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Einleitung | Lateinamerika | bpb.de

Lateinamerika Editorial Einleitung Entwicklungen im 19. und 20. Jahrhundert Gesellschaft und Kultur Wirtschaft und soziale Lage Demokratien auf schwachem sozialen Fundament Lateinamerika in der internationalen Politik Wohin steuert Lateinamerika? Karten Literaturhinweise und Internetadressen Autorinnen und Autoren, Impressum

Einleitung

Bert Hoffmann Detlef Nolte Bert Hoffmann Detlef Nolte

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Trotz der Zunahme der protestantischen Religion dominiert in den Ländern Lateinamerikas der katholische Glaube. (© AP)

Das vorliegende Heft gibt einen Überblick über die historische, wirtschaftliche, soziale und politische Entwicklung Lateinamerikas. Wobei zunächst einmal zu klären ist, was "Lateinamerika" meint und umfasst. Geprägt wurde dieser Begriff in der Mitte des 19. Jahrhunderts von südamerikanischen Intellektuellen. Nachdem ihre Länder die politische Unabhängigkeit erreicht hatten, suchten sie nach einem neuen Begriff für die gemeinsame Identität ihrer Region. Dieser sollte sich stärker als "Hispano-Amerika" oder "Iberoamerika" von den ehemaligen Kolonialmächten Spanien und Portugal abheben und sich gleichzeitig abgrenzen von der neuen, aufstrebenden Großmacht im Norden, die die Begriffe "USA" und "Amerika" fast synonym für sich verwendete. Eine Lösung - die allerdings die von den europäischen Eroberern und Einwanderern besiegten und verdrängten indigenen Kulturen desKontinents ausblendete - bot sich im Rückgriff auf den gemeinsamen sprachlichen Ursprung, das Lateinische, als verbindendes Identitätsmerkmal der Länder südlich des Río Grande. Diese bilden heute 19 Staaten: Argentinien, Bolivien, Chile, Costa Rica, Dominikanische Republik, Ecuador, El Salvador, Guatemala, Honduras, Kolumbien, Kuba, Mexiko, Nicaragua, Panama, Paraguay, Peru, Uruguay, Venezuela, in denen Spanisch gesprochen wird, sowie Brasilien, das einzige portugiesischsprachige Land der Region.

Während Haiti und andere französischsprachige Inseln der Karibik über den ebenfalls romanischen Ursprung ihrer Sprache ihre Zugehörigkeit zu "Lateinamerika" belegen können, bleiben die englischsprachigen Karibikinseln oder auch holländischsprachige Länder wie Surinam außerhalb der Definition. Trotzdem werden sie in Medien und Politik zumeist mitgedacht, wenn von Lateinamerika die Rede ist. Um diplomatische Verwicklungen zu vermeiden, hängen offizielle Organisationen deshalb inzwischen in der Regel hinter "Lateinamerika" ein "und die Karibik" an. So werden die alle zwei Jahre stattfindenden Präsidentengipfel der EU mit den Staatschefs der Region offiziell als "EU-LAC"-Gipfel bezeichnet, wobei "LAC" die Abkürzung für "Latin America and the Caribbean" darstellt.

Lateinamerikas Staaten 2008

Jenseits der Karibik werden im folgenden Text als Subregionen Nordamerika, Zentralamerika und Südamerika unterschieden. Zu Nordamerika gehören die USA, Kanada und Mexiko. Zentralamerika umfasst die Staaten auf der Landbrücke von Guatemala bis Panama. Zu Südamerika schließlich zählen geographisch wie politisch alle Festlandstaaten südlich von Panama. Für den Gesamtkontinent - Nord und Süd - bürgert sich auch im Deutschen zunehmend der dem englischen Sprachgebrauch entlehnte Plural "die Amerikas" ein.

In den vergangenen Jahren hat sich Lateinamerika politisch ausdifferenziert, die sozialen und wirtschaftlichen Unterschiede zwischen den Staaten sind größer geworden. So gehört beispielsweise Mexiko dem Zusammenschluss der Industrieländer, der OECD (Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) an. Gemeinsam mit Brasilien zählt es zu den fünf wichtigsten Schwellenländern (G 5), die sich regelmäßig zu Gesprächen mit den acht führenden Industrienationen (G8) treffen. Venezuela wiederum profitiert als Ölexportland von den steigenden Preisen für diesen Rohstoff, während Chile als Modell erfolgreicher Weltmarktintegration gilt. Auf der anderen Seite gehört Haiti zu den 50 am wenigsten entwickelten Ländern der Welt, in einzelnen Staaten - Bolivien, Honduras und Paraguay - lebten 2006 mehr als 60 Prozent der Bevölkerung in Armut. Im globalen Vergleich werden die meisten lateinamerikanischen Staaten jedoch der Ländergruppe mit mittlerem Entwicklungsniveau zugerechnet.

Die seit den 1990er Jahren weltweit verstärkten Bemühungen um den Abbau von Handelshemmnissen, um die Öffnung und Verflechtung von Volkswirtschaften haben tendenziell zu einer Aufspaltung Lateinamerikas beigetragen. Mexiko hat sich im Rahmen der Nordamerikanischen Freihandelszone NAFTA (engl. North American Free Trade Agreement), der außerdem Kanada und die USA angehören, wirtschaftlich noch fester an die nördlichen Nachbarn gebunden. Zentralamerika ist zusammengerückt und über ein Freihandelsabkommen gleichfalls eng mit den USA vernetzt. Im südlichen Lateinamerika hingegen bildet der Gemeinsame Markt des Südens MERCOSUR einen eigenständigen Anziehungspol. Seine Mitglieder sind Brasilien, Argentinien, Paraguay, Uruguay und Venezuela; die meisten anderen südamerikanischen Länder sind assoziiert. Darüber hinaus besteht mit der Union Südamerikanischer Nationen (UNASUR) ein politisches Kooperationsforum, das alle südamerikanischen Staaten einschließlich Guyanasund Surinams umfasst.

Was aber verbindet Lateinamerika trotz zunehmender Ausdifferenzierung? Neben der überwiegenden Zugehörigkeit zum romanischen Sprachraum ist es das gemeinschaftliche Erbe der kolonialen Vergangenheit als Teil des spanischen (bzw. portugiesischen) Weltreichs. So blieb auch nach der frühen Unabhängigkeit der Kolonien der europäische Einfluss stark, und die Staaten durchliefen ähnliche politische Entwicklungsphasen. Verbindend wirken kulturelle Charakteristika wie die Dominanz der katholischen Religion, die trotz der Zunahme protestantischer Glaubensgemeinschaften in den vergangenen Jahrzehnten bislang gewahrt bleibt. Weiterhin sind Übereinstimmungen in der Gesellschaftsstruktur und in der sozialen Entwicklung feststellbar, einschließlich einer überaus ungleichen Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums. Auch wirtschaftlich sehen sich die lateinamerikanischen Staaten oft mit vergleichbaren Entwicklungsprozessen und -herausforderungen konfrontiert. Schließlich bestehen Gemeinsamkeiten in der politischen Kultur und in den politischen Systemen, denn alle lateinamerikanischen Demokratien sind Präsidialsysteme.

Einigende Impulse gehen auch von übergreifenden Strukturen aus, die der politischen Zusammenarbeit in der westlichen Hemisphäre und zwischen den lateinamerikanischen Staaten dienen. Dazu zählt die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), der alle lateinamerikanischen Staaten, die USA und Kanada sowie die Karibikstaaten angehören (die Mitgliedschaft Kubas ist ausgesetzt). Die "Wirtschaftsorganisation für Lateinamerika und die Karibik" (span. Comisión Económica para América Latina y el Caribe, CEPAL), eine Organisation der Vereinten Nationen mit Sitz in Santiago de Chile, soll die wirtschaftliche und soziale Entwicklung der Region fördern. Und im Rahmen der jährlichen Iberoamerikanischen Gipfeltreffen kommen die Regierungschefs aller spanisch- und portugiesischsprachigen Staaten jährlich mit den Amtsinhabern in Spanien und Portugal zusammen, um über Kooperationsmöglichkeiten zu sprechen. Trotz vieler auseinanderstrebender Kräfte gibt es somit eine Vielzahl internationaler Organisationen, die die lateinamerikanischen Staaten zusammenbringen, sowie eine zwar teilweise diffuse, aber dennoch nicht zu unterschätzende gemeinsame lateinamerikanische Identität.

Dr. Bert Hoffmann, geb. 1966, ist Politikwissenschaftler und stellvertretender Direktor des GIGA Instituts für Lateinamerika-Studien in Hamburg. Zuvor war er am Lateinamerika-Institut der Freien Universität Berlin tätig. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen der politische und wirtschaftliche Transformationsprozess Kubas, die politischen Implikationen des Internets in Lateinamerika sowie die wachsende Bedeutung der Migranten als Politikakteure in Herkunfts- wie Aufnahmeland.

Kontakt: hoffmann@giga-hamburg.de

Prof. Dr., unterrichtet in den Studiengängen Politikwissenschaft und Lateinamerika-Studien an der Universität Hamburg. Er ist Vizepräsident des GIGA German Institute of Global and Area Studies / Leibniz-Institut für Globale und Regionale Studien in Hamburg und Direktor des zugehörigen GIGA Instituts für Lateinamerika-Studien. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die politischen Systeme Lateinamerikas, die Rolle Lateinamerikas in der internationalen Politik sowie Fragen der globalen und regionalen Machtarchitektur.

Kontakt: nolte@giga-hamburg.de