Mit Lateinamerika und der Karibik verbindet Europa eine mehr als 500-jährige Beziehung. Seit Christoph Kolumbus 1492 den Subkontinent für die Europäer entdeckte, bot dieser ihnen eine Projektionsfläche für Sehnsucht und Abenteuerlust, war aber auch - speziell im 19. und 20. Jahrhundert - Auswanderungsziel und Zufluchtsort vor wirtschaftlichen und politischen Bedrückungen.
Bis heute weckt die Region Assoziationen von grandioser, unberührter Natur und geheimnisvollen indianischen Mythen, die Kultur und Menschen Lateinamerikas vermitteln Eindrücke von Buntheit und Vitalität, in Filmen und Unterhaltungsliteratur ist die Karibik häufig Schauplatz von Abenteuern.
Andere Betrachtungsweisen verbinden mit Lateinamerika Bilder von Armut, Unrecht und Gewalt. Der Kampf gegen Unterdrückung und für eine gerechtere Gesellschaft schuf Helden, wie Che Guevara,dessen Portrait Jugendliche bis heute gerne auf ihren T-Shirts tragen. Ursache und Ausgangspunkt für Armut und Unrecht waren die Begehrlichkeiten, die die reichen Rohstoffvorkommen Lateinamerikas seit jeher auf sich zogen. Der Subkontinent wurde über drei Jahrhunderte lang zum Ausbeutungsobjekt der europäischen Kolonialmächte. Ihre Erträge aus der Erzförderung sowie aus dem Anbau von Kaffee, Zuckerrohr und Baumwolle waren nur möglich durch billige Arbeitskräfte. Zu diesem Zweck unterjochten die europäischen Eroberer die indigene Bevölkerung und importierten afrikanische Sklaven. Die Ressourcen Lateinamerikas bereicherten die Gesellschaften Europas und trugen zu dessen industrieller Entwicklung bei.
Nach der Unabhängigkeit der lateinamerikanischen Staaten seit 1825 verringerte sich die politische und ökonomische Bedeutung Europas zugunsten der USA, die das benachbarte Gebiet als ihre natürliche Einflusszone betrachteten. Die lateinamerikanischen Staaten wurden zu Entwicklungsländern, weiterhin geprägt durch den Vorrang der Rohstoffökonomie und die extreme Ungleichheit der Gesellschaft, die große Teile der einheimischen Eliten aus Eigeninteresse zeitweise mit autoritären Regierungssystemen und militärischer Gewalt aufrechterhielten. Armut, Ausbeutung und Perspektivlosigkeit breiter Bevölkerungsschichten sowie mangelnde politische Teilhabe sorgten jedoch für stetes Konfliktpotenzial, das sich besonders im 20. Jahrhundert in Bürgerkriegen und Guerillakämpfen Bahn brach.
Auf internationaler Ebene wurden diese Auseinandersetzungen instrumentalisiert im Zeichen des Ost-West-Konflikts, in dem die beiden Supermächte USA und Russland um den beherrschenden Einfluss in der Region rangen.
Seit den 1980er Jahren gelang auf breiter Frontdie Ablösung der bis dahin vorherrschenden Militärdiktaturen durch demokratischere Regierungen. Aber auch sie bleiben gefährdet durch wirtschaftliche Ungleichgewichte und Abhängigkeiten, müssen gesellschaftliche Disparitäten, Armut, weit verbreitete Korruption, Kriminalität und Gewalt meistern.
Hier bietet sich Europa mit seinen gewachsenen demokratischen Traditionen und seinen wirtschaftlichen Möglichkeiten eine Chance zu verstärktem Engagement. Nicht nur aus historischer Verantwortung, sondern auch aus vitalem Eigeninteresse, wenn es in Zeiten einer sich abzeichnenden Multipolarität nicht weiter an Gewicht in der Region verlieren will. Neben die USA, die jüngst an Einfluss eingebüßt haben, sind mit Asien und Russland neue Akteure getreten. Im Zeichen einer in den letzten Jahren international gewachsenen Nachfrage nach Rohstoffen ist Lateinamerika zu neuem Selbstbewusstsein gelangt. Hatten die lateinamerikanischen Staaten zuvor jahrelang im Zuge von Wirtschaftskrisen mit wechselhaftem Erfolg neoliberale Wirtschaftskonzepte befolgt, suchen sie in jüngster Zeit eigene Antworten auf die Globalisierung. In einer Phase, in der Wirtschaftskrisen bisherige Gewissheiten der internationalen Staatengemeinschaft auf den Prüfstand stellen, können sie damit eine Vorreiterrolle beanspruchen.
Die Autorinnen und Autoren des GIGA-Instituts für Lateinamerika-Studien, die an diesem Projekt beteiligt waren, haben sich der Herausforderung gestellt, den ganzen Subkontinent mit seiner ungeheuren Vielfalt in einem einzigen Heft darzustellen. Sie haben die immense Faktenfülle zu einem Konzentrat verdichtet, das bei aller Disparität Leitlinien in der politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklung der Region sichtbar macht. Interessierten bietet sich damit die Möglichkeit, Lateinamerika und die Karibik jenseits aller Klischees mit ihren Chancen und Herausforderungen kennen zu lernen.
Christine Hesse