Seit 1977 gibt es für den Strafvollzug Erwachsener eine spezielle Rechtsgrundlage, das Strafvollzugsgesetz. Dort ist in § 2 das Vollzugsziel so definiert: "Im Vollzug der Freiheitsstrafe soll der Gefangene fähig werden, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen." Im Satz 2 heißt es weiter: "Der Vollzug der Freiheitsstrafe dient auch dem Schutz der Allgemeinheit vor weiteren Straftaten." Die (re-)sozialisierende Behandlung soll also zur sozialen Integration des Gefangenen und dadurch zum Schutz der Allgemeinheit vor weiteren Straftaten beitragen.
Das Strafvollzugsgesetz bestimmt, wie der Strafvollzug durchgeführt wird. Es regelt im Einzelnen die (Rechts-)Stellung und Behandlung des Gefangenen, die Aufgabenbereiche der Vollzugsbediensteten und -behörden sowie die Organisation des Vollzugs und den Aufbau der Vollzugsanstalten. Seit der "Föderalismusreform" des Jahres 2006 sind die Länder für die Gesetzgebung im Strafvollzug zuständig. Dementsprechend haben sie auf Weisung des Bundesverfassungsgerichts im selben Jahr spezielle Jugendstrafvollzugsgesetze verabschiedet.
Resozialisierung
Im Jahr 1973 forderte das Bundesverfassungsgericht: "Dem Gefangenen sollen Fähigkeiten und Willen zu verantwortlicher Lebensführung vermittelt werden, er soll es lernen, sich unter den Bedingungen einer freien Gesellschaft ohne Rechtsbruch zu behaupten, ihre Chancen wahrzunehmen und ihre Risiken zu bestehen."
Zur Begründung führt das Gericht aus: "Vom Täter aus gesehen erwächst dieses Interesse an der Resozialisierung aus seinem Grundrecht aus Artikel 2 Abs. 1 in Verbindung mit Artikel 1 GG. Von der Gemeinschaft aus betrachtet verlangt das Sozialstaatsprinzip staatliche Vor- und Fürsorge für Gruppen der Gesellschaft, die aufgrund persönlicher Schwäche oder Schuld, Unfähigkeit oder gesellschaftlicher Benachteiligung in ihrer persönlichen und sozialen Entfaltung behindert sind; dazu gehören auch die Gefangenen und Entlassenen. Nicht zuletzt dient die Resozialisierung dem Schutz der Gemeinschaft selbst: Diese hat ein unmittelbares eigenes Interesse daran, dass der Täter nicht wieder rückfällig wird und erneut seine Mitbürger oder die Gemeinschaft schädigt."
Hieraus hat das Gericht später sogar einen "Anspruch auf Resozialisierung" abgeleitet. Aus dem oben zitierten § 2 Satz 2 Strafvollzugsgesetz kann kein eigenständiges, abweichendes Schutzziel (Sühne oder Vergeltung) abgeleitet werden. Die Bedeutung dieser Vorschrift erschöpft sich in der Forderung nach einer Sicherung der Gefangenen während des auf Resozialisierung angelegten Vollzuges zum Schutze der Gesellschaft. Dass dies keine absolute Sicherung sein kann, ergibt sich aus der Natur der Sache, folgt aber auch aus dem Gesetz selbst, wenn dort Regelungen für den offenen Vollzug, für Freigang und Urlaub getroffen werden. Damit ist sowohl einem Vergeltungsvollzug als auch einem bloßen Verwahrvollzug eine Absage erteilt.
QuellentextDas Gefängnis als lebender Organismus
SZ-Magazin: Warum bauen Sie Gefängnisse?
Andrea Seelich: Mich interessiert die Wirkung von Architektur. Die ist dort am stärksten, wo man das Gebäude nicht verlassen kann. […] Im Knast habe ich die maximale Möglichkeit, auf Menschen einzuwirken. Und gleichzeitig die größte Verantwortung. Im Gefängnis geht es darum, das Konstruktive im Menschen zu fördern. Sodass sich alle Beteiligten – Insassen und Personal – nicht gegenseitig die Köpfe einschlagen. Das kann Architektur fördern oder verhindern.
SZ-Magazin: Wie denn?
Seelich: Wenn zwei Menschen in einem engen Gang aufeinander zugehen, muss einer irgendwann dem anderen ausweichen. Damit kommen die beiden in eine Situation, die eine klare Hierarchie ausdrückt. Sie können sich nicht neutral begegnen. Wenn der Gang aber breit genug ist, kommen sie sich nicht zu nahe. Damit ein Gefängnis gut funktioniert, braucht es so wenig Reibungsfläche wie möglich. Gerade wenn alles so beengt ist, sind Körpersprache, Dominanzverhalten und nonverbale Kommunikation ganz wichtig. Die Größe, Proportionen und Farben von Räumen beeinflussen das Gefängnisleben generell extrem.
SZ-Magazin: Welche Rolle spielen denn Farben?
Seelich: Bunt angemalte Zellen sind eine Zwangsbehübschung. Das ist nie ästhetisch angenehm. […] Die ideale Zelle ist in einem gebrochenen Weiß gestrichen. In einem weißen Raum lässt man leichter sein altes Leben hinter sich. Allerdings sollte es kein strahlendes Weiß sein – sonst ist es leichter, ein Loch in der Wand auszuschaben, um Drogen darin zu verstecken, und das Ganze wieder mit Zahnpasta zuzuspachteln, denn die ist auch strahlend weiß. Alles schon gesehen.
SZ-Magazin: Gibt es im Gefängnis ein Recht auf Ästhetik?
Seelich: Noch vor der Ästhetik kommt die Funktion. Ob Knastarchitektur funktioniert, merkt man daran, ob die Nutzer sie akzeptieren: Wenn ja, gibt es kaum Vandalismus. Viele Insassen wünschen sich keine durchdesignte Anstalt, sondern funktionale Möbel. Ein Tisch muss vier Beine haben. Am besten ist er aus Holz. Wenn ein Objekt nach Holz aussieht, sich dann aber wie Plastik anfühlt, kommt es zu einer Irritation. […] Es ist überhaupt wichtig, in Gefängnissen Material zu verwenden, das elegant altert – hochwertige Möbel, die man selbst reparieren kann, statt Plastikgegenstände, die entweder neu oder kaputt sind. Gut wäre insgesamt mehr Holz, Ziegel, Stein, weniger Beton und Plastik.
[…] Quadratische Räume beruhigen und laden zum Verweilen ein, längliche Räume dagegen geben eine Bewegungsrichtung vor. Das merken Sie, wenn Sie den Kölner Dom betreten, da ist die Blickführung zum Altar vorgegeben. Leider sind Gefängniszellen oft rechteckig, weil das billiger ist: Quadratische Räume beanspruchen mehr Außenfassade – und jeder Meter kostet.
SZ-Magazin: Wie viel Enge erträgt ein Mensch?
Seelich: Lassen Sie sich mal für einen Tag zu Hause von Freunden im Klo einsperren – um zu verstehen, wie es ist, einen Raum nicht verlassen zu können. […] So eine Enge erzeugt Druck. […] [J]e beengter das Innen ist, desto wichtiger wird das Außen. In Gefangenschaft sind Reize von außen minimal, die innere Gereiztheit steigert sich, weil die Insassen immer nur dieselben Dinge sehen. Es gibt Gefängnisse, da sitzen die Insassen in winzigen Räumen ohne jedes Tageslicht. Künstliches Licht macht auf Dauer müde, denn es verändert sich nicht. Bei Tageslicht können die Augen des Häftlings auf den Lauf der Sonne reagieren, die Iris weitet und verengt sich. In einem Gefängnis gibt es mehrere Zeiten, die unterschiedlich schnell vergehen. Das Personal hat immer zu wenig Zeit. Für die Insassen vergeht die Zeit viel zu langsam – nur in den Besuchsräumen zu schnell.
SZ-Magazin: Wo sehen Sie Probleme in den Besuchsräumen?
Seelich: Diese Mischzone von drinnen und draußen tut den meisten nicht gut. Die Akustik in den Besuchsräumen ist eine Katastrophe. Zu viele Geräusche, zu viele Besucher auf engstem Raum. Durch die Glaswände und Spiegelungen ergibt sich etwas, was ich optischen Smog nenne. Besuch bedeutet Stress. Besser wäre eine weite Wiese mit einer kleinen Sitzgruppe. So könnte eine Besuchssituation intim und zugleich sicher und übersichtlich sein. Oder Familienbesuchsräume, die aussehen wie eine Wohnküche und wo ein Familienvater, der vielleicht einen Autounfall verursacht hat, mit seiner intakten Familie kochen und spielen kann. [...]
SZ-Magazin: […] Haft soll aber kein Komfort sein.
Seelich: Man hat verstanden, dass die Eier von Hühnern, die nicht in ihren Käfigen festgewachsen sind, besser schmecken. Warum hat man bei den Menschen noch nicht begriffen, dass Käfighaltung nicht gut ist? Was spricht gegen eine bessere Atmosphäre auf den Abteilungen oder in den Küchen? Die Strafe des Freiheitsentzugs bleibt ja. Wozu den Stresspegel noch hochschrauben? Wenn man sich überlegt, dass der Strafvollzug für die wenigsten Insassen lebenslänglich ist, bekommt man eine andere Perspektive. 96 Prozent aller Gefangenen werden irgendwann wieder entlassen. Die Haft ist also eine Zeit, in der der Staat die maximale Möglichkeit hat, auf einen Menschen so einzuwirken, dass er nachher nicht mehr straffällig wird. Je mehr ich in den Strafvollzug investiere, desto mehr investiere ich in den Opferschutz. […]
SZ-Magazin: Wann sind Sie mit Ihrer Arbeit zufrieden?
Seelich: Ich will ein Gesamtkunstwerk schaffen, darum gestalte ich nicht nur Mauern und Zellen, sondern berate auch bei Details: Wie viele Monitore von Überwachungskameras kann ein einzelner Beamter im Blick behalten? Welche Durchleuchtungsgeräte sind die besten? Ich will den ganzen Betrieb verstehen und alle, die mit dem Gefängnis zu tun haben. Ein Gefängnis ist für mich ein lebender Organismus. Außerdem vergessen wir viel zu oft, dass das Gefängnis nicht nur der Lebensraum des Insassen ist, sondern auch der Arbeitsraum der Justizwache. Manche Häftlinge verbringen 15 Jahre ihres Lebens im Knast, manche Wächter vierzig Jahre ihres Berufslebens.
"Käfighaltung ist nichts für Menschen". Interview von Jessica Schober mit der Gefängnisarchitektin Andrea Seelich, in: Süddeutsche Zeitung Magazin vom 7. April 2017
Innere Ausgestaltung
Der Vollzug soll so gestaltet sein, dass das Leben der Inhaftierten den allgemeinen Lebensverhältnissen soweit als möglich angeglichen ist. Damit soll den – zwangsläufigen – negativen Folgen des Vollzugs, die durch den Abbruch von persönlichen Bindungen (Deprivation) und die Anpassung an die Abläufe des Anstaltsalltags (Prisonierung) gekennzeichnet sind, entgegengewirkt werden.
Altersstruktur und Deliktsstruktur im Strafvollzug (© bpb, Kirstin Drenkhahn)
Altersstruktur und Deliktsstruktur im Strafvollzug (© bpb, Kirstin Drenkhahn)
Zur inneren Ausgestaltung des Vollzugs gehört vor allem, dass die Häftlinge vom ersten Tag der Inhaftierung an auf den Tag der Entlassung vorbereitet werden, um dann ein Leben in Freiheit ohne Straftaten führen zu können. Hierzu hat der Bundesgesetzgeber dem sogenannten offenen Vollzug Priorität eingeräumt. "Offener Vollzug" bedeutet, dass keine oder nur verminderte Vorkehrungen gegen Flucht getroffen werden. Im Gesetz sind Lockerungen des Vollzugs wie Außenbeschäftigung unter und ohne Aufsicht – Freigang –, Ausführung unter Aufsicht und Ausgang ohne Aufsicht vorgesehen und der Urlaub aus der Haft geregelt. Diese Regelungen können in der Praxis mangels Außenbeschäftigungen und mangels offener Vollzugseinrichtungen aber vielfach nicht umgesetzt werden. Erst recht entsprechen die Arbeits- und Ausbildungsangebote im Vollzug häufig nicht den Beschäftigungsbedingungen in Freiheit. Insbesondere die geringe Entlohnung (neun Prozent des durchschnittlichen Arbeitsentgelts) vermittelt weder eine positive Einstellung zur Arbeit als zentralem Faktor für den sozialen Integrationsprozess, noch wird damit eine Grundlage für eine oftmals anstehende Schuldentilgung geschaffen. Für die meisten Gefangenen bedeutet die Schuldenlast das größte Hindernis für ein späteres straffreies Leben.
Anzahl der Gefangenen und Gefangenenrate (© bpb, Kirstin Drenkhahn)
Anzahl der Gefangenen und Gefangenenrate (© bpb, Kirstin Drenkhahn)
Gefangenenzahlen und Rückfallquoten
Gefangene pro 100.000 der Wohnbevölkerung nach ausgewählten Ländern - Stand Ende 2017 (© prisonstudies.org)
Gefangene pro 100.000 der Wohnbevölkerung nach ausgewählten Ländern - Stand Ende 2017 (© prisonstudies.org)
In Deutschland waren am 30. November 2016 62.865 Gefangene inhaftiert, das sind 76,5 Gefangene pro 100.000 Einwohner. Im europäischen Vergleich kommen die skandinavischen Länder mit den niedrigsten Gefangenenraten aus (Dänemark: 59, Finnland und Schweden: je 57), während die ehemaligen Ostblockstaaten mit Einschluss der baltischen Staaten die höchsten Gefangenenraten aufweisen (Litauen: 235, Lettland: 218, Tschechien: 212, Estland: 208, Polen: 195).
In der ehemaligen DDR waren die Gefangenenzahlen erheblich höher: Im Jahre 1972 kamen auf 100.000 Einwohner 221,8 Gefangene; im Jahr 1989 waren es noch 148 Häftlinge. Erst mit der staatlichen Auflösung wurde die Anzahl der Gefangenen entsprechend verringert; zuletzt, im November 1990, auf insgesamt 3200 Personen.
Außergewöhnlich hoch sind die Gefangenenzahlen in den USA. Mit 666 Gefangenen pro 100.000 der US-Bevölkerung liegen die USA (nach den Seychellen) 2017 an der Spitze aller erfassten Länder, vor Russland, Brasilien und Südafrika. Dies ist auch ein Ergebnis der "Null-Toleranz-Doktrin". Sie besagt, dass die Bekämpfung harmloser / kleinerer Delikte schwerwiegende Verbrechen verhindern kann. Zu berücksichtigen ist allerdings, dass die tatsächlichen Gefangenenzahlen in manchen Ländern geheim gehalten werden. Die Gefangenenrate steht in Abhängigkeit vom Kriminalitätsaufkommen, der polizeilichen Ermittlungsarbeit (Aufklärung) und der richterlichen Sanktionspraxis, letztlich von der staatlichen Kriminalpolitik mit der Gewichtung von Prävention und Repression. Werden Strafgesetze verschärft, erhöhen sich tendenziell die Gefangenenraten, wobei den Richtern in der Regel ein Entscheidungsfreiraum im Rahmen der gesetzlich angedrohten Strafen zukommt. Die Deliktsgruppen, nach denen die Gefangenen in Deutschland verurteilt wurden, gibt die Tabelle "Deliktsstruktur" auf S. 70 wieder.
Auffällig ist die im Hinblick auf die gesetzliche Vorrangstellung des offenen Vollzuges geringe Quote der Gefangenen, die tatsächlich im offenen Vollzug einsitzen: Im Jahr 2016 waren es nur 16,2 Prozent der Gefangenen. Dabei wurden mit Vollzugslockerungen in der Bundesrepublik durchaus positive Ergebnisse erzielt. Pro 100 Gefangene der Jahresdurchschnittsbelegung kehrten im Jahre 1995 statistisch gesehen in Nordrhein-Westfalen 0,93 Gefangene, im Jahre 1996 in Bayern 0,48 Gefangene nicht rechtzeitig aus dem Urlaub zurück. Die Zahl der nicht zurückgekehrten Freigänger betrug im Jahr 1996 in Bayern 0,83 von 100 Gefangenen. Entgegen mancher spektakulärer Darstellung in den Medien bleiben Straftaten während der Vollzugslockerungen nach verschiedenen Untersuchungen auf wenige Fälle beschränkt, sodass die Lockerungen insgesamt gesehen der Wiedereingliederung förderlich sind.
QuellentextLeerstände in niederländischen Gefängnissen
[…] In den Niederlanden […] sinkt die Zahl der Häftlinge. Saßen 2005 noch 50.650 Verurteilte in Hollands Gefängnissen ein, zählte das Land 2016 […] nur noch 35.250 Häftlinge, ein Rückgang um gut 31 Prozent. […]
Der sinkende Trend hat mehrere Gründe. So ist die Kriminalität in Westeuropa seit Jahren auf dem Rückzug. Und außerdem verändert sie sich. Viele Delikte wandern ab ins Internet, die Hintermänner sitzen teils im nichteuropäischen Ausland. Das hat Folgen auch für die Strafverfolgung. […]
Neben der sinkenden Kriminalität gibt es aber auch spezifische niederländische Gründe für die sinkende Zahl der Knackis. Die Niederlande kennen seit 1926 das Opportunitätsprinzip, im Klartext: Eine Straftat, etwa Fahrraddiebstahl oder Autoaufbruch, muss nicht unbedingt zur Anzeige gebracht werden, wenn daran kein höheres gesellschaftliches Interesse besteht. […]
Dort gilt seit 2009 eine neue Regel: Nicht jeder zu einer Haftstrafe Verurteilte muss auch im Gefängnis antreten. Kleinere Strafen werden häufig ausgesetzt. Auch wird mit der elektronischen Fußfessel hantiert.
In der Folge wird es leer in den niederländischen Knästen. Das führt zum Unmut, nicht allein beim Justizpersonal, das um die Jobs in den Haftanstalten fürchtet. Auch die Polizeigewerkschaft ACP wettert. Für den Gewerkschaftschef Gerrit Van Kamp sind die sinkenden Gefangenenzahlen kein Erfolg liberaler Justizpolitik, sondern eher die Folge laxer Gerichte. "Die Verurteilungsquote ist zu niedrig", sagte er der Zeitung "Algemeen Dagblad". "Und Computerkriminalität wird ohnehin kaum verfolgt, weil es zu aufwendig ist."
Die niederländischen Behörden reagieren auf den Rückgang übrigens auf eigene Weise. Knapp 250 Zellen in Hollands Gefängnissen sind seit zwei Jahren an den norwegischen Staat vermietet. Dort nämlich sind die Justizvollzugsanstalten überfüllt. Gut 25 Millionen Euro pro Jahr überweist Norwegen für die angemieteten Gefängniszellen.
[…] Und in Arnheim wird gleich ein ganzer Knast verkauft. Im kommenden Mai sollen die Umbauarbeiten an dem gut drei Fußballfelder großen Areal beginnen.
Ganz unbekannt ist die Umnutzung von Gefängnissen aber auch in Deutschland nicht. In der pfälzischen Weindomäne Landau ist im alten Knast schon seit Jahren ein Studierendenwohnheim untergebracht.
Knast – es kommt darauf an, was man daraus macht.
Peter Riesbeck, "Niederländische Lässigkeit", in: Frankfurter Rundschau vom 4. Dezember 2017 – Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Rundschau GmbH, Frankfurt.
Wiederholungstäter (© Bergmoser + Höller Verlag AG, Zahlenbild 131214)
Wiederholungstäter (© Bergmoser + Höller Verlag AG, Zahlenbild 131214)
Auch sind die Rückfallquoten im "offenen Vollzug" geringer als im "geschlossenen Vollzug", wobei allerdings zu berücksichtigen ist, dass die Gefangenen unterschiedlich sozial belastet und dementsprechend unterschiedlich rückfallgefährdet sind. Nach einer umfassenden Rückfalluntersuchung wurde die nachfolgende Rückfallquote für unterschiedliche strafrechtliche Sanktionen ermittelt:
Anzumerken ist, dass die Effizienzmessung des Strafvollzugs anhand von Rückfallquoten eine sehr schematische Vorgehensweise bedeutet. Ausgeklammert bleibt;
ob ohne Strafvollzug nicht schneller Straftaten und schwerere Straftaten verübt worden wären;
dass zumindest in der Zeit der Inhaftierung ein weitgehender Schutz der Gesellschaft erreicht wurde;
dass umgekehrt auch in den Strafvollzugsanstalten Straftaten, zum Teil schwerer Art (Mord, Raub, sexuelle Nötigung), begangen werden;
dass infolge der Strafzeit Folgewirkungen eintreten können, die eine weitere Entsozialisierung mit sich bringen können, wie Obdachlosigkeit, der Verlust von Familie und Arbeit, Alkoholismus, Drogenabhängigkeit.
Auch bei Berücksichtigung derartiger Relativierungen haben die Vollzugsanstalten die Aufgabe, den Auftrag des Strafvollzugsgesetzes mit neuen Anstrengungen zu verwirklichen – im Interesse der Gefangenen, aber auch und gerade im Interesse der zu schützenden Gesellschaft. Hierzu gibt es sowohl in der wissenschaftlichen Diskussion als auch in der Praxis erfolgversprechende Ansätze: Zu nennen ist etwa die Einrichtung von dezentralen Kleinanstalten, in denen wenige Gefangene heimatnah untergebracht werden, in der Nähe des sozialen Umfeldes, in dem sie nach der Haftentlassung Versuchungen und kriminellen Gefahren widerstehen müssen. Diese Anstalten müssten keine eigene kostenintensive soziale Infrastruktur entwickeln, sondern könnten – so die Überlegungen – einen Teil der bereits vorhandenen kommunalen Einrichtungen (zum Beispiel Sportstätten) mitbenutzen.
Immer ist der Strafvollzug eine Aufgabe, die – entgegen einigen Tendenzen, die, aus den USA kommend, auch in Europa und zum Teil auch in Deutschland verfolgt werden – in staatlicher Hand bleiben muss. Der Staat, der durch die Strafjustiz Straftäter in den Freiheitsentzug nimmt, muss auch für die Umsetzung dieses Freiheitsentzuges die Verantwortung tragen.
QuellentextUnterschiedliche Wege in der Strafrechtspolitik
Frankfurter Rundschau: Frau Dübgen, wir hören oft nur Schlechtes über unsere Gefängnisse: Sie sind überfüllt, gelten als Einbahnstraße und Brutstätten der Radikalisierung – liegt das am System?
Franziska Dübgen: Ja. Es liegt aber auch an einer Trendwende: Die Strafrechtspolitik hat sich in den vergangenen Jahrzehnten immer weiter vom Gedanken der Resozialisierung entfernt und den Schutz vor Straftaten in den Vordergrund gestellt. Strafe setzt heute also weniger auf Reintegration in die Gesellschaft und die Haftbedingungen sind restriktiver. Neun von zehn Inhaftierten kommen aus dem unteren sozialen Milieu und auch Migranten sind mit 26 Prozent stark überrepräsentiert. Studien haben ergeben, dass Menschen mit geringem Selbstwertgefühl weitaus empfänglicher sind für Radikalisierung. Indem sie sich extremen Ideologien zuwenden, versuchen sie, das Stigma der Haft zu überwinden und sich eine neue positive soziale Identität zu schaffen.
FR: Worauf führen Sie die Entwicklung in der Strafjustiz zurück?
Dübgen: Das hat mit der verbreiteten neoliberalen Philosophie zu tun: Wir glauben, dass einzelne Menschen aus eigenem Willen und rationaler Überzeugung heraus Taten begehen. Der Neoliberalismus schreibt dem Individuum mehr Verantwortung zu und entlastet so auch das Gemeinwesen. Man versucht nicht länger, mit Sozialpolitik der Entstehung von Milieus entgegenzuwirken, in denen Menschen sich kriminalisieren. Stattdessen soll der Einzelne für seine Taten einstehen und auch rechenschaftspflichtig gemacht werden. Zudem steht die Unterschicht viel stärker im Fokus der Strafverfolgung.
FR: Warum ist das so?
Dübgen: Weil Kriminalität insgesamt relativ gleich über die Gesellschaft verteilt ist, typische Delikte der Unterschicht sich aber leichter aufklären lassen und statistisch wesentlich häufiger verfolgt werden. Diese Richtung, einerseits den Wohlfahrtsstaat zurückzufahren und andererseits die Strafpolitik zu verschärfen, kann man ganz eindeutig in den USA und Großbritannien erkennen – und in einzelnen Tendenzen seit Ende der 90er Jahre […] auch in Deutschland.
FR: Dabei wäre ein stärkerer Fokus auf soziale Vorsorge doch erfolgversprechender.
Dübgen: Rund 45 Prozent der Menschen, die aus der Haft entlassen werden, finden keine Arbeit, keine Wohnung, viele landen auf der Straße und haben kein soziales Netz. Ein Drittel der Haftinsassen wird wieder rückfällig, und diese Zahl bezieht sich nur auf die ersten drei Jahre nach der Entlassung. Studien verweisen auf die Ursachen: Die Gesellschaft gibt vielen gar keine Chance, wieder straffrei leben zu können. […]
FR: […] [E]inige skandinavische Länder, aber auch die Niederlande, haben eine deutlich niedrigere Inhaftierungsrate als Deutschland. Liegt das daran, dass sie ein anderes Konzept vertreten?
Dübgen: Auf jeden Fall. Schweden und Dänemark verfolgen einen ganz anderen Weg im Umgang mit Kriminalität. Das fängt mit der Strafmündigkeit an: Erst ab einem höheren Alter können junge Menschen dort überhaupt zur Rechenschaft gezogen werden. Das Individuum wird stärker als Teil der Gemeinschaft betrachtet; deswegen trägt das Kollektiv auch Mitverantwortung, wenn eine Person straffällig wird. Das heißt, konkret gehen diese Länder davon aus, dass es die spezifischen Milieus zu bekämpfen gilt, die daran beteiligt sind, Menschen zu Kriminellen werden zu lassen. Man hat dort auch viel stärker am Gedanken der Resozialisierung festgehalten und da hinein investiert. In den drei genannten Ländern wurde die Jugendhaft außerdem schon in den 70ern und Anfang der 80er Jahre abgeschafft und durch Sozialämter ersetzt. In Deutschland dagegen geht der Trend in die andere Richtung – Jugendstrafen werden immer stärker eingesetzt.
FR: Welche Alternativen gibt es denn überhaupt zum Wegsperren?
Dübgen: Stichwort Entkriminalisierung: Man könnte zum Beispiel das Betäubungsmittelgesetz abschaffen, da hätte man ungefähr ein Drittel der Straftäter aus der Haft. Auch Bagatelldelikte wie das Stehlen von Kleinigkeiten ließen sich entkriminalisieren. Außerdem könnte man das Jugendstrafrecht abschaffen und weniger lange Strafen einführen. In Italien gibt es eine Form des gerichtlichen Verzeihens: Da wird eine Schuld festgestellt, aber auf die Strafe verzichtet – dies beschränkt sich allerdings dort aufs Jugendstrafrecht, wäre aber prinzipiell auch aufs Erwachsenenstrafrecht übertragbar.
FR: Klingt gewöhnungsbedürftig. Was gibt es noch für Ansätze?
Dübgen: Stichwort Nebenstrafen, unter die zum Beispiel die gemeinnützige Arbeit fällt: Die Menschen tun etwas, um den Schaden, den sie der Gesellschaft zugefügt haben, wiedergutzumachen. Dann gibt es, ganz klassisch, die Geldstrafe. Diese müsste aber wirklich an den einzelnen Personen orientiert sein, denn viele Straftäter kommen, wie gesagt, aus der Unterschicht und können gar nicht zahlen. Eine weitere Möglichkeit ist der radikale Weg ganz weg von der Vergeltung und hin zur Wiedergutmachung. Darunter fallen alternative Formen der Konfliktlösung bei spezifischen Delikten, also etwa der Täter-Opfer-Ausgleich oder der Täter-Opfer-Kontakt, bei dem der Täter Einsicht in die Perspektive des Opfers bekommen und erkennen soll, was er bei diesem angerichtet hat.
FR: Steht solchen verständnisvollen Modellen nicht die politische Stimmung entgegen?
Dübgen: Insgesamt würde ich Ihnen recht geben, die politische Stimmung geht in eine völlig andere Richtung. […] In den 70er oder 80er Jahren wurde die generelle Abschaffung von Gefängnissen ernsthaft diskutiert. [...] Die [derzeitige] politische Debatte in Deutschland tendiert eher in eine andere Richtung: Grenzen setzen, harte Kante zeigen. Das widerspricht allerdings allen wissenschaftlichen Erkenntnissen darüber, wie wir eine Gesellschaft schaffen würden, in der mehr sozialer Frieden und weniger Kriminalität herrschen.
Franziska Dübgen hat Philosophie, Politikwissenschaften und Literatur in Berlin und Sassari (Italien) studiert. Seit Oktober forscht sie an der Universität Koblenz-Landau. Davor leitete die Wissenschaftlerin an der Uni Kassel eine Nachwuchsforschungsgruppe über Strafe, das Gefängnissystem und alternative Formen der wiederherstellenden Gerechtigkeit. (sha)
"Viele Entlassene bekommen keine Chance auf ein straffreies Leben". Interview von Sabine Hamacher mit der Wissenschaftlerin Franziska Dübgen, in: Frankfurter Rundschau vom 4. Dezember 2017 © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Rundschau GmbH, Frankfurt.