt (Mercado Común Centroamericano, MCCA) war 1960 mit dem Vertrag von Managua gegründet worden und nach ersten Erfolgen während der Bürgerkriegswirren in der Region in den 1970er und 1980er Jahren zum Erliegen gekommen. In den 1990ern wurden die Bemühungen innerhalb des MCCA reaktiviert. Mittlerweile treten die Staaten des MCCA nach außen verstärkt gemeinsam auf. So ratifizierte Costa Rica, als letzter zentralamerikanischer Staat neben Guatemala, El Salvador, Honduras und Nicaragua im Oktober 2007 das Freihandelsabkommen zwischen der Dominikanischen Republik, Zentralamerika und den USA (Dominican Republic-Central American Free Trade Agreement, DR-CAFTA). Zudem bemühen sich die zentralamerikanischen Regierungen um ein Freihandelsabkommen mit der EU.
QuellentextBedrohte Existenzen
Kein wirtschaftspolitisches Thema hat die Staaten Zentralamerikas in den vergangenen Jahren so sehr beschäftigt wie Cafta. Das Freihandelsabkommen, das die USA mit Nicaragua, El Salvador, Guatemala, Honduras und Costa Rica sowie der Dominikanischen Republik geschlossen haben, ließ die Brüche zwischen Regierten und Regierenden deutlich zu Tage treten. Teilweise vehement hat sich die Bevölkerung in den fünf zentralamerikanischen Staaten gegen den Vertrag gewehrt, der den schrittweisen Abbau von Zöllen und Handelsschranken für Waren, Dienstleistungen und Investitionen vorsieht.
[...] Angst vor Verarmung der Landbevölkerung wie in Nicaragua und Guatemala und der Ärger über das Aufbrechen der Staatsmonopole auf Telefon, Strom und Versicherung in Costa Rica machen Cafta zum Zankapfel.
Das Abkommen fördert gen Süden faktisch die Ausdehnung der Nordamerikanischen Freihandelszone (Nafta), in der die USA seit 13 Jahren mit Kanada und Mexiko vereint sind. Und es sind vor allem die Erfahrungen der Mexikaner mit der Nafta, die den meisten Menschen in Zentralamerika Angst machen. Zwar hat die Industrie in Mexiko von dem Pakt profitiert, aber die kleinen Landwirte sind die großen Verlierer des Freihandels, weil sie nicht mit dem subventionierten Mais, den bezuschussten Bohnen und dem billigen Hühnerfleisch mithalten können, die seither aus den USA ins Land kommen. Zehntausende Bauern mussten unter der Nafta in Mexiko ihre Scholle aufgeben und wanderten in die USA aus. In Zentralamerika könnte der Effekt wesentlich größer sein, da dort noch mehr Menschen von der Landwirtschaft abhängen. Alleine in Guatemala leben vier Fünftel der Bevölkerung von der kleinbäuerlichen Landwirtschaft, und mit Cafta steht nach Angaben des Kleinbauerndachverbands CNOC die Existenz hunderttausender Familien auf dem Spiel.
Das Freihandelsabkommen festigt die unangefochtene Position der USA in Zentralamerika. Schon jetzt wickeln die fünf Staaten 60 Prozent ihres Außenhandels mit den Vereinigten Staaten ab. Im Jahre 2001 belief sich das Handelsvolumen auf 20 Milliarden Dollar. Die Vereinigten Staaten liefern vor allem Maschinen, chemische Produkte, Papier sowie Obst und Gemüse für neun Milliarden Dollar nach Zentralamerika. Im Gegenzug importierten sie für elf Milliarden Dollar vor allem lohnveredelte Textilien und Elektronik sowie Kaffee, Früchte und Fruchtkonserven aus Zentralamerika.
Nach Einschätzung der Wirtschaftskommission der Vereinigten Nationen für Lateinamerika und die Karibik (Cepal) wird Cafta die Länder Zentralamerikas zu Modernisierung und Diversifizierung zwingen. Außer Costa Rica, wo der US-Chiphersteller Intel fertigt, verfügen die Staaten praktisch über keine industrielle Basis. Sie leben entweder vom Export ihrer landwirtschaftlichen Produkte oder dem Verkauf lohnveredelter Textilwaren aus den "Maquilas". Aber gerade damit sind sie kaum noch konkurrenzfähig gegen die sehr billige Konkurrenz aus China. [...]
Klaus Ehringfeld, "Streit über die Freihandelszone", in: Frankfurter Rundschau vom 11. Mai 2007
Die Andengemeinschaft (Comunidad Andina de Naciones, CAN) umfasst das Integrationsbündnis der Andenländer Bolivien, Kolumbien, Ecuador und Peru, das Freihandel sowie Kooperation auf politischer und sozialer Ebene zwischen den Mitgliedstaaten vorsieht. Mit ihrer Gründung im Jahre 1997 löste die Andengemeinschaft den Andenpakt ab, der 1969 mit dem Cartagena-Abkommen ins Leben gerufen worden war. Bis zum Jahre 2006 gehörte auch Venezuela zur CAN, ist aufgrund von Unstimmigkeiten zwischen den Mitgliedstaaten über die Frage eines Freihandelsabkommens mit den USA jedoch ausgetreten. Während Ecuador, Bolivien und bis zu seinem Austritt Venezuela ein solches Abkommen für ausgeschlossen hielten, traten Peru und Kolumbien in bilaterale Verhandlungen mit den USA und schlossen 2005 bzw. 2006 Freihandelsverträge ab.
Das sicherlich ehrgeizigste regionale Integrationsprojekt ist der "Gemeinsame Markt des Südens" (Mercado Común del Sur, MERCOSUR), dem die Gründungsmitglieder Argentinien, Brasilien, Uruguay und Paraguay angehören sowie seit 2006 auch Venezuela. Bolivien, Chile, Ecuador, Peru und Kolumbien sind assoziierte Mitglieder. Im "Vertrag von Asunción" beschlossen die Gründungsmitglieder, bis Ende 1994 einen gemeinsamen Markt zu schaffen. Das Teilprojekt einer Freihandelszone wurde schnell realisiert, Zollschranken wurden zügig abgebaut, und in der Folge stieg der intraregionale Handel von neun Prozent der Gesamtausfuhren im Jahre 1990 auf 21 Prozent im Jahre 2000. Im Jahre 2006 betrug er allerdings nur noch 14 Prozent, was sich vor allem durch einen starken Anstieg der Agrar- und Rohstoffexporte der MERCOSUR-Länder in Drittländer erklärt. Von einem gemeinsamen Markt ist der MERCOSUR noch weit entfernt. Er verharrt eher im Zustand einer unvollständigen Zollunion, in der zahlreiche Ausnahmen vom 1995 eingeführten gemeinsamen Außenzoll weiterexistieren. Eine Diskrepanz zwischen getroffenen Entscheidungen auf MERCOSUR-Ebene und deren tatsächlicher Umsetzung auf nationaler Ebene hat den Integrationsprozess deutlich verlangsamt.
Das Nordamerikanische Freihandelsabkommen (North American Free Trade Agreement, NAFTA), das 1994 von den USA, Kanada und Mexiko ins Leben gerufen wurde, ist das fünfte Integrationsbündnis, an dem Lateinamerika beteiligt ist. Im Unterschied zum MERCOSUR strebte es jedoch nicht an, einen gemeinsamen Markt zu bilden, sondern beschränkte sich auf die Schaffung einer Freihandelszone, in der Handels- und Investitionsschranken beseitigt werden sollten. Die Mehrzahl der Zölle zwischen den Mitgliedstaaten wurde mit Inkrafttreten des Abkommens aufgehoben; einige Ausnahmen bestehen für eine Übergangszeit von 15 Jahren noch fort. Folglich steigerte sich der Anteil der intraregionalen Exporte an den Gesamtexporten der drei Länder von 43 Prozent im Jahre 1990 auf heute 56 Prozent. Eine Vertiefung der NAFTA hin zu einer "NAFTA plus" ist derzeit in der Diskussion. Diese würde die vollständige Abschaffung von Zöllen, aber auch die Öffnung der Grenzen sowie eine Kooperation in der Sicherheits-und Energiepolitik zwischen den drei Staaten beinhalten. Während die amtierenden Regierungschefs (George W. Bush, Stephen Harper, Felipe Calderón) diese Idee befürworten, lehnt die Mehrheit der Bevölkerung in den drei Mitgliedstaaten eine weitere Vertiefung ab. Die zukünftige Gestaltung des Bündnisses hängt unter anderem vom Ausgang der bevorstehenden Präsidentschaftswahlen in den USA ab.
Die potenziellen Auswirkungen der bestehenden NAFTA, vor allem für den relativ kleineren Partner Mexiko, wurden und werden von vielen Seiten kritisch betrachtet. Als Problempunkt in den Beziehungen zu den USA gilt insbesondere die hohe Rate illegaler mexikanischer Einwanderer in die Vereinigten Staaten. Problematisch ist ferner, dass die Reallöhne der niedrig qualifizierten Arbeitskräfte in Mexiko nur langsam steigen. In den neu angesiedelten Unternehmen werden diese weniger gebraucht und nachgefragt als höher qualifizierte Arbeitskräfte, deren Reallöhne durchaus Steigerungen verzeichneten. In der Folge nimmt die Einkommensungleichheit zu. Zu den Verlierern der NAFTA gehören auch die mexikanischen Kleinbauern, die nicht mit der hochtechnologisierten und subventionierten US-amerikanischen Landwirtschaft konkurrieren können.
Im Vergleich mit dem MERCOSUR und der NAFTA kommt den übrigen Integrationsbündnissen in Lateinamerika geringere Bedeutung zu, da sie sowohl geographisch als auch wirtschaftlich deutlich kleiner sind. Erwähnenswert ist hingegen das Vorhaben, eine panamerikanische Freihandelszone (Free Trade Area of the Americas - FTAA, Área de Libre Comercio de las Américas - ALCA) zu etablieren, der außer Kuba alle Staaten Nord-, Zentral- und Südamerikas angehören sollen. Sie wäre damit die größte Freihandelszone der Welt. Die Verhandlungen begannen bereits 1994 und sollten eigentlich 2005 abgeschlossen sein. Aufgrund diverser Interessengegensätze sind sie jedoch ins Stocken geraten, und das Projekt scheint (vorläufig) gescheitert. Vor allem die USA, welche Zugeständnisse über den Abbau von Agrarsubventionen ablehnten, und Brasilien, das daraufhin seinen Dienstleistungssektor nicht für US-amerikanische Unternehmen öffnen wollte, stachen als widerstreitende Akteure hervor. Inder Konsequenz orientierten sich die USA um und schlossen vermehrt bilaterale Freihandelsabkommen mit verschiedenen Ländern der Region ab. Innerhalb Lateinamerikas verfolgt besonders Chile den Weg des Bilateralismus, wodurch es sich schnellere und weitergehende Ergebnisse verspricht, als sie bisher im Rahmen der regionalen Integrationsbündnisse bzw. der multilateralen Verhandlungen zu erzielen waren. Vor allem um seine Außenhandelsstruktur auszuweiten, hat Chile mehr bilaterale Handelsabkommen als jedes andere Land weltweit abgeschlossen, mit zahlreichen Ländern innerhalb Lateinamerikas (zum Beispiel Mexiko, Peru, Kolumbien), aber auch außerhalb der Region (zum Beispiel der EU, den USA, China). Zuvor war Chile, wie die meisten lateinamerikanischen Staaten, sehr stark von den USA als Handelspartner abhängig, mittlerweile sind Asien und Europa die Hauptabnehmer chilenischer Exporte. Abgesehen von solch wirtschaftlich starken Ländern wie Chile sind bilaterale Abkommen für lateinamerikanische Länder eher als wenig erstrebenswert zu beurteilen. Im Unterschied zu multilateralen Verhandlungen können Industrieländer hier ihre Interessen schneller durchsetzen, da sie es nur mit jeweils einem (oftmals schwächeren) Verhandlungspartner zu tun haben.
Reformen und Probleme
Wirtschaftswachstum in Lateinamerika 1980-2006
Wirtschaftswachstum in Lateinamerika 1980-2006
Obwohl die Reformen der 1990er Jahre die Inflation und die Budgetdefizite erfolgreich eindämmen konnten, blieben das Wirtschaftswachstum und die Armutsreduzierung hinter den Erwartungen zurück. Das Pro-Kopf-Einkommen der Region wuchs zwischen 1991 und 1997 zwar um durchschnittlich 2,5 Prozent, ging zwischen 1998 und 2002 aber wieder um 0,2 Prozent zurück. Ende der 1990er Jahre hinterließen diverse Finanzkrisen innerhalb (Brasilien, Argentinien) und außerhalb (Ostasien, Russland) der Region ihre Spuren, und die weltweite Abschwächung der Konjunktur zu Beginn des neuen Jahrtausends trug zusätzlich dazu bei, dass das Bruttoinlandsprodukt nur wenig anstieg bzw. sogar rückläufig war. Lediglich das NAFTA-Mitglied Mexiko sowie Chile, das bereits in der zweiten Hälfte der 1970er mit dem Reformprozess begonnen hatte, wiesen jetzt noch ein wachsendes Pro-Kopf-Einkommen auf.
Das schwache Wirtschaftswachstum hatte negative Konsequenzen für den Arbeitsmarkt in der Region: Es wurden kaum neue Arbeitsplätze geschaffen, stattdessen stieg die Beschäftigung im informellen Sektor, das heißt ohne Zugang zu sozialen Sicherheitssystemen, deutlich an. In der Folge verbreitete sich eine spürbare Unzufriedenheit mit dem Reformprozess, auch da die Strukturanpassungsprogramme die makroökonomische Stabilität in den Mittelpunkt stellten und die Armutsbekämpfung vernachlässigten. Regierungen, die sich offen gegen eine Wirtschaftspolitik der Liberalisierung und Deregulierung aussprachen und einen stärkeren Fokus auf die zu kurz gekommenen sozialpolitischen Maßnahmen legten, gewannen vielerorts die Wahlen. In einigen Fällen (Bolivien, Venezuela) wurden Unternehmen nun wieder verstaatlicht und die Prozesse regionaler Integration stärker von politischen als von wirtschaftlichen Interessen geleitet. Einige Experten gehen heute davon aus, dass das Wirtschaftswachstum nicht wegen der durchgeführten Reformen per se hinter den Erwartungen zurückblieb, sondern weil die Reformagenda zu eng angelegt war und bestimmte Bereiche kaum berücksichtigte. So waren Arbeitsmarktreformen, Verbesserungen des Bildungssektors sowie die Schaffung von Institutionen zum besseren Schutz von Eigentumsrechten im Allgemeinen nicht vorgesehen. Diese wären jedoch notwendig gewesen, um besser auf negative externe Einflüsse reagieren zu können. Andere Stimmen halten jedoch die Maßnahmen der Strukturanpassungsprogramme selbst für problematisch. Es wird zum Beispiel kritisiert, dass die Reformen äußerst marktliberal ausgestaltet waren und zu abrupt durchgeführt wurden. So wurde etwa die Privatisierung von Staatsunternehmen als Ziel an sich und nicht als Mittel zum Zweck gesehen und auch in sensiblen Bereichen ohne Regulierung durchgeführt, wodurch oftmals private Monopole entstanden. Zudem beinhalteten die Programme in allen Staaten grundsätzlich die gleichen Maßnahmen und berücksichtigten zu wenig die spezifische Situation in den einzelnen Ländern.
In den letzten Jahren (2003 bis 2006) war das Wirtschaftswachstum in Lateinamerika allerdings so hoch, dass die Einkommen pro Kopf um durchschnittlich 3,3 Prozent angestiegen sind. 2006 war seit langem das erste Jahr, in dem kein Land der Region sinkende Pro-Kopf-Einkommen zu verzeichnen hatte. Diese positive Entwicklung ist zu einem beachtlichen Teil der zunehmenden Integration Lateinamerikas in die Weltwirtschaft geschuldet, wodurch die Region von der in dieser Zeit stattfindenden konjunkturellen Belebung in den USA und Europa, der anhaltenden Expansion Asiens, insbesondere Chinas, und den zu diesem Zeitpunkt hohen Rohstoffpreisen profitieren konnte.
Vor dem Hintergrund der Liberalisierungsprozesse stiegen die Warenexporte der Region in den 1990er Jahren um jährlich 8,5 Prozent und die Importe um 10,5 Prozent, während die Exporte/Importe weltweit um lediglich 6,5 Prozent zunahmen. Der Anteil Lateinamerikas an den weltweiten Warenexporten hat sich in den zehn Jahren seit 1990 von 4,3 Prozent auf 5,8 Prozent erhöht und verharrt seither auf diesem Niveau. Die mit Stand 2006 wichtigsten Ziele für lateinamerikanische Exporte waren Nordamerika (31,4 Prozent aller Exporte), Lateinamerika selbst (25,9 Prozent), Europa (20,1 Prozent) und Asien (14,4 Prozent). Auch der Großteil der Importe in diesem Jahr stammte aus Nordamerika (28,4 Prozent), der Region selbst (29,5 Prozent), Europa (17,6 Prozent) und Asien (18,4 Prozent). Insbesondere der Handel mit Asien und hier vor allem mit China hat in den letzten Jahren stark zugenommen; zwischen 2000 und 2005 sind Lateinamerikas Exporte nach China um jährlich 37 Prozent gestiegen. Bleibt es bei den hohenWachstumsraten Chinas und dem damit verbundenen steigenden Rohstoffbedarf, ist davon auszugehen, dass sich dieser Trend vorerst fortsetzen wird.
Aber auch wenn Lateinamerika heute deutlich mehr in den Weltmarkt eingebunden ist als noch vor 15 Jahren, sollte dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass die weltwirtschaftliche Bedeutung der Region eher gering und sogar leicht rückläufig ist. Der Beitrag zur globalen Wertschöpfung lag zu Beginn der 1980er Jahre bei sieben Prozent, 2006 nur noch bei sechs Prozent. Auch zählen laut Welthandelsorganisation nur zwei lateinamerikanische Länder, nämlich Brasilien und Mexiko, zu den 30 führenden Exportnationen der Welt. In der Rangliste des Weltwirtschaftsforums wird die Wettbewerbsfähigkeit des Kontinents so eingeschätzt, dass nur zwei lateinamerikanische Länder unter den ersten 50 von insgesamt 131 bewerteten Ländern rangieren, Chile auf Platz 26 und Puerto Rico auf Platz 36. Die Wachstumsraten der Region von 5,6 Prozent (2006) und 5,7 Prozent (2007) geben jedoch Anlass zur Hoffnung auf eine bessere Positionierung der Region in der Weltwirtschaft.
Charakteristika der Wirtschaftsstruktur
Von Wolfgang Hein
Die nun bereits ein gutes halbes Jahrhundert zurückreichenden Strategien der Industrieförderung haben vor allem in den größeren lateinamerikanischen Staaten einen nicht unbedeutenden industriellen Sektor entstehen lassen. Auch sind gewisse makroökonomische Erfolge der Strukturanpassungsprozesse und der regionalen Integration erkennbar. Dennoch ist es selbst diesen Ländern nicht gelungen, sich von der Abhängigkeit von Primärgüterexporten zu lösen. Landwirtschaftliche und mineralische Produkte machten im Jahre 2006 wieder 50 Prozent der Gesamtexporte des Kontinents aus. Aufgrund der steigenden Rohstoffpreise stiegen die Exporterlöse in den drei Jahren zwischen 2002 und 2005 (61,5 Prozent) mehr als in den sieben Jahren zuvor (51,3 Prozent). Einige Ökonomien sind weiterhin fast vollständig von Rohstoffexporten abhängig, aber auch Länder wie Mexiko werden immer noch spürbar von den Geschehnissen auf den Rohstoffmärkten beeinflusst. Dass ein sehr großer Teil derIndustriegüterausfuhren der relativ technologieintensiven Kategorie "Metallwaren und Maschinen" zuzurechnen ist, verweist auf die besondere Situation der größeren lateinamerikanischen Ökonomien: Sie haben für eine Region des Südens ein relativ hohes Niveau industrieller Entwicklung erreicht, sind aber weiterhin in hohem Maße Rohstoffexporteure.
Exportstruktur 1995-2006
Exportstruktur 1995-2006
Typisch für die Globalisierung ist die Tendenz, dass hoch entwickelte Industrieländer einzelne, meist arbeitsintensive Produktionsprozesse in Entwicklungsländer verlagern (so genannte Lohnveredlung). Auch hier kommt in der Position Lateinamerikas ein relativ fortgeschrittenes Niveau industrieller Entwicklung zum Ausdruck. Zwar finden sich die typischen Prozesse der Lohnveredlung in der Bekleidungsindustrie auch in Lateinamerika (vor allem in Zentralamerika und Mexiko), doch spielt der Bereich der Metallverarbeitung und des Maschinenbaus (Automobilteile sowie Computerkomponenten) in lateinamerikanischen Ländern eine größere Rolle, insbesondere aufgrund von Investitionen transnationaler Unternehmen. Der erstaunliche Strukturwandel der costaricanischen Exporte ist beispielsweise weitgehend auf eine umfangreiche Investition der Firma Intel zurückzuführen, die in diesem zentralamerikanischen Land Computerprozessoren für den Weltmarkt herstellt.
Anteil der Wirtschaftssektoren am Bruttoinlandsprodukt
Anteil der Wirtschaftssektoren am Bruttoinlandsprodukt
Trotz ihrer großen Bedeutung für die Exporterlöse des Kontinents ist der Anteil der Rohstoffproduktion an der Wertschöpfung vergleichsweise gering. Auch der Anteil der verarbeitenden Industrie am Bruttoinlandsprodukt bleibt mit im Schnitt unter 20 Prozent relativ niedrig (im Vergleich zu den Industrieländern in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg oder auch zur aktuellen Wirtschaftsstruktur der asiatischen Entwicklungsländer, beispielsweise Thailand, das im Hinblick auf viele Entwicklungsindikatoren mit Ländern wie Brasilien und Mexiko vergleichbar ist). An der traditionell hohen sozialen Ungleichheit hat sich wenig geändert, da weiterhin vor allem eine begrenzte Elite von den modernen wirtschaftlichen Aktivitäten profitiert. Die große Bedeutung ausländischer Unternehmen in der Exportproduktion hat darüber hinaus zum Abfluss von Gewinnen geführt. Die modernen Wirtschaftszweige sowohl in der Landwirtschaft (Sojaanbau, Viehzucht) als auch in der verarbeitenden Industrie sind eher kapitalintensiv; eine Spezialisierung auf arbeitsintensive Industrieprodukte (etwa: Bekleidungsindustrie, Haushaltselektronik) wie in Südostasien hat nur in wenigen Regionen stattgefunden (etwa im Norden Mexikos). Dies hat auch dazu beigetragen, dass die Entwicklung der Binnennachfrage sehr schleppend verlaufen ist und keinen dynamischen Industrialisierungsprozess hat tragen können.
Die von populistischen Modernisierungsversprechen begleitete Politik der Importsubstitution hatte die Hoffnung auf eine moderne Zukunft im urbanen Raum und damit eine starke Land-Stadt-Migration gefördert. Trotz der relativ geringen Ausweitung der industriellen Beschäftigung (etwa 20-25 Prozent der Beschäftigten in den Bereichen Industrie einschließlich Bauindustrie, Elektrizität, Wasser- und Gasversorgung und Bergbau, die 30,7 Prozent des BIP erwirtschaften) hat Lateinamerika den höchsten Urbanisierungsgrad in allen Regionen des Südens. Laut World Population Report 2007 leben 78 Prozent der Bevölkerung in Lateinamerika und der Karibik in urbanen Regionen; das übertrifft sogar den Durchschnittswert der Industrieländer.
Die Daten zur Beschäftigungsstruktur weisen auf folgende Aspekte hin:
Der Anteil der Landwirtschaft an der Beschäftigung ist erheblich höher als deren Beitrag zur Wertschöpfung. Neben der Exportproduktion mit einer meist relativ hohen Produktivität existiert weiterhin in praktisch allen Ländern eine ausgedehnte, wenig produktive Subsistenzlandwirtschaft.
In der Industrie dagegen ist der Anteil an der Wertschöpfung meist deutlich höher als derjenige an der Beschäftigung, das heißt, es werden relativ wenig Arbeitsplätze geschaffen. Auch die industrielle Entwicklung hat daher nicht zu einer größeren Dynamik der Binnennachfrage geführt.
Der Dienstleistungssektor hat dagegen ein überproportionales Gewicht, sowohl was seinen Anteil an der Wertschöpfung (62,8 Prozent) als auch seinen Anteil an der Beschäftigung betrifft. Dieses Gewicht ergibt sich durch den - trotz der Strukturanpassungsmaßnahmen zu seiner Eindämmung - weiterhin umfangreichen staatlichen Sektor und eine doppelte Auswirkung der extrem starken Urbanisierung (78 Prozent): Sie ermöglichte die Entwicklung eines modernen und produktiven Dienstleistungsbereichs, der allerdings nicht so viele Arbeitsplätze bietet, wie angesichts des Zustroms nötig wären. Daher müssen große Teile der Land-Stadt-Migranten in einem sehr großen informellen Sektor, also in rechtlich nicht geregelten Arbeitsverhältnissen, mehr oder weniger erfolgreich ihr Überleben sichern. Der Vergleich mit Thailand ist auch hier interessant: Ein Urbanisierungsgrad von lediglich 33 Prozent und eine sicherlich im Schnitt auch wenig produktive Landwirtschaft, die noch 42,5 Prozent derBeschäftigten absorbiert, deuten darauf hin, dass in Thailand die räumliche Verteilung der Bevölkerung sehr viel stärker der Dynamik der Industrialisierung angepasst ist und damit ein erheblich geringerer sozialer Entwurzelungsprozess stattfindet als in Lateinamerika.
Anteil der Sektoren an der Beschäftigung
Anteil der Sektoren an der Beschäftigung
Festhalten lässt sich, dass Lateinamerika noch immer mit strukturellen Problemen zu kämpfen hat, die letztlich bis in die Kolonialzeit zurückweisen und mit der Bedeutung des Rohstoffsektors zusammenhängen. Die lateinamerikanischen Regierungen haben sich zwar bemüht, diese ungünstigen Strukturen durch vielfältige Reformen und strategische Neuansätze zu verändern, doch wirken sie aufgrund der gesellschaftlichen Einkommens- und Machtverteilung bis in die Gegenwart nach.
Armut und soziale Ungleichheit
Von Susan Steiner
Im Jahr 2006 waren 36,5 Prozent der lateinamerikanischen Bevölkerung (194 Millionen Menschen) von Armut und 13,4 Prozent (71 Millionen Menschen) von extremer Armut betroffen. Ein Haushalt ist nach Definition der Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik (Comisión Económica para América Latina y el Caribe, CEPAL) arm, wenn er weniger Einkommen zur Verfügung hat, als für die Befriedigung von bestimmten, an die regionalen bzw. nationalen Gegebenheiten angepassten Grundbedürfnissen nötig wäre. Ein Haushalt gilt als extrem arm, wenn er nicht einmal seinen Grundbedarf an Nahrungsmitteln decken kann. Bolivien, Honduras, Nicaragua und Paraguay (Haiti ohne Daten) waren 2006 die ärmsten Länder der Region mit einer Armutsrate von über 60 Prozent und einer Rate der extremen Armut von über 30 Prozent. Chile und Uruguay wiesen hingegen die niedrigsten Armutsraten auf. Jeweils weniger als 20 Prozent der Bevölkerung galten dort als arm und weniger als fünf Prozentals extrem arm.
Im Jahr 2002 hatte die Armut in Lateinamerika nach Definition der CEPAL noch 44 Prozent und die extreme Armut 19,4 Prozent betragen, ein Niveau, das seit Beginn der 1990er Jahre fortbestanden hatte. Der Vergleich mit 2006 belegt also, dass jüngst Fortschritte in der Armutsbekämpfung erzielt werden konnten. Diese wurden überwiegend ermöglicht durch das vergleichsweise hohe Wirtschaftswachstum der letzten Jahre, teilweise sind sie aber auch Ergebnis gestiegener öffentlicher Sozialausgaben. Hält der positive Trend an, könnte Lateinamerika das erste Millenniumsziel der Vereinten Nationen, die Halbierung der Einkommensarmut zwischen 1990 und 2015, erreichen.
QuellentextFairer Handel ("Fair Trade")
Als Alternative zum herkömmlichen Handel produzieren zahlreiche lateinamerikanische Erzeuger seit einigen Jahren für den fairen Handel. Damit wird ein kontrollierter Handel bezeichnet, in dem die Preise für die gehandelten Produkte höher angesetzt sind als ein festgelegter Mindestpreis bzw. der jeweilige Weltmarktpreis. Damit soll den Produzenten ein höheres und verlässlicheres Einkommen als im konventionellen Handel ermöglicht werden. Außerdem müssen in der Produktion internationale Umwelt- und Sozialstandards eingehalten werden. Fair gehandelt werden die unterschiedlichsten Produkte, angefangen von Bananen, Kakao, Tee und Gewürzen über Kunsthandwerk und Schmuck bis hin zu Fußbällen. Für Lateinamerika am bedeutendsten ist jedoch das Geschäft mit fair gehandeltem Kaffee, denn die Produktion konzentriert sich in der Region, vor allem in Mexiko, Kolumbien, Peru, Guatemala und Nicaragua. Der faire Handel nimmt zwar nur einen äußerst geringen Anteil (0,0002 Prozent) des gesamten Welthandels ein, verzeichnet aber ein kontinuierlich hohes Wachstum. So nahm er zwischen 2006 und 2007 um 47 Prozent zu. Die Verbraucherinnen und Verbraucher in Deutschland kauften 2006 fair gehandelte Waren in einem Wert von mehr als 155 Millionen Euro. Das entspricht einer Steigerung von circa 30 Prozent im Vergleich zum Vorjahr und von 59 Prozent im Vergleich zu 2004.
Susan Steiner
QuellentextBananen, bio und fair
[...] Johnnys Plantage liegt ein Stück abseits der Panamericana. Man biegt rechts ab. Der Weg wird schnell holperig. Anfangs flankiert von Kakaobäumen, dann kommen die Bananenpflanzen, drei, vier Meter hoch, sie stehen so dicht und ausladend [...].
Johnnys Plantage misst neun Hektar, so viel wie zwölf Fußballplätze und genug, um etwa ein Dutzend Menschen zu ernähren. [...] Das Büschel, bestehend aus etwa 150 bis 200 Bananen, hängt fast ganz oben, mit einer Hakenstange zieht ein Pflücker es zu sich, ein zweiter kappt mit einer schartigen Sense den Stiel, ein dritter fängt es auf, behutsam, mit einem Plastikkissen, um Druckstellen zu vermeiden. [...]
Johnnys Bananen sind Bio-Früchte, auf [ihnen] klebt [später] neben dem Transfair-Etikett auch ein Bio-Siegel. Das Zertifikat kriegt Johnny jedes Jahr von einer Genossenschaft verliehen. Etwa 800 Bauern in der Gegend um Machala sind in der Urocal, so heißt die Genossenschaft.
Die Urocal schickt ihre Kontrolleure unangemeldet zu den Bauern. Johnny muss alle Chemikalien angeben, die er verwendet, die leeren Flaschen muss er sammeln, und auf keinen Fall darf er Sprühkolonnen durch die Plantage schicken oder gar vom Flugzeug aus sprayen lassen. Er darf - noch am Baum - die Bananen mit Plastiksäcken gegen Insekten schützen, aber er darf die Umhüllungen nicht von innen mit Insektiziden bestreichen.
Sein Vater, erzählt einer der Pflücker, arbeitete in einer Plantage, wo die Männer von unten die Flugzeuge an den richtigen Ort dirigieren mussten. Sie seien alle krank geworden: Ausschlag, Allergien, Kindersterblichkeit, sie starben mit Mitte vierzig.
Der deutsche Importeur und Partner von Johnnys Genossenschaft heißt Banafair, ein Verein, aber mehr schon eine Firma, ansässig im hessischen Gelnhausen. Es ist eine Sechs-Mann-Truppe, entstanden vor 20 Jahren aus einer Nicaragua-AG, die sich zu einer Importfirma entwickelt hat. 112 996 Kartons im Jahr, rund zehn Millionen Bananen. 100 Bauernfamilien rund um Machala ernten für Banafair.
Gegen die Branchenriesen Dole und Chiquita ist Banafair, mit seinen 2040 Tonnen jährlich, nicht mal ein Zwerg. Ein Drittel, etwa fünf Millionen Tonnen, der auf dem Weltmarkt gehandelten Bananen stammt aus Ecuador, und wiederum ein Drittel kommt von den Plantagen um Machala.
Nach Schätzungen von Urocal verdienen die Tagelöhner auf den großen Plantagen etwa 220 bis 240 US-Dollar im Monat, während Johnny seinen Pflückern rund 30 Dollar mehr zahlt, über die Genossenschaft sind sie auch versichert. Aufs Ganze gesehen fällt das, was Banafair und Urocal veranstalten, nicht ins Gewicht, noch nicht jedenfalls - aber es ist ein Modell. [...]
Ralf Hoppe, "Der Kunde als Krieger", in: Der Spiegel Nr. 36 vom 1. September 2008
Lateinamerika ist seit jeher von einer hohen Einkommensungleichheit gekennzeichnet, die eine der größten Herausforderungen für die Region darstellt. Das Problem hat seinen Ursprung in der kolonialen Vergangenheit des Kontinents. Sie bewirkte eine Gesellschaftsstruktur, die einigen wenigen die Kontrolle über den Großteil der wirtschaftlichen Aktivitäten sicherte, der Mehrheit der Bevölkerung aber den Zugang zu Land, Bildung und politischer Einflussnahme verwehrte und sie vorwiegend in abhängigen Arbeitsverhältnissen in Bergbau und Landwirtschaft beschäftigte. Dass die resultierende ungleiche Verteilung bis heute fortbesteht, ist nicht einfach zu erklären. Verschiedentlich wird in diesem Zusammenhang die spezifische Bildungssituation auf dem Kontinent angeführt, die einem Großteil der Bevölkerung nur begrenzten Zugang zu obendrein qualitativ ungenügenden Bildungsmöglichkeiten gewährt.
Die soziale Ungleichheit ist heute nicht nur höher als in anderen Weltregionen; sie blieb zudem in den 1990er Jahren konstant und nahm zu Beginn des neuen Jahrtausends weiter zu. Wie im Falle der Armutsentwicklung konnten in den letzten Jahren in einigen Ländern jedoch Fortschritte in Richtung einer geringeren Einkommenskonzentration erzielt werden. In Peru, Brasilien, Paraguay, El Salvador, Ecuador, Mexiko, Panama und Chile hat der Einkommensanteil der armen Bevölkerungsgruppen am Gesamteinkommen zwischen 1999 und 2005 zugenommen, der Anteil der reichen Bevölkerungsgruppen hingegen abgenommen. Gemessen am Gini-Koeffizienten, der das Niveau der Einkommensungleichheit auf einer Skala von 0 bis 1 angibt, wobei höhere Werte auf eine höhere Ungleichheit hindeuten, weisen Uruguay, Costa Rica, Venezuela und El Salvador mit Werten unter 0,5 heute die geringste Ungleichheit der Region auf, Bolivien und Brasilien hingegen mit Werten über 0,6 die höchste Ungleichheit. Im Vergleich dazu verfügt Deutschland über einen Koeffizienten von 0,28.
Um der anhaltenden Armut und Ungleichheit entgegenzuwirken, wurden in den 1990er Jahren die öffentlichen Sozialausgaben (das heißt die Ausgaben für Bildung, Gesundheit, soziale Sicherung, Sozialhilfe und sozialen Wohnungsbau) stark erhöht. Real sind sie zwischen 1990/91 und 2004/05 von jährlich 440 US-Dollar auf 660 US-Dollar pro Kopf gestiegen, wobei der Löwenanteil auf die erste Hälfte dieser Periode fällt. Diese Durchschnittswerte verdecken jedoch große Unterschiede innerhalb der Region; in etwa der Hälfte der Länder wendete der Staat noch 2004/05 weniger als 350 US-Dollar pro Kopf für Sozialausgaben auf. Betrachtet man die verschiedenen Arten von Sozialausgaben, so ist festzustellen, dass vor allem die Ausgaben für soziale Sicherung und Sozialhilfe sowie Bildung gestiegen sind.
Mit dem Ziel der Minderung von Armut und Ungleichheit sind höhere Ausgaben für Sozialhilfe und Bildung (vor allem wenn sie in den Primärbereich fließen, das heißt einem größeren Teil der Bevölkerung den Grundschulbesuch ermöglichen bzw. die Qualität des Schulunterrichts verbessern) zweifelsohne begrüßenswert. Wachsende Ausgaben für soziale Sicherheit sind hingegen als zwiespältig anzusehen. In Lateinamerika werden nur 27 Prozent der Beschäftigten vom sozialen Sicherungssystem abgedeckt, und nur 25 Prozent der über 65-Jährigen erhalten eine Altersrente. Dies sind gemeinhin die ehemals im formalen Wirtschaftssektor beschäftigten und damit meist ohnehin bessergestellten Bevölkerungsschichten. Beinhaltet die Erhöhung der Ausgaben also lediglich eine Erhöhung der Zahlungen an diese Zielgruppe und nicht eine Ausweitung des sozialen Sicherungssystems auf einen größeren Teil der Bevölkerung, kann von Armutsminderung bzw. einer Reduzierung der Ungleichheit keine Rede sein - eher ist das Gegenteil der Fall. In der Tat haben viele Regierungen den Anspruch, ihre sozialen Sicherungssysteme auszuweiten; in Ländern mit einem großen informellen Sektor ist das aber nur schwer möglich.
QuellentextKleinkreditprogramme in Argentinien
[...] Das Team des "Proyecto Sur", einem Mikrokreditprogramm finanziert von der Fundación Temas, fährt jeden Samstag in die Villa 21. Etwa 30.000 bis 35.000 Menschen leben in dem Armenviertel, genaue Zahlen gibt es nicht. Es liegt am durch Chemikalien verschmutzten, faulig stinkenden Fluss Riachuelo, in der Nachbarschaft zur Petroindustrie. Die meisten im Viertel sind arbeitslos, viele leben davon, Abfälle zu sammeln und zu verkaufen.
Das Mikrokreditprogramm in der Villa 21 gibt es seit zwei Jahren; es funktioniert im Sinne von Muhammad Yunus, der 2006 den Friedensnobelpreis gewonnen hat: Projektbezogene Kredite für die, denen normalerweise keine Bank Geld geben würde. "Wir prüfen, ob die Geschäftsideen Chancen haben. Aber die Frauen müssen nicht wie bei einer Bank Sicherheiten mitbringen", sagt Paz Ochoteco von der Fundación Temas. 67 Kredite hat die Stiftung bisher bewilligt.
Im Vergleich zu anderen Mikrokredit-Programmen ist der Zinssatz im Proyecto Sur niedrig, er liegt bei 15 Prozent. 48 Wochen lang zahlen die Frauen den Kredit in kleinen Raten zurück. Die Rückzahlquote ist hoch: Bisher sind 94 Prozent der Gelder zurückgekommen.
Warum die Kredite nur an Frauen gehen? "Weil die besser mit Geld umgehen und zuverlässiger zurückzahlen", sagt Ochoteco. "Sie setzen das Geld intelligenter ein, haben im Blick, was die Familie wirklich braucht. " [...]
Der Bewerbungsprozess ist gestaffelt: Beim ersten Treffen erklären die Helfer, wie das Programm funktioniert. Ab dem zweiten Treffen erarbeiten sie mit der Bewerberin das Geschäftskonzept. [...]
"Ob ein Kredit bewilligt wird, entscheiden nicht wir", sagt Ochoteco. [...] Die Umweltwissenschaftlerin und ihre Kolleginnen präsentieren die Kreditanträge einer Expertenkommission aus Frauen. Wird der Kredit bewilligt, muss die Frau mit anderen zusammen eine Fünfergruppe bilden. Erst dann wird das Geld ausgezahlt und die wöchentlichen Gruppentreffen beginnen. [...] "Durch den persönlichen Bezug fühlen die Frauen sich verpflichtet, das Geld zurückzuzahlen, sagt Ochoteco. Damit eine andere Frau es als Kredit bekommen kann." [...]
"Ich war die erste, die einen Mikrokredit bekommen hat", sagt Olga Nilda Lencina, 45 [...]. Sie kaufte sich von dem Geld eine Nähmaschine. "Komm, ich zeig sie dir!" Vorsichtig sucht sie mit den Füßen den festen Boden zwischen den Pfützen. "Ich habe kein Haus, es ist eine Hütte", sagt sie entschuldigend, bevor sie die Gittertür öffnet, die der Eingang der Holzhütte ist. "Von dem Geld, das ich im vergangenen Jahr verdient habe, haben wir einen Zementboden gießen lassen. Aber durch das Wellblech regnet es rein", sagt Olga. Die Nähmaschine steht in einer regensicheren Ecke, mit einem Tuch vor Staub geschützt. Es ist ein guter Tag für sie, morgens um halb acht klopfte schon jemand und bestellte drei Hosen. Olga hat fünf Kinder und ist als alleinerziehende Mutter die einzige in der Familie, die Geld verdient - rund 100 Pesos, das sind 25 Euro, in der Woche. Weit weniger als das Mindesteinkommen von 200 Euro, die eine Familie in Argentinien laut Statistik zum Überleben braucht. [...]
Karen Naudorf, "Wo wenig genug ist", in: Das Parlament vom 12. Februar 2007
In vielen Ländern Lateinamerikas wurden in den letzten zehn Jahren so genannte konditionierte Transferprogramme eingeführt, deren ausdrückliches Ziel die Bekämpfung der Armut heutiger und zukünftiger Generationen ist. Die ersten Programme entstanden in Ländern mit mittlerem Einkommen, wie Mexiko ("Oportunidades") und Brasilien ("Bolsa Escola"); heute sind sie aber auch in deutlich ärmeren Ländern, wie El Salvador ("Red Solidaria") und Paraguay ("Tekoporã"), zu finden. Im Allgemeinen funktionieren diese Programme so, dass armen Familien finanzielle Unterstützung zukommt, wenn sie bestimmte Bedingungen erfüllen, zum Beispiel ihre Kinder in die Schule schicken oder regelmäßig Gesundheitszentren besuchen. Durch diese Bedingungen soll sichergestellt werden, dass junge Familienmitglieder nicht automatisch ein Leben in Armut führen müssen, sondern sich aus dem Armutskreislauf befreien können.
QuellentextSozialprogramme in Brasilien
Für Rosalina da Luis Rodrigues ist heute Zahltag. Geduldig steht die junge Frau vor dem kleinen düsteren Tante-Emma-Laden in Acau, einer kleinen Stadt im Nordosten Brasiliens. Etwa zwei Dutzend andere Frauen warten auch noch in der Reihe, ihr Ziel ist der Geldautomat der staatlichen Bank Caixa Econômica am Eingang.
Hier wird die "Bolsa Familia" ausgezahlt, was übersetzt so viel wie Familienstipendium heißt und der Name des größten Sozialprogramms in Südamerika ist. In Brasilien profitieren elf Millionen Familien davon, etwa ein Viertel der Gesamtbevölkerung. Vor allem dank Bolsa Familia, lobte kürzlich eine Studie der Stiftung Getulio Vargas, ist der Anteil der brasilianischen Bevölkerung in extremer Armut in den Jahren 2003 bis 2005 von gut 28 Prozent auf 22,7 Prozent gefallen. Und das, obwohl dieses Vorzeigeprogramm des Präsidenten Lula da Silva spektakulär billig erscheint: Die Kosten betragen nur etwas mehr als ein Prozent des nationalen Staatshaushalts und nur 0,4 Prozent des Bruttosozialprodukts.
[...] Rosalina und ihre Familie haben einen Hektar Land, ein paar Hühner, sie bauen Mais, Wassermelonen und Bohnen an. Durch den Verkauf der Eier und ab und zu etwas Mais verdient die Familie durchschnittlich 40 Real im Monat, "mal mehr und mal weniger, das hängt vom Regen ab", erklärt sie und lächelt schüchtern. Behutsam steckt Rosalina ihre Karte in den Geldautomaten, und das Einkommen ihrer Familie verdreifacht sich: 80 Real, umgerechnet 28 Euro, bekommt sie ausgezahlt.
Bolsa Familia ist ein klassisches Programm zum Einkommenstransfer: Die Ärmsten im Lande bekommen Geld. Familien mit einem monatlichen Haushaltseinkommen von weniger als 120 Real (gut 40 Euro) pro Kopf erhalten je nach wirtschaftlicher Lage und Kinderzahl einen Zuschuss von 15 bis 95 Real. Was so einfach klingt, ist in einem riesigen Land wie Brasilien aber ein logistisches Mammutunternehmen. Eigens für das Programm wurde ein einheitliches landesweites Personenregister geschaffen. Der Verwaltungsaufwand ist groß, zumal die Auszahlung nach dem Vorbild einer neuen Generation südamerikanischer Sozialprogramme wie Progresa in Mexiko und Familias en Acción in Kolumbien an Bedingungen geknüpft ist: Die Empfänger müssen sicherstellen, dass die Kinder ihre Schutzimpfungen bekommen und 85 Prozent Anwesenheit in der Schule zeigen. [...]
Trotzdem stößt das Programm bei einigen Experten auf erhebliche Kritik. "Bolsa Familia ist eine Übergangslösung, um die größte Not zu lindern", sagt zum Beispiel Oded Grajew, ein ehemaliger Berater Lulas. "Bisher hat die Regierung kein zufriedenstellendes Konzept dafür entwickelt, wie die Leute einmal unabhängig von Bolsa Familia werden sollen." Wenn nämlich mal wieder länger kein Regen fällt oder wenn Bolsa Familia eines Tages wieder abgeschafft wird, wären Leute wie [...] Rosalina im besten Fall wieder genau dort, wo sie vor Lula da Silvas Regierungsantritt waren. [...]
Marcelo Neri von der Getulio-Vargas-Stiftung hält das zwar nicht für sinnvoll, einen Ausbau in anderer Weise aber schon. "Es muss jetzt darum gehen, Bolsa Familia zu verbessern und den Leuten verstärkt Auswege aus der Armut aufzuzeigen", sagt Marcelo Neri von der Getulio-Vargas-Stiftung. Vielleicht gelingt das in der nächsten Überarbeitung des Programms.
Anne Grüttner, "Hilfe für den Augenblick", in: Die Zeit vom 14. Dezember 2006
Umwelt und nachhaltige Entwicklung
Von Wolfgang Hein
Die Umweltdebatte über, aber auch in Lateinamerika entzündete sich zunächst vor allem an der Zerstörung des Regenwaldes. Meist stand das Amazonasgebiet im Mittelpunkt der Diskussion, aber auch die Zerstörung der Regenwälder in Zentralamerika und der Karibik, der Reste des atlantischen Regenwalds entlang der brasilianischen Küste sowie der Regenwälder der gemäßigten Zone im Süden Chiles sind ähnlich problematisch. Vor allem seit den 1950er Jahren ist eine rasche Abnahme der Regenwaldflächen zu beobachten (zwischen 1990 und 2005 etwa 43000 Quadratkilometer/Jahr). Bei genauerer Betrachtung erschließt sich schnell, dass die "Abholzung" zur wirtschaftlichen Nutzung tropischer Edelhölzer bei Weitem nicht das Hauptproblem darstellt. Noch weniger gilt das für die häufig kritisierte Brandrodungswirtschaft, die in traditioneller kleinräumiger Form eine Regeneration des Regenwaldes auf den entsprechenden Flächen ermöglicht und damit durchaus nachhaltigen Charakter haben kann. Die Umwandlung in Weideland für eine extensive Viehwirtschaft, aber auch für ausgedehnte Siedlungsgebiete von Kleinbauern und für den zunehmend großflächigen Anbau von Feldfrüchten (vor allem Soja) fördern die Erosion (übermäßige Abtragung), reduzieren die Wasserspeicherungskapazität und schließlich die Regenerationsfähigkeit des Bodens. Schon in mittelfristiger Perspektive handelt es sich dabei auch um eine enorme ökonomische Verschwendung, da die Nachhaltigkeit der neuen Nutzungsformen sehr zweifelhaft ist. Gravierender noch ist die grundlegende Veränderung der Ökosysteme. Mit der Vernichtung der Regenwälder wird einer der großen Speicher von Kohlendioxid zerstört, und es gehen die - teilweise noch unbekannten - genetischen Ressourcen verloren, die in der hohen biologischen Artenvielfalt der Regenwälder enthalten sind. Lateinamerika ist der artenreichste Kontinent überhaupt. Eine neue Gefahr stellt die rasch wachsende Nachfrage nach Biotreibstoffen dar.
QuellentextEthanol statt Öl
Schon in den 1970er Jahren, angeregt durch die erste Ölkrise 1973, begann Brasilien nach Alternativen für den fossilen Energieträger zu suchen. Das im Jahr 1975 gestartete Programm PRO-ÁLCOOL verfolgte jedoch nicht nur das Ziel, die Ölabhängigkeit des Landes zu verringern, sondern versuchte gleichzeitig, der durch den Preisverfall bedrohten Zuckerrohrproduktion eine Perspektive für die Zukunft zu geben. Der brasilianischen Bevölkerung wurde das Ethanolprogramm vor allem als soziales Entwicklungsprogramm für die ländlichen Räume nahegebracht.
Zwei Entwicklungen bewirkten eine Renaissance des brasilianischen Ethanolprogramms seit dem Jahr 2003: Zum einen waren die Preise für Erdöl zu diesem Zeitpunkt wieder stark angestiegen, während die Zuckerpreise auf dem Weltmarkt einen historischen Tiefstand erreicht hatten. Für die Zuckerrohrproduzenten wurde die Ethanolherstellung daher wieder gewinnbringender als die Produktion von Zucker. Zum anderen bedeutete die Entwicklung des "Flex-Fuel"-Autos, das mit einer beliebigen Mischung aus herkömmlichem Treibstoff und Ethanol fahren kann, den Durchbruch für die Wiederaufnahme des Ethanolprogramms. Je nach Preisentwicklung können sich die brasilianischen Autofahrer für einen der beiden Treibstoffe oder eine Mischung entscheiden und sind damit besser gegen Preisschwankungen auf den Rohstoffmärkten abgesichert. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung verzeichnete der Zuckerrohr-Treibstoff wieder eine verstärkte Nachfrage bei den Autofahrern und deckt mittlerweile circa 40 Prozent desgesamten Kraftstoffverbrauchs.
Nachdem die Produktion von alkoholbetriebenen Fahrzeugen Ende der 1990er Jahre fast zum Erliegen gekommen war, stellten die "Flex-Fuel"-Autos schon zwei Jahre nach ihrer Einführung mehr als die Hälfte aller Neuwagen. Doch die Motoren der neuen alkoholbetriebenen Autogeneration erlauben nicht nur, den Treibstoff nach der Entwicklung der Rohstoffpreise auszuwählen, auch die Zuckerrohrproduzenten können ihre Produktion je nach Preisverhältnis innerhalb weniger Tage von Ethanol auf Zucker umstellen.
Neben dem internen Markt sieht Brasilien vor allem im Export seines Ethanols ein großes Potenzial für die Zukunft. Schon jetzt exportiert das lateinamerikanische Land sein Zuckerrohrethanol in die Vereinigten Staaten, die Europäische Union und nach Japan. Eine große Chance für den Export des brasilianischen Ethanols bieten die neuen Richtwerte zur Ethanolbeimischung, die in diesen Ländern in den nächsten Jahren in Kraft treten werden. Der weltweit größte Ethanolexporteur kann den Biotreibstoff um ein Vielfaches günstiger produzieren als die USA und Europa und rechnet deshalb in Zukunft mit neuen Märkten in Übersee. Die Produktion von Biokraftstoff, von der bisher nur etwa 15 Prozent in den Export gehen, soll daher stark ausgeweitet werden.
So soll die brasilianische Ethanolproduktion in den nächsten zehn Jahren auf jährlich 30 Mrd. Liter erhöht und damit praktisch verdoppelt werden. Momentan nimmt die für die Treibstoffproduktion genutzte Anbaufläche zwar erst 3,5 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche Brasiliens ein, doch der Anbau wird schon jetzt um 20 Prozent pro Jahr ausgeweitet. Eine Ausdehnung der Produktion in dieser Größenordnung setzt jedoch voraus, dass andere landwirtschaftliche Produktionszweige, beispielsweise der Anbau von Nahrungsmitteln, eingeschränkt werden oder Flächen herangezogen werden, die bisher nicht landwirtschaftlich genutzt wurden. Zu diesen bisher nicht erschlossenen Flächen gehört, wie die Erfahrung zeigt, häufig der ohnehin schon bedrohte Amazonasregenwald. [...] Aus diesem Grund sollte das Entwicklungspotenzial einer exportorientierten Biokraftstoffproduktion in Lateinamerika kritisch beurteilt werden. Wenn die Produktion von erneuerbaren Energieträgern nur dazu beiträgt, das alte Entwicklungsmuster der extensiven und stark mechanisierten Rohstoffproduktion zu verstärken, und dabei die Umwelt extrem belastet wird, ist es fraglich, ob "alternative Energien" einen alternativen Entwicklungsweg für Lateinamerika ebnen.
Detlef Nolte / Christina Stolte, Machtressource Bioenergie, GIGA Focus Lateinamerika 3/2007
Die letztlich irrationale Nutzung und Zerstörung von Regenwaldregionen wurde zu einem beträchtlichen Teil forciert durch die Strukturanpassungsprozesse infolge der Verschuldungskrise,die auf eine kurzfristige Steigerung der Exporterlöse abzielten. Aufgrund der gewachsenen Wirtschaftsstruktur Lateinamerikas und der internationalen Nachfrage ließen sich diese Exporterlöse am ehesten erzielen, indem Rohstoffe ausgeführt, Kapazitäten im Bereich von Holz- und Fleischproduktion ausgeschöpft und mineralische Rohstoffvorkommen wie Öl und Gold in den Wäldern abgebaut wurden. Bei gleichzeitig herrschender extremer sozialer Ungleichheit ergab sich eine für die Regenwälder fatale Kombination aus armutsbedingter Gewinnung von Siedlungsland und profitorientierten Investitionen.
Eine armuts- bzw. knappheitsbedingte Zerstörung von natürlichen Ressourcen und Lebensräumen gefährdet allerdings nicht nur die Regenwälder. Armut hat dazu geführt, dass verbreitet Böden landwirtschaftlich genutzt werden, die zwar kurzfristig Erträge zum Überleben erlauben, aber extrem nährstoffarm und erosionsgefährdet sind. 15,7 Prozent der Fläche Lateinamerikas werden bereits als "degradiert" bezeichnet - eine Folge von Entwaldung und Fehl- bzw. Übernutzung von Böden. Die Besiedlung von Hanglagen in urbanen Regionen, meist in Form von Landbesetzungen, hat bereits häufig nach starken Regenfällen zu fälschlicherweise so genannten "Natur"-Katastrophen geführt.
Die Modernisierung der Landwirtschaft hat wiederum ganz andere Umweltprobleme mit sich gebracht: einen übermäßigen Einsatz von Kunstdünger und Pestiziden insbesondere in der Plantagenwirtschaft (Bananen, Baumwolle), aber auch beim Anbau neuer Exportprodukte wie Blumen und Zierpflanzen und beim intensiven Gemüseanbau für den urbanen Konsum. Dies führt sowohl zu gesundheitlichen Risiken für die landwirtschaftlichen Produzenten (Vergiftungen, hohe Raten von Magenkrebs in Regionen des Intensivanbaus), als auch zu hohen Belastungen der produzierten Nahrungsmittel und der Gewässer. Viele Flüsse sind durch die Entsorgung organischer Abfälle (etwa bei der Kaffeeaufbereitung und Verarbeitung von Zuckerrohr) stark belastet. Dazu entstehen Probleme durch Bewässerungssysteme, die mit ihrem hohen Wasserbedarf den Wasserhaushalt gefährden und unter ungünstigen Bedingungen auch zur Versalzung der Bewässerungsanlagen selbst geführt haben.
Negative Auswirkungen auf die Ökosysteme ländlicher Regionen gehen auch von der Fischwirtschaft (Zerstörung von Mangroven durch die Krabbenzucht, Belastung von Küstengewässern durch Nährstoffzufuhr bei der Lachszucht) sowie zunehmend auch vom Tourismus aus. Letzterer kann vor allem Küstenökosysteme in vielfältiger Weise gefährden, und zwar durch die Hotel- und Vergnügungsanlagen selbst, durch die unsachgemäße Entsorgung von Müll und Fäkalien, aber auch durch problematische Formen der Naturbeobachtung (etwa: Störung der Eiablage von Schildkröten an Stränden).
Der hohe Urbanisierungsgrad bringt es mit sich, dass die typischen Umweltprobleme der Industrieländer auch in Lateinamerika zu finden sind - im Allgemeinen in sehr viel extremerer Form, da eine korrigierende umweltpolitische Regulierung entweder nicht existiert oder (noch) nicht konsequent durchgesetzt wurde. Als urbane Umweltbelastungen erweisen sich vor allem die Luftverschmutzung durch Industrie und Verkehr sowie Entsorgungsprobleme. LETZTERE haben verschiedene Dimensionen: Zum einen gibt es vor allem in ärmeren Stadtteilen häufig keine funktionierende Infrastruktur für die Abwasserbeseitigung und für die Sammlung von festen Abfällen, was sowohl die Gewässer als auch die Böden belastet. Zum anderen wird jedoch auch der eingesammelte Müll nur unzureichend behandelt. Überquellende Mülldeponien belasten ebenfalls Grundwasser und offene Gewässer und verstärken die Luftverschmutzung durch kontinuierliche Emissionen, aber auch durch ihr unkontrolliertes Abbrennen. Moderne Müllverbrennungs- und Kläranlagen sind nur vereinzelt zu finden. Darüber hinaus hat auch eine wenig effiziente Versorgung gravierende ökologische Folgen. Hier ist vor allem an Defizite der Wasserversorgung zu denken, da defekte Leitungssysteme zu einem erheblichen Ressourcenverlust führen. Auch in allen Bereichen der Energienutzung gibt es außer tendenziell steigenden Preisen kaum effektive Regulierungen zur Steigerung der Effizienz (zum Beispiel Anreize zur Nutzung von Solarenergie oder zu energieeffizientem Bauen mit dem Ziel, etwa den Einsatz von Klimaanlagen zu reduzieren).
Seit den 1990er Jahren sind allerdings in vielen lateinamerikanischen Ländern eine zunehmende Umweltdiskussion und stärker werdende Umweltbewegungen zu beobachten. Die Konferenz der Vereinten Nationen über Umwelt und Entwicklung in Rio de Janeiro 1992 hat auch zu verstärkten staatlichen Aktivitäten im Umweltbereich geführt - wenngleich sie auch nur langsam Ergebnisse erzielen. Immerhin gibt es in allen Ländern inzwischen eine umfassende, mehr oder weniger wirksame Umweltgesetzgebung.
Unter anderem haben neue Vorschriften zur technischen Überwachung und Investitionen bei öffentlichen Verkehrsmitteln dazu geführt, dass der Fahrzeugpark in den letzten Jahren erheblich modernisiert wurde und schadstoffärmere Autos häufiger anzutreffen sind als früher. Die Systeme öffentlicher Verkehrsmittel wurden in vielen Städten verbessert, und auch die Benutzung von Fahrrädern hat erheblich zugenommen; so wurde zum Beispiel in der kolumbianischen Hauptstadt Bogotá ein Netz von Fahrradwegen ausgebaut. Auch die Luftverschmutzung durch Industriebetriebe wird zunehmend kontrolliert, und die Abfallbeseitigung steht im Mittelpunkt vieler Projekte.
Als Beispiele für internationale Zusammenarbeit seien das Projekt eines zentralamerikanischen biologischen Korridors (zentralamerikanische Kooperation zum Schutz der natürlichen Ressourcen und der Biodiversität) und die Organisation der Amazonas-Anrainerstaaten (Organização do Tratado de Cooperação Amazônica) mit einem strategischen Plan für nachhaltige Entwicklung im Amazonasbecken genannt. Die steigende Nachfrage in den Industrieländern nach Produkten aus ökologischem Anbau hat Anreize für eine langsame Umorientierung der land- und forstwirtschaftlichen Exportproduktion hin zu nachhaltigeren Anbaumethoden gegeben (so etwa Zertifizierungsprogramme für Tropenhölzer). Das Kyoto-Abkommen ermöglicht den Industrieländern darüber hinaus mit dem so genannten Clean Development Mechanism, Verpflichtungen zur Reduktion von CO2-Emissionen nachzukommen, indem sie zum Beispiel Wiederaufforstungsprojekte in den Entwicklungsländern finanzieren.
QuellentextWer schützt den Regenwald?
[...] Matamoros - eine Siedlung [...] mitten im Nationalpark Patuca im Osten Honduras. [...] Mehr als 3700 Hektar Regenwald. Von der Hauptstadt Tegucigalpa in das Dschungeldorf ist es eine Reise von zwei Tagen. [...]
Seit 1997 ist die Region entlang dem Fluss als Nationalpark vom honduranischen Staat ausgewiesen und dennoch seit Jahren von massiver Abholzung bedroht. Immer mehr Siedler drängen aus dem verarmten Süden des Landes in den Nationalpark, schlagen die Bäume und bauen Mais, Bohnen und Bananen an. [...] Das Prinzip ist so einfach wie zerstörerisch: Die Siedler, die sogenannten Campesinos, kommen in den Wald, roden das Land und beackern es lediglich für den Eigenbedarf. Geld verdienen sie erst nach Jahren, dann, wenn sie das Land an Viehzüchter aus den honduranischen Metropolen verkaufen. Die Siedler ziehen immer weiter, die Großgrundbesitzer rücken nach.
Don Chico ist kein Siedler. Seit fünf Jahren lebt und arbeitet er als Verwalter für die Asociación Patuca in Matamoros auf einer sogenannten Modellfinca. Die Asociación mit Sitz in Tegucigalpa wurde maßgeblich gegründet von Hauke Hoops, einem deutschen Biologen. [...] Hoops ist [...] Präsident der deutschen Sektion des Patuca-Vereins, der vor allem versucht, Gelder für die Arbeit in Honduras einzuwerben und Öffentlichkeitsarbeit in Sachen Regenwaldschutz zu betreiben. In Deutschland nahezu unbekannt, genießt Patuca in Honduras großes Ansehen: Im vergangenen Jahr wurde der kleinen Organisation der staatliche Umweltpreis verliehen und bereits 2005 offiziell das Umweltmanagement für den Park übertragen - letztendlich mehr Bürde als Ehre.
Begonnen hat Hoops mit der Arbeit im Park in Matamoros. Dort hat die Asociación zunächst Land erworben, um es vor dem Kahlschlag zu bewahren. In der Szene ist der Kauf von Land zu Umweltschutzzwecken umstritten, Patuca behält es sich dennoch als "letzte Lösung" vor. In Matamoros entstanden ein Wohnhaus, eine Schule und ein Mustergarten: Edelhölzer neben Bananen und Kakao. Die Finca soll zeigen, wie es gehen könnte mit der Wirtschaft und dem Umweltschutz. [...]
Viele der Siedler sind erst in den vergangenen zehn Jahren in die Region gelangt. Die wenigsten können lesen und schreiben, deshalb hat die Asociación zunächst auf den Bau von Schulen gesetzt. Ziel ist es letztlich, die Siedler möglichst an einem Ort zu halten. Das allerdings widerspricht den Interessen der Viehzüchter, die auf die Vorarbeit der Siedler angewiesen sind und ihnen dafür regelmäßig viel Geld bieten. [...]
Die Folgen der Rodungen sind gravierend: Der Grundwasserspiegel sinkt, Frischwasserquellen versiegen, bei starken saisonalen Regenfällen im Winter rutschen immer wieder ganze Hänge ab. Zurück bleibt baumloses Ödland. "Die Böden sind für immer zerstört", betont [Edgar] Castro [studierter Forstwissenschaftler und so genannter Techniker der Asociación Patuca - Anm. d. Red.]. Irgendwann seien die Rodung und die Austrocknung der Fläche zu weit fortschritten, als dass sich der Wald von selbst regenerieren könnte.
Die Region entlang dem Rio Patuca ist nur eine von drei großen Regenwaldschutzzonen in Honduras, die wiederum im Verbund mit Zonen in Nicaragua und Guatemala den mesoamerikanischen Biokorridor bilden. Herzstück dessen ist das Biosphärenreservat Rio Platano - ebenfalls in Honduras Nordosten. Während der Patuca-Park nur nationalen Schutz genießt, steht das benachbarte Rio-Platano-Reservat unter internationaler Beobachtung. Dort wird der honduranische Staat in die Pflicht genommen - Gelder für das aufwendige Protektorat kommen vor allem aus Deutschland. Im Auftrag des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) wurden seit 1996 rund 20 Millionen Euro Fördermittel bereitgestellt, in den kommenden Jahren sollen 6,7 Millionen folgen. Die Strukturen der internationalen Gebergemeinschaft einschließlich der Vereinten Nationen sind gewaltig. Selbst im Reservat hat die Umsetzungsorganisation des Bundesministeriums, die Gesellschaft für technische Zusammenarbeit (GTZ), ein aufwendiges Bürogebäude gebaut, wie es im gesamten Biosphärenkorridor seinesgleichen sucht. [...]
Eines jedenfalls hat die internationale Beharrlichkeit [...] für Gesamthonduras bewirkt: Im September vergangenen Jahres hat die Regierung nach zähem Ringen ein neues Forstgesetz verabschiedet. Jetzt, im März, ist es in Kraft getreten. Ob der Versuch der Politik Früchte tragen wird, das illegale Holz- und Siedelgeschäft einzudämmen, bleibt indes abzuwarten. Bislang wird rund 200 Prozent mehr Geld mit illegalem als mit legalem Holz verdient, Hauptabnehmer sind unter anderem die USA, Spanien und Großbritannien.
[...] Die staatliche schwedische Entwicklungszusammenarbeit hat sich in diesem Jahr nahezu komplett aus Honduras verabschiedet. Die Politik sei zu korrupt, eine sinnvolle und nachhaltige Umsetzung der Entwicklungshilfegelder könne nicht länger gewährleistet werden, hieß es dazu aus Stockholm. Das BMZ will bleiben, Honduras ist nach wie vor eines der Schwerpunktländer der deutschen Entwicklungszusammenarbeit. [...]
Wer an Holzhandel und Viehzucht tatsächlich verdient, wird öffentlich nicht gesagt. Für Edgar Castro ist aber klar: Auch wenn seine Organisation vom Staat den Managementauftrag für den Park bekommen hat, ist tatsächlicher Umweltschutz nur mit staatlicher Hilfe möglich. Das neue Gesetz verspricht zwar eine härtere Gangart gegenüber Umweltsündern, "aber wer soll das kontrollieren?", fragt Castro. Bislang fehlt es an geeigneten Konzepten - vor allem von staatlicher Seite aus. Aber im Dschungel spielt der Staat nach wie vor keine Rolle. [...] "Hier im Park gilt nur ein Recht", so Castro. "Das Recht des Stärkeren." Law and Order - im Zweifel gegen die Natur.
Gunnar Rechenburg, "Das Gesetz des Dschungels", in: Die Welt vom 19. Juni 2008