Daseinsvorsorge als Sozialstaatsversprechen
Daseinsvorsorge – dazu gehören Schulen, Wasserversorgung, Hausärzte ebenso wie die Feuerwehr oder der Internetanschluss, kurz: alle lebensnotwendigen Dinge, die für die wohnortnahe Grundversorgung der Bevölkerung von Bedeutung sind. In Deutschland spielt die öffentliche Hand für die Gewährleistung dieser Einrichtungen, ihre Finanzierung, die rechtlichen Rahmensetzungen und ihre Umgestaltung eine zentrale Rolle. Aber auch private Unternehmen und freie Träger zum Beispiel der Wohlfahrtspflege stellen soziale und technische Infrastrukturen bereit und bewirtschaften diese. Angebote der Daseinsvorsorge spielen eine wichtige Rolle, um gleichwertige Lebensverhältnisse in ganz Deutschland zu erreichen, so die Akademie für Raumordnung und Landesplanung (ARL) in ihrem 2016 veröffentlichten Bericht "Daseinsvorsorge und gleichwertige Lebensverhältnisse neu denken". Dieses politische Ziel ist beispielsweise im Bundesraumordnungsgesetz verankert und gilt als räumliche Dimension des Sozialstaatsprinzips gemäß Grundgesetz Artikel 20 Abs. 1 "Die Bundesrepublik ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat".
Eigene Darstellung (© bpb)
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In modernen Sozialstaaten ist Daseinsvorsorge also das Versprechen auf soziale Teilhabe durch eine möglichst wohnortnah verfügbare, zumindest aber gut erreichbare Infrastruktur zu sozialverträglichen Kosten, so der Wirtschaftswissenschaftler Andreas Knorr 2005 (siehe Literatur zu Kapitel 3, im Kapitel
Heute sind die meisten dieser Einrichtungen selbstverständlich geworden und andere Themen, wie etwa der Breitbandausbau, rücken in den Vordergrund: Während die einen fordern, dass jeder "weiße Fleck" verschwinden müsse, argumentieren andere, dass nicht "an jeder Milchkanne" Hochleistungsinternet zur Verfügung stehen müsse bzw. könne. Schließlich verändern sich auch die Wege der Leistungsbereitstellung, etwa von öffentlich zu privatwirtschaftlich, von stationär zu mobil oder von analog zu digital. Neben technischen Innovationen, klammen kommunalen Haushalten sowie sich ändernden rechtlichen Rahmenbedingungen und Präferenzen der Nutzerinnen und Nutzer beeinflussen auch die Alterung und der Bevölkerungsrückgang in manchen Regionen den Wandel der Daseinsvorsorge.
© Thünen-Institut, 2020 Landatlas (www.landatlas.de), Ausgabe 2020, hg. vom Thünen-Institut für Ländliche Räume, Braunschweig 2020 (© Thünen-Institut, 2020 Landatlas (www.landatlas.de), Ausgabe 2020, hg. vom Thünen-Institut für Ländliche Räume, Braunschweig 2020)
© Thünen-Institut, 2020 Landatlas (www.landatlas.de), Ausgabe 2020, hg. vom Thünen-Institut für Ländliche Räume, Braunschweig 2020 (© Thünen-Institut, 2020 Landatlas (www.landatlas.de), Ausgabe 2020, hg. vom Thünen-Institut für Ländliche Räume, Braunschweig 2020)
Wohnortnahe Daseinsvorsorge aus Sicht der Bevölkerung
Ländliche Räume werden in der gesellschaftlichen Debatte um die Daseinsvorsorge meist als defizitär dargestellt. Und tatsächlich haben in den vergangenen Jahren viele Schulen und Läden geschlossen, wurden Öffnungszeiten reduziert, Haupt- durch Ehrenamtliche ersetzt, und Erreichbarkeiten haben sich verschlechtert. Gleichzeitig finden aber auch in ländlichen Räumen Erweiterungen und ein Ausbau von Daseinsvorsorge statt. Am eindrucksvollsten erfolgte dies in der jüngeren Zeit in den westdeutschen Ländern im Bereich der Kinderbetreuung und in den ostdeutschen Ländern in Teilen der technischen Infrastruktur, etwa durch den nahezu flächendeckenden Anschluss an die Kanalisation. Gleichzeitig nehmen die Bürgerinnen und Bürger nicht selten ihr Schicksal selbst in die Hand, gründen Dorfläden oder fahren Bürgerbusse. Dabei kämpfen sie mit manch bürokratischer Hürde – sei es in Gestalt komplizierter Antragsformulare, sich oftmals wandelnder Förderprogramme, differenzierter Gemeinnützigkeitsregeln des Vereinsrechts oder in Form von komplexen Haftungs- und Steuerfragen.
© Thünen-Institut, 2020 Stefan Neumeier, Berechnungen nach dem Thünen-Erreichbarkeitsmodell, 2019; administrative Grenzen: vg250 Bundesamt für Kartographie und Geodäsie, 2016 (© Thünen-Institut, 2020 Stefan Neumeier, Berechnungen nach dem Thünen-Erreichbarkeitsmodell, 2019; administrative Grenzen: vg250 Bundesamt für Kartographie und Geodäsie, 2016)
© Thünen-Institut, 2020 Stefan Neumeier, Berechnungen nach dem Thünen-Erreichbarkeitsmodell, 2019; administrative Grenzen: vg250 Bundesamt für Kartographie und Geodäsie, 2016 (© Thünen-Institut, 2020 Stefan Neumeier, Berechnungen nach dem Thünen-Erreichbarkeitsmodell, 2019; administrative Grenzen: vg250 Bundesamt für Kartographie und Geodäsie, 2016)
In der Gesamtschau belegen weder bundesweite Erreichbarkeitsanalysen noch standardisierte Befragungen ein flächendeckendes Fehlen nahräumlicher Grundversorgungseinrichtungen in ländlichen Räumen. Dennoch sind die Unterschiede bemerkenswert. Am Beispiel der medizinischen Versorgung hat Stefan Neumeier am Thünen-Institut unter anderem untersucht, inwieweit spezielle Arztpraxen erreichbar sind. Erreichbarkeit ist dabei ein statistischer Wert, der von einem über ganz Deutschland gelegten Raster von 250 mal 250 Metern ausgeht. Die computerbasierte Erreichbarkeitsanalyse ermittelt die Arztpraxis, die dem Zellenmittelpunkt eines Rasters jeweils am nächsten liegt. Sind Haus- und Zahnarztpraxen diesen Analysen zufolge in ländlichen Räumen von 55 bzw. 54 Prozent der Bevölkerung fußläufig in 15 Minuten erreichbar, liegt der gleiche Wert in nicht-ländlichen Räumen bei 84 bzw. 82 Prozent. Bei Kinderärzten beträgt der Bevölkerungsanteil, der die nächste Praxis in 15 Minuten zu Fuß erreichen kann, in ländlichen Räumen gerade einmal 17 Prozent, bei Augenärzten 13 Prozent und bei Hals-Nasen-Ohren-Ärzten 10 Prozent. Die entsprechenden Werte für nicht-ländliche Räume liegen bei 42, 33 bzw. 30 Prozent. Bemisst man die Erreichbarkeit des nächsten Hausarztes in Pkw-Fahrzeit, so beträgt diese sowohl in ländlichen als auch nicht-ländlichen Räumen für knapp 100 Prozent der Bevölkerung maximal 15 Minuten.
QuellentextLandarzt sein gegen den Trend
[…] In Groß-Umstadt leben gut 21.000 Menschen […]. Der Ort liegt im nördlichen Odenwald. Darmstadt und Aschaffenburg sind jeweils etwa eine halbe Autostunde entfernt, bis Frankfurt ist es eine Stunde. Nicht wirklich Land, aber doch ländlich. […]
Sebastian List ist 33 Jahre alt und arbeitet seit ein paar Monaten in einer Hausarztpraxis in seiner Heimatstadt. Es sind die letzten Monate seiner fünfjährigen Weiterbildungszeit zum Facharzt für Allgemeinmedizin. Ende Januar macht er die Facharztprüfung, und wenn alles gut läuft, bleibt er danach gleich hier – nicht als angestellter Arzt, wie so viele seiner Kollegen, sondern am liebsten mit einer vollwertigen Niederlassung. […]
Mit seiner Entscheidung, einen Arztsitz in Groß-Umstadt zu übernehmen, ist Sebastian List in doppelter Hinsicht eine Ausnahme. Zum einen wollen viele Ärzte in den Metropolen bleiben und nicht aufs Land gehen, um dort zu praktizieren. Denn während die Städte meist überversorgt sind, können auf dem Land in der Regel längst nicht alle Praxen besetzt werden. Allein in Hessen hat die Kassenärztliche Vereinigung (KV), der Zusammenschluss der niedergelassenen Ärzte, derzeit 106 Hausarztstellen ausgeschrieben. Zum anderen zeigen Umfragen, dass gerade junge Ärzte lieber als Angestellte arbeiten wollen, anstatt als Selbständige einen Kassensitz zu führen. Das unterscheidet sie von älteren Generationen, in denen es üblich war, nach der Weiterbildung eine eigene Praxis zu übernehmen.
Das Modell ermöglichte zwar vielen Medizinern ein sehr gutes Einkommen, allerdings waren damit teilweise exorbitante Arbeitszeiten verbunden sowie die Verantwortung für komplizierte Abrechnungen mit den Krankenkassen. Darauf haben viele junge Ärzte keine Lust mehr, für eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf verzichten sie auf einen Teil des Einkommens und lassen sich dafür bevorzugt anstellen – mit einem Arbeitsvertrag, der die Arbeitszeit klar regelt und begrenzt. Sebastian List hat sich zweimal dagegen entschieden, gegen die Großstadt und gegen die Sicherheit des Angestelltseins. In seiner Praxis sind derzeit zwei Ärzte tätig, mit ihm werden es übergangsweise drei sein, bis eine heute 63 Jahre alte Medizinerin irgendwann aufhört. "Eine eigene Praxis würde ich jetzt aber nicht aufmachen", sagt er. "Die ganzen Formalitäten muss man erst einmal lernen." […]
Um junge Ärzte aufs Land zu locken, lassen sich die Kassenärztlichen Vereinigungen einiges einfallen. In Hessen zahlt die KV Medizinstudenten aus ganz Deutschland bis zu 595 Euro pro Monat, wenn sie eines der verpflichtenden zweimonatigen Praktika in einer hessischen Hausarztpraxis absolvieren, die in einem Ort mit weniger als 25.000 Einwohnern liegt. Seit 2017 hat die Vereinigung 1500 Anträge genehmigt und dabei Fördergelder in Höhe von 850.000 Euro ausgezahlt – in der Hoffnung, dass die Studenten eines Tages zurückkehren. Ein anderer Fördertopf zielt auf die Weiterbildungszeit. Für jeden Monat, den ein Assistenzarzt in einer kleinen Gemeinde mit Unterversorgung verbringt, kann er später Geld bekommen, wenn er auf dem Land einen Kassensitz übernimmt.
Seit 2017 hat die KV neun solcher Anträge genehmigt, Tendenz steigend, wie eine Sprecherin bestätigt. Am Ende wird auch Sebastian List zwei Jahre seiner Weiterbildungszeit im ländlichen Raum verbracht und damit Anspruch auf die Höchstförderung von 24.000 Euro haben. "Ohne diese Förderung hätte ich wohl länger überlegt, mich doch erst mal anstellen zu lassen", sagt er. "Ich wäre aber auch so wieder in die Region zurückgekommen." Um einen Praxissitz zu übernehmen, müssen junge Ärzte sich vielfach einkaufen und – wie im Fall von Sebastian List – einen höheren fünfstelligen Betrag aufbringen, manchmal auch mehr.
Im äußersten Osten der Republik hat Jens Drahonovsky in dieser Woche eigentlich keine Sprechstunde, eine Erkältung hat den Arzt erwischt. Aber der 46 Jahre alte Familienvater sitzt trotzdem am Schreibtisch in seiner Praxis in Sachsen, auf der Patientenliege stapeln sich die Akten. Immer wieder kommt eine Mitarbeiterin herein mit Rezeptwünschen von Patienten, Unterschriften, wichtigen Anrufen. Drahonovsky lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. "Landarzt ist der beste Beruf, den es gibt", sagt er. Im Jahr 2010 kehrte er nach Rothenburg zurück, einem kleinen Ort in der Oberlausitz, und übernahm die Praxis seiner Mutter. Sie war da schon 77 Jahre alt und hatte so lange gearbeitet, weil sie keinen Nachfolger fand und überdies kaum Rente bekam – bei der Wiedervereinigung war sie bereits zu alt, um noch in ein Versorgungswerk der Ärzte aufgenommen zu werden.
[…] [I]n seiner Praxis in Rothenburg […] stehen die Leute [montags] schon mal bis zum Haupteingang die Treppe runter. Sprechstunde ist eigentlich nur bis zwölf Uhr, dauert aber meist zwei Stunden länger. Danach erledigt Drahonovsky die Post, liest Befunde, schreibt Gutachten und macht Hausbesuche, manchmal fährt er bis zu dreißig Kilometer zu einem Patienten. "Das geht dann schon mal so bis 22 Uhr", sagt er. […]
Vor zwei Jahren schloss eine Praxis im Ort, seitdem hat sich die Zahl seiner Patienten verdoppelt. 1700 Leute behandelt er heute im Quartal. "Ich könnte so wie andere die Patienten ablehnen, aber das mache ich nicht", sagt er. […]
Kim Björn Becker, Groß-Umstadt / Stefan Locke, Rothenburg / Rüdiger Soldt, Hausach, "Praxis zu verschenken", in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 27. Dezember 2019 © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv
Potenzielle Erreichbarkeiten statistisch zu ermitteln, ist eine Möglichkeit, um zu untersuchen, wie es um die Ausstattung mit Daseinsvorsorge in ländlichen Räumen bestellt ist. Eine andere Option besteht darin, die Betroffenen selbst zu fragen. Eine 2016 in ländlichen Räumen durchgeführte repräsentative Bevölkerungsbefragung des Thünen-Instituts zeigt, dass die dort erfragten Einrichtungen der wohnortnahen Versorgung im Umkreis von zehn Kilometern für die meisten Befragten verfügbar sind. Die geringsten Werte weisen kleine Lebensmittelläden, weiterführende Schulen und spezialisierte Geschäfte etwa für Haushaltsgeräte und Möbel auf (siehe Joachim Kreis 2020, Literatur zu Kapitel 3, im Kapitel
Thünen-Allgemeinbefragung in ländlichen Räumen 2016 (personengewichtete Werte) (© Thünen-Allgemeinbefragung in ländlichen Räumen 2016 (personengewichtete Werte))
Thünen-Allgemeinbefragung in ländlichen Räumen 2016 (personengewichtete Werte) (© Thünen-Allgemeinbefragung in ländlichen Räumen 2016 (personengewichtete Werte))
Den Antworten war freilich nicht zu entnehmen, was fehlende Versorgungsinfrastruktur tatsächlich für die Bewältigung des Alltags in ländlichen Räumen bedeutet. Deshalb wurden diejenigen, die fehlende Einrichtungen und Dienstleistungen benannt hatten, nachfolgend gefragt, ob dies für sie mit Alltagserschwernissen einherginge. 180 Befragte (10 Prozent aller Befragten) bejahten diese Frage für mindestens eine der vorgegebenen Einrichtungen. Am häufigsten war dies für spezialisierte Versorgungseinrichtungen (z. B. zum Kauf von Möbeln) der Fall (absolut: 99 Nennungen). Mit großem Abstand dahinter folgten kleine Läden für den täglichen Bedarf (37 Nennungen). Bezogen auf die Altersgruppen fand sich der höchste Anteil derer, die mindestens einmal Alltagserschwernisse nannten, unter den Befragten zwischen 25 und 49 Jahren (14 Prozent im Vergleich zu 10 bzw. 11 Prozent bei den 65- bis 74-Jährigen bzw. den Befragten im Alter ab 75 Jahren). Mutmaßlich ist die Vielzahl der zu koordinierenden Wege im Spannungsverhältnis von Erwerbstätigkeit und Familienarbeit der Hauptgrund, weshalb die jüngeren und mittleren Altersgruppen fehlende Einrichtungen im Wohnumfeld vergleichsweise häufiger als erschwerend bezeichneten.
Im Folgenden werden zwei Bereiche der Daseinsvorsorge und die aktuellen Herausforderungen, mit denen sich die Angebots- und die Nachfrageseite in ländlichen Räumen konfrontiert sehen, genauer dargestellt.
Beispiel Nahversorgung
Unter Nahversorgung wird die ortsnahe Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen des täglichen Bedarfs verstanden. Um auch Personen mit eingeschränkter Mobilität eine selbstständige Versorgung zu ermöglichen und um den Autoverkehr zu begrenzen, besteht das politische Ziel, die Nahversorgung fußläufig sicherzustellen, wobei eine Entfernung von zehn Gehminuten oder 1000 Metern veranschlagt wird. Neben der reinen Versorgung haben die Angebote, wie Lebensmittelgeschäfte, Post oder Banken, auch eine wichtige soziale Funktion als Treffpunkt im Ort. Aktuelle Erreichbarkeitsberechnungen des Thünen-Instituts zeigen jedoch, dass mehr als die Hälfte der ländlichen Bevölkerung kein Lebensmittelgeschäft fußläufig (d. h. in 1000 Metern) erreichen kann. In nicht-ländlichen Räumen trifft dies nur auf ein gutes Viertel der Einwohnerschaft zu (für alle Zahlen in diesem Abschnitt siehe Matthias Kokorsch / Patrick Küpper 2019, Literatur zu Kapitel 3, im Kapitel
Seit 1990 hat sich die Zahl der Verkaufsstellen im Lebensmitteleinzelhandel deutschlandweit mehr als halbiert. Insbesondere die kleinen Geschäfte mit weniger als 400 Quadratmetern Verkaufsfläche, die für die Nahversorgung in ländlichen Orten besondere Bedeutung haben, sind fast vom Markt verschwunden. Ähnliche Trends sind bei Bäckereien und Fleischereien zu beobachten. Postfilialen gibt es ebenfalls kaum noch in kleineren Orten, sie wurden vielmehr in ausgewählte bestehende Läden größerer Orte integriert. Seit einigen Jahren schließen auch immer mehr Bankfilialen oder werden durch Automaten ersetzt. Für diese Entwicklungen, die im Folgenden mit Blick auf den Lebensmitteleinzelhandel skizziert werden, gibt es verschiedene Ursachen auf der Seite der Kundinnen und Kunden sowie auf Seiten derjenigen, die die Angebote machen.
QuellentextMit Energie und Zusammenhalt gegen den Rückgang
[…] In der Gemeinde [Kirchenlamitz] im Fichtelgebirge nahe der tschechischen Grenze [sollen] [s]chon 2028 […] 500 Menschen weniger [...] leben als heute [2016], 2800 wären sie dann noch. Der Landkreis Wunsiedel wird in den nächsten Jahren 16 Prozent seiner Bevölkerung verlieren. Nicht nur hier drohen Ortschaften zu verwaisen, auch in Thüringen, Brandenburg und der Eifel, im Hunsrück, in Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen.
Manche Wissenschaftler sagen: Lasst die Dörfer endlich untergehen. Die Menschen in den Dörfern sagen: nicht mit uns. Rund 160 Kilometer entfernt von Kirchenlamitz […] [liegt] Falkenau, ein Ort […] mit Vereinen und Ärzten, […] ein Mini-Wirtschaftswunder. […] Dem Ort an der Flöha zwischen Dresden und Chemnitz ging es noch zu DDR-Zeiten gut: fünf Bäcker, zwei Metzger, seit Jahrzehnten bestehende Baumwollspinnereien, ein Skigebiet. Mit der Wende aber ging die Industrie darnieder, in manchen Familien waren Vater und Mutter ohne Job, die Arbeitslosenquote lag bei 30 Prozent. Läden schlossen, der für Textilien, der Fleischer.
[…] Doch Falkenau geht es längst besser – besser, als so manchem Nachbardorf. […] Früher, sagt Elke Kielmann, da hörte sie, wenn die Mittagszeit in Kirchenlamitz anbrach. Dann zogen Pulks von Arbeitern in Latzhosen aus, um sich zu stärken, schwatzend und schäkernd. Porzellan Winterling etwa, hier waren 4000 Menschen beschäftigt. Wenige Meter von Kielmanns Tankstelle entfernt prangt noch der rote Schriftzug. Er zeugt von einer Zeit, als dieser Landkreis für die bedeutendsten Porzellanmanufakturen des Landes bekannt war, für feines Tafelgeschirr, weißes Gold.
Doch wie in Falkenau zog die Wiedervereinigung einen tiefen Schnitt: Die Zonenrandförderung fiel weg, Geschirr aus dem Ausland drückte die Preise, die teuren Services aus Oberfranken verstaubten. Die Menschen ersehnten das Neue, auch bei Porzellan. Die Firma Winterling sperrte 1994 eines ihrer Werke zu, nach und nach zerbrach die Porzellanindustrie – Winterling, Hutschenreuther, Arzberg, Rosenthal. Lange schuftete mehr als ein Drittel aller Beschäftigten in der Region bei diesen Firmen, nun verloren Tausende ihre Arbeitsplätze. Lange waren die Porzellanmanufakturen für den Aufstieg der Region verantwortlich. Dann für den Abstieg.
[…] Der Kreislauf in den sich leerenden Dörfern ist grob stets der gleiche: Zuerst gehen die Firmen, nehmen die Arbeit mit und die Menschen. [...] [I]n Kirchenlamitz etwa sind mit der Porzellanindustrie innerhalb eines Jahres zwischen einer und eineinhalb Millionen D-Mark Steuern weggebrochen. Einem Ort fehlt dann das Geld für Sporthallen, für Straßen oder Beleuchtung. Das wiederum schreckt all die ab, die nach einem neuen Heim suchen; die Hauspreise verfallen. Eine Spirale, die sich dreht und dreht und nur schwer zu stoppen ist.
Wer verstehen will, wie Falkenau das geschafft hat, muss nur den Dorfladen verlassen, gleich nebenan schmückt sich Falkenau mit einem neuen Volkshaus. Im ersten Stock in einem Eck des Sitzungssaals hat sich Martin Müller […] eingerichtet, der Mann, den hier alle nur "den Bürgermeister" nennen, obwohl der korrekte Titel seit der Eingliederung ins nahe Flöha "Ortsvorsteher" heißt. [seit 2019 nicht mehr im Amt – Anm. d. Red.] […] Obwohl die Bewohnerzahlen sanken, setzte sich Müller für ein Neubaugebiet ein. Tatsächlich zogen frühere Bewohner wieder her, bekamen neue Nachbarn. Den Menschen folgten die Betriebe, 1995 entstand ein Gewerbegebiet, nur einen Supermarkt vermissten die Falkenauer.
Doch weder Aldi noch Edeka wollte eine solche Ortschaft versorgen, nicht rentabel sei das, hörten die Lokalpolitiker über Jahre. Deshalb kümmerte man sich eben selbst: ein Gebäude im Zentrum, einst Turnhalle, mit Fördergeldern saniert. 300 Falkenauer kamen zur Gründung der Genossenschaft zusammen – 15.000 Euro gaben sie für "Unser Laden Falkenau eG".
[…] [A]lles, was dem Ort fehlt, packen die Falkenauer in dieses Lädchen: Hier melden sie ihr Auto an, geben ihre Briefe ab, ihren Lottoschein. Pragmatismus und Einfallsreichtum, beides braucht es, und deshalb behandelt in Falkenau wohl auch immer noch ein Arzt mitten im Ort, während man in anderen Gegenden Dutzende Kilometer bis zur nächsten Praxis fahren muss. Unter den Bewohnern des Neubaugebietes nämlich war ein junger Mediziner, den Müller zwei Jahre lang bekniete, ob er nicht die Praxis eines alten Kollegen übernehmen wolle.
Der Mann hatte Bedenken: die Kartei abzukaufen, wie bei einer Praxisübergabe üblich, konnte er sich ohnehin nicht leisten. Die Gemeinde aber baute ihm neue Praxisräume, wer kann da schon ablehnen. Alles eine Frage der Einstellung, sagt Müller – und selbstverständlich auch des Geldes.
Das Geld nämlich hat auch in Kirchenlamitz entschieden. Nach dem Zusammenbruch der Porzellanindustrie sparte die Gemeinde und sparte, besetzte keine Stelle mehr im Rathaus, schenkte an Festen kein Freibier mehr an ehrenamtliche Helfer aus. "A bissl sauer waren sie schon", sagt Bürgermeister Thomas Schwarz […] aber das habe nun einmal sein müssen. Er lächelt. Gegenüber vom rot angestrichenen Rathaus mahnt das verlassene Gasthaus "Goldner Löwe", früher einmal das erste Wirtshaus des Ortes. Heute aber bleiben die Fenster dunkel, Tag und Nacht.
Ja, Schwarz ärgert sich schon, dass seine Region als braches Land gilt, dass Besucher immer nur über diese verlassenen Häuser in der Ortsmitte lamentieren, aber nicht den Rest von Kirchenlamitz würdigen, der doch noch viel verspricht: Ein Großlogistiker ist in die Fabrikhallen eingezogen, die Busse bringen die Alten durch die Region, der Supermarkt am Ortsausgang besteht, auch die Tankstelle der Kielmanns. Benzin verkauft sich, denn noch immer fahren viele Autos durch die Ortsstraße. Auch wenn weniger anhalten, parken – bleiben. Zwar sind zuletzt einige Menschen mehr zu- als weggezogen, doch auf lange Sicht wird die Einwohnerzahl wohl sinken, das weiß auch Schwarz.
Er versucht dagegen anzuzahlen. Das Rathaus bedenkt Bürger mit einem Zuschuss, die ihre Fassaden renovieren, Schwarz will verlassene Häuser in der Ortsmitte aufkaufen, sanieren und weiterverkaufen. Der "Goldne Löwe" etwa, der gehört bereits der Kommune. Vielleicht ziehen sie an seiner statt irgendwann Neubauten hoch, moderne Wohnungen. Vielleicht zieht das wieder mehr Menschen an, wie damals in Falkenau. […] [E]s sind nicht nur die Firmen, die das eine Dorf prosperieren und das andere schrumpfen lassen. Es ist auch der Wille, der Zusammenhalt. […]
Lea Hampel / Pia Ratzesberger, "Was vom Dorfe übrig blieb", in: Süddeutsche Zeitung vom 7. Mai 2016
Auf der Nachfrageseite sind die gestiegene Mobilität und die Individualisierung die zentralen Triebkräfte dieser Entwicklung. Gerade in ländlichen Räumen ist der Besitz eines oder mehrerer Pkw pro Haushalt der Normalfall, und selbst Hochbetagte nutzen das Auto, so lange es irgendwie geht. In der Folge ist der Großteil der Verbraucherinnen und Verbraucher immer weniger auf die lokale Versorgung angewiesen. Gleichzeitig verlassen ohnehin die meisten Bewohnerinnen und Bewohner kleinerer Orte regelmäßig ihren Wohnort, um zur Arbeit zu pendeln, Besorgungen zu erledigen oder Freizeitaktivitäten nachzugehen. Daher koppeln sie verstärkt den Weg zum Einkauf mit anderen Wegen, was sich relativ gut mit Einkäufen an autoorientierten Standorten in Klein- und Mittelstädten verbinden lässt.
Der Trend zu immer individuelleren Lebensstilen hat das Spektrum der nachgefragten Produkte fortlaufend ausgeweitet. Verlangt werden beispielsweise Fertiggerichte, vegane Lebensmittel oder exotische Früchte. Gleichzeitig besteht der Wunsch nach mehr Produktarten, wie etwa bestimmten Marken neben Discount-Produkten, Bio-Lebensmitteln, Light- oder regional erzeugten Produkten. Großflächige Lebensmittelmärkte, die eine große Auswahl an verschiedenen Produkten bieten und bequem mit dem Auto erreicht werden können, sind damit besonders attraktiv für eine Kundschaft, die seltene Großeinkäufe macht und alles zeitsparend in einem Geschäft einkaufen möchte. Andererseits geht mit der Ausdifferenzierung der Nachfrage auch eine gestiegene Mehrfachorientierung einher. Das bedeutet, dass immer mehr Verbraucherinnen und Verbraucher ihren Bedarf nicht in einem Geschäft, zum Beispiel beim lokalen Einzelhändler, decken, sondern verschiedene Märkte und Standorte aufsuchen, also neben dem Discounter auch das hochpreisige Fachgeschäft.
Auf der Anbieterseite lässt sich eine zunehmende Konzentration auf wenige große Ketten feststellen. So konnten die fünf größten Anbieter ihren Marktanteil von 2000 bis 2017 kontinuierlich von 62 auf knapp 77 Prozent ausbauen. Kleine und unabhängige Anbieter haben zunehmend Schwierigkeiten, überhaupt noch einen Lieferanten zu finden, oder die Lieferkosten erschweren es ihnen, ein konkurrenzfähiges Angebot zu machen. Die Ladenformate der großen Ketten sind in der Vergangenheit immer größer geworden, um eine breitere Auswahl und günstige Preise zu gewährleisten. Dadurch verdrängen sie einerseits kleine, unabhängige Märkte und andererseits rechnen sich diese Formate nur bei immer größeren Einzugsbereichen. Das bedeutet, dass die großen Anbieter Orte mit weniger als 5000 Einwohnern in der Regel nicht mehr für die Errichtung neuer Märkte in Betracht ziehen. Stattdessen konzentrieren sie sich auf hochfrequentierte Standorte in den Innenstädten und an Ausfallstraßen, die oftmals fußläufig kaum erreichbar sind.
Die beschriebenen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte lassen sich anhand eines Beispielorts veranschaulichen. Tettenborn, ein kleines Dorf mit circa 600 Einwohnern, liegt im Südharz und ist ein Ortsteil der niedersächsischen Kleinstadt Bad Sachsa mit gut 7000 Einwohnern. In der Nachkriegszeit gab es in Tettenborn ein umfassendes Nahversorgungsangebot. Neben einer Post und einer Bank existierten bis zu vier Lebensmittelgeschäfte, drei Bäcker, zwei Fleischer und zwei Gemüseläden. Insbesondere in den 1980er- und 1990er-Jahren mussten diese stationären Angebote schließen. Das letzte Lebensmittelgeschäft wurde 2002 aufgegeben. Allerdings kommen auch heute noch mobile Händler für Fleischerei- und Backwaren in das Dorf. Für alle anderen Waren des täglichen Bedarfs müssen die Bewohner Tettenborns den vier Kilometer entfernten Hauptort Bad Sachsa aufsuchen, wo entsprechende stationäre Angebote verfügbar sind.
Prinzipiell gibt es raumplanerische Instrumente, um die Ausgestaltung der Nahversorgung zu steuern. Insbesondere die Bauleitplanung, die festlegt, welche Nutzungen wo im Gemeindegebiet zulässig sind, kann Auswirkungen, wie überdimensionierte Märkte an autoorientierten Standorten, verhindern. Die beschriebenen Entwicklungen zeigen jedoch, dass dieses Instrumentarium zumindest in der Vergangenheit oftmals nicht genutzt wurde, was auch an der Standortkonkurrenz zwischen den Kommunen liegt. Zudem kann die Planung nur bestimmte Fehlorientierungen eindämmen, aber kaum eigene Impulse für die Ansiedlung neuer Läden in kleinen Orten setzen.
QuellentextNeues Leben im Ortskern
Etwas lief schief in seinem Heimatort, das konnte Wolfgang Borst damals schon sagen. Es war kurz nach der Jahrtausendwende, das mittelalterliche Städtchen Hofheim in Unterfranken, einst Zonenrandgebiet, lag nun in der Mitte des wiedervereinigten Deutschlands. Trotzdem zog eine junge Familie nach der anderen weg. In den kleinen Straßen um den Marktplatz machten die Geschäfte zu. Und rundherum in den Dörfern, die zu der Gemeinde gehören, zählte Borst die alten Fachwerkhäuser, in denen der Putz zwischen den Balken bröckelte. […] Damals florierten allenfalls die Filialen der Supermarktketten mit den großen Parkplätzen, die dem Ortsausgang in Richtung der nahen Bundesstraße sein Gesicht gaben. […]
Der Wendepunkt war […] im Jahr 2006. […] Vier junge Familien aus dem Ort [Ostheim, Gemeinde Hofheim] hatten Kinder bekommen und brauchten mehr Platz, also sollten vier neue Bauplätze ausgewiesen werden. […] Aber jetzt hatte er gerade mit viel Fördergeld eine Dorferneuerung durchgebracht, und trotzdem standen mehrere Häuser leer. "Ich wusste, wie viele alte Menschen in dem Ort wohnten, und konnte mir ausrechnen, was da noch kommen würde." Und er kannte die Prognosen: Strukturschwache Gegend weitab der nächsten Großstadt, die Fachleute rechneten mit bis zu 20 Prozent Bevölkerungsrückgang in den kommenden 20 Jahren. Borst dachte sich: "Wenn irgendwann acht, neun Häuser leer stehen, ist der Ort verloren." Also sagte er nein, kein neues Baugebiet. […]
Was 2006 für ihn der Beginn eines "Nachdenkens" war, wie er es beschreibt, hat er heute [2018] zu einem Leerstandsmanagement ausgearbeitet. Die Gemeinde erfasst alle unbewohnten Gebäude, vermarktet sie über eine Internetseite, hilft in dem Wirrwarr an öffentlichen Fördermitteln und stellt den Interessenten gleich zu Anfang einen Architekten zur Seite. […] "Wir müssen die Dorfkerne beleben, koste es, was es wolle", sagt Borst. "Sonst ist der Ort verloren." Den alten Leitsatz, dass Familien nur gehalten werden könnten, wenn die Gemeinde Neubaugebiete ausweist, hat er inzwischen umgedreht: "Jeder Neubau in einer Siedlung bedeutet Leerstand im Altort", sagt er, ganz ruhig, aber entschieden. Das treffe vielleicht nicht auf die großen Ballungsräume für München oder Frankfurt zu, auf die restlichen 80 Prozent des Landes aber schon.
[…] Doch ein paar mehr Menschen auf der Straße machen noch kein funktionierendes Dorfleben aus. Was fehlte, war ein sozialer Mittelpunkt. In Rügheim stand ein altes Schulhaus leer […]. Die Gemeinde ließ die Renovierungskosten schätzen und sammelte Fördergelder ein, insgesamt 200.000 Euro. "Ich habe den Leuten gesagt: Die eine Hälfte davon trägt die Gemeinde, die andere Hälfte müsst ihr selbst aufbringen." […] Wenn die Anwohner kein eigenes Geld investieren, so seine Rechnung, wird sich niemand wirklich verpflichtet fühlen, wenn die erste Euphorie verflogen ist.
Inzwischen sind in mehreren Dörfern der Gegend ähnliche Gemeinschaftshäuser entstanden. Yogastunden gibt es dort und ein kleines Café. In einem Nachbarort haben die Bürger Räume für eine Praxis ausgebaut, damit eine Ärztin zweimal die Woche zur Sprechstunde vorbeikommen kann. Wieder woanders wurde eine Leihbücherei zusammengestellt. In Rügheim haben die Bürger inzwischen […] einen kleinen Dorfgemeinschaftsladen finanziert, in dem es Lebensmittel und morgens ab 6.30 Uhr frische Backwaren gibt. […] Zuletzt gründeten ein paar Bürger sogar einen Brotback- und Brauverein und restaurierten ein weiteres historisches Gebäude.
Über so viel neuentdeckten Bürgersinn war auch Borst überrascht. […] Die Stimmung habe sich jedenfalls in den letzten Jahren völlig gewandelt. Keine Rede mehr von der Abwärtsspirale und der Ausweglosigkeit angesichts all der globalen Entwicklungen, in der sich die Menschen lange wähnten.
[…] "Wir holen durch unsere Projekte die Eigenverantwortung zurück", sagt Borst. "Die Leute müssen merken, dass sie sich selbst einbringen müssen, wenn sich etwas ändern soll." Raus aus der Passivität.
Doch auch Borst ist klar, dass selbst eine engagierte Bürgerschaft nicht gegen alle Entwicklungen der Zeit ankämpfen kann. Von den kleinen Läden, die im Hauptort Hofheim entlang der Einkaufsstraße die Jahrzehnte überlebt haben, werden viele trotz aller Bemühungen schließen. Gegen die Konkurrenz der Versandhändler aus dem Internet kommt ein Fachgeschäft in Hofheim auf Dauer kaum an. "Wir müssen uns jetzt Gedanken machen, wie man die Ladengeschäfte in anderer Form nutzen kann", sagt Borst, "damit der Leerstand nicht um sich greift." In Hofheim hat er die Einkaufsstraße vor allen anderen mit Glasfaserkabeln für schnelles Internet versorgen lassen, damit sich dort vielleicht der eine oder andere kleine Dienstleister ansiedelt. Für die Wirtshäuser in den Dörfern sieht es kaum besser aus. Die meisten wurden schon vor Jahren aufgegeben, nur selten brennt hinter dunklen Butzenscheiben noch ein Licht. […]
Doch den als mindestens ebenso aussichtslos geltenden Kampf gegen die großen Supermarktketten am Ortsausgang, den haben Borst und sein Gemeinderat aufgenommen – und einen überraschend leichten Sieg errungen. Vor ein paar Jahren fassten sie den Beschluss, dass keine neuen Flächen mehr ausgewiesen und vorhandene nicht mehr erweitert werden dürfen. Der Bedarf war schließlich mehr als gedeckt mit mehreren großen Filialen, und Flächen gab es auch im Ort. Die waren nur nicht ganz so quadratisch und praktisch. Die Supermarktkonzerne schimpften und drohten, Schließung und Abwanderung standen im Raum, doch niemand ging. Inzwischen haben Rewe und Netto je einen Laden im Zentrum aufgemacht, mit genug Platz, nur etwas eingepasst in die vorhandene Bebauung. […]
Die Zukunft zeichnet Bürgermeister Borst für seine Gemeinde alles andere als düster. Die Bevölkerungsentwicklung hat sich in den letzten Jahren entgegen allen Prognosen ins Positive gedreht, seine Bürger sind zufrieden. Und in den globalen Trends will er ohnehin nicht nur Gefahren sehen. Wenn die Urbanisierung so weitergehe, es in den Großstädten immer enger werde und die Preise dort weiter stiegen, dann, glaubt Borst, werde sich der Trend irgendwann wieder umkehren, dann sehnten sich die Leute wieder nach Land und Natur. Und darin liegt für ihn die Chance des Internets: Das macht es schließlich möglich, auch weit weg von den Kollegen am eigenen Computer zu arbeiten. Vielleicht in einem kleinen Fachwerkhaus in Unterfranken.
Alexander Haneke, "Der Dorfkern soll leben", in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 29. Dezember 2018 © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv
Angesichts dieser Situation entstanden zahlreiche politische Initiativen und Fördermöglichkeiten, um die Nahversorgung in ländlichen Räumen zu sichern. Zudem gibt es auch in einzelnen Dörfern Bürgerinnen und Bürger, die sich zum Beispiel in einer Genossenschaft zusammenschließen, um neue Angebote vor Ort zu schaffen, die nicht in erster Linie auf Gewinn ausgerichtet sind. Allerdings zeigt die Erfahrung, dass alle politischen und bürgerschaftlichen Initiativen eine gewisse Mindestnachfrage erfordern und es nicht ausreicht, wenn nur die Personen, die auf den Einkauf vor Ort angewiesen sind, das neu geschaffene Angebot nutzen. Häufig sind die meisten Bewohnerinnen und Bewohner von Orten ohne Einkaufsmöglichkeit relativ zufrieden mit ihrer Versorgungssituation, weil die Wohnortnähe neben Preis, Auswahl, Qualität der Produkte und Öffnungszeiten nur ein Bewertungskriterium unter vielen ist. Damit Initiativen zur Verbesserung der Nahversorgung nicht zu Fehlinvestitionen werden, gilt es also, den tatsächlichen Bedarf genau zu prüfen und gegebenenfalls Kommunen oder Ehrenamtliche bei alternativen Lösungen, wie rollenden Supermärkten, Einkaufstaxis oder Nachbarschaftshilfe, zu unterstützen.
Beispiel Brandschutz und Hilfeleistung als Teil der nichtpolizeilichen Gefahrenabwehr
Abwehrender Brandschutz und Hilfeleistung sind Pflichtaufgaben, die kommunale Gebietskörperschaften im Rahmen ihrer Selbstverwaltung wahrnehmen müssen. Die Gemeinden müssen eine leistungsfähige Feuerwehr aufstellen, die erforderliche Technik bereitstellen und erneuern, die Feuerwehrangehörigen aus- und fortbilden sowie die Versorgung mit Löschwasser sicherstellen. In den ländlichen Räumen Deutschlands, also in den Dörfern, aber auch in den meisten Klein- und Mittelstädten, bilden fast ausschließlich Ehrenamtliche das Rückgrat der Feuerwehren: Nach Auskunft des Deutschen Feuerwehrverbandes gab es 2016 unter knapp einer Million Aktiver in Freiwilligen Feuerwehren gerade einmal knapp 6500 hauptberuflich Tätige (weit weniger als ein Prozent). Gemeinsam mit den etwa 40.000 Beschäftigten bei Berufs- und anerkannten Werkfeuerwehren stellen Hauptamtliche nicht einmal vier Prozent aller Feuerwehrleute in Deutschland. Somit ist die nichtpolizeiliche Gefahrenabwehr, insbesondere der Brandschutz und die technische Hilfeleistung, der einzige Bereich der öffentlichen Daseinsvorsorge, der in ländlichen Regionen (und bei weitem nicht nur dort) auf der Basis bürgerschaftlichen Engagements gewährleistet wird. Punktuell unterstützen hauptamtlich besetzte Leitstellen und Wachen sowie professionelle Gerätewarte diese Strukturen.
Die gegenwärtig wichtigste Herausforderung des ehrenamtlichen Systems besteht in seiner flächendeckenden Aufrechterhaltung. Zwischen 2000 und 2017 sank die Zahl der Personen, die bundesweit in Freiwilligen Feuerwehren aktiv waren, um knapp sieben Prozent. Die größten Verluste verzeichneten dem Deutschen Feuerwehrverband zufolge ostdeutsche Flächenländer (Thüringen 29 Prozent, Brandenburg und Sachsen-Anhalt jeweils 20 Prozent). Die Zahl der Einsätze hingegen hat im gleichen Zeitraum nicht abgenommen, sondern lag konstant zwischen 1,1 und 1,2 Millionen pro Jahr.
Eigene Darstellung nach Feuerwehr-Jahrbuch des Deutschen Feuerwehrverbandes (DFV) 2002–2019 (© Eigene Darstellung nach Feuerwehr-Jahrbuch des Deutschen Feuerwehrverbandes (DFV) 2002–2019)
Eigene Darstellung nach Feuerwehr-Jahrbuch des Deutschen Feuerwehrverbandes (DFV) 2002–2019 (© Eigene Darstellung nach Feuerwehr-Jahrbuch des Deutschen Feuerwehrverbandes (DFV) 2002–2019)
Die Grafik verdeutlicht, dass – anders, als es populäre Darstellungen, etwa in der Kinderliteratur, suggerieren – nur ein Bruchteil der Einsätze tatsächlich der Brandbekämpfung dient: Nicht einmal zehn Prozent der Einsätze Freiwilliger Feuerwehren 2017 betrafen Brände und Explosionen. Auch in allen anderen Jahren zwischen 2000 und 2017 waren Rettungsdienstfahrten und Technische Hilfeleistungen anteilsmäßig von weitaus größerer Bedeutung als die Brandbekämpfung. In Jahren mit Großschadensereignissen (etwa die Hochwasser 2002 und 2013 oder der Sturm Kyrill 2007) ist die Zahl technischer Hilfeleistungen besonders hoch. In ländlichen Räumen kommt für die Aktiven der Freiwilligen Feuerwehren eine Fülle weiterer Aufgaben für das Gemeinwesen hinzu – von der Absperrung bei Festen über Kinder- und Jugendarbeit bis zum Tag der Offenen Tür.
Feuerwehren sind ein Parade- und zugleich Spezialfall bürgerschaftlichen Engagements. Noch heute verkörpern sie wie kaum eine andere Institution das der Daseinsvorsorge innewohnende Spannungsfeld von staatlicher Fürsorge und privater Vorsorge: Der Staat kann seine Pflicht zum Schutz der Bevölkerung in diesem Feld der Daseinsvorsorge nicht ohne das private Engagement Einzelner erfüllen. Doch in Zeiten des soziodemografischen Wandels ist die stete Verfügbarkeit qualifizierter Freiwilliger gefährdet: Insbesondere in ländlichen Räumen mit wirtschaftlichen Strukturproblemen lässt sich die Tagesalarmsicherheit angesichts zahlreicher Pendlerinnen und Pendler, die nicht vor Ort arbeiten, sowie der dauerhaften Abwanderung junger Menschen nicht mehr ohne Weiteres gewährleisten. Neue Organisationsformen und mehr Eigenvorsorge sind also gefordert.
Fazit
Eine wohnortnahe Nahversorgung und die kontinuierliche Gewährleistung des Brandschutzes gehören für viele Einwohnerinnen und Einwohner ländlicher (wie auch städtischer) Räume zu den Gewissheiten ihres Alltagslebens – ebenso wie Wasser und Strom, Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten, medizinische Versorgung und Betreuungsangebote für Kinder und Ältere. Doch um diese vermeintlichen Selbstverständlichkeiten zu gewährleisten, bedarf es fortgesetzter Anstrengungen der politisch Verantwortlichen, von privaten Unternehmen, von Ehrenamtlichen und gemeinnützigen Organisationen. Denn Daseinsvorsorge ist kein statisches Konzept und kein fester Katalog – was genau sie umfasst, welche Erwartungen an sie herangetragen werden, welche Steuerungsmodelle zum Einsatz kommen und wie sie gewährleistet werden kann, verändert sich kontinuierlich mit dem gesellschaftlichen Wandel.