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Beispiele schwerer Formen der Kriminalität

Heribert Ostendorf

/ 10 Minuten zu lesen

Wirtschaftskriminalität, Organisierte Kriminalität und Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung sind schwere Formen der Kriminalität. Prävention und Bekämpfung dieser Kriminalität sind auch eine gesellschaftliche Aufgabe.

Wirtschaftskriminalität

Wirtschaftskriminalität umfasst die Palette der Delikte, mit denen das geltende Wirtschaftssystem für kriminelle Zwecke ausgenutzt wird. Hierzu gehören Wettbewerbskriminalität, wie beispielsweise Preisabsprachen, Straftaten im Bereich der Kreditwirtschaft und des Bankenwesens, Konkurs- und Bilanzstraftaten, Versicherungsmissbrauch sowie Steuer- und Subventionsdelikte, vor allem Betrug und Untreue im Wirtschaftsleben.

In Bremerhaven werden 2017 sichergestellte geschmuggelte Waffen und Munition präsentiert (© picture-alliance, Holger Hollemann / dpa / Carmen Jaspersen)

Die vielfältigen Erscheinungsformen reichen von Computerkriminalität über Scheckbetrug und Kreditkartenmissbrauch bis hin zu Kartelldelikten. Im Weiteren gehört hierzu auch die Korruption.

Wirtschaftskriminalität (© Bergmoser + Höller Verlag AG, Zahlenbild 131160, Quelle: Polizeiliche Kriminalstatistik)

Kennzeichnend für Wirtschaftskriminalität ist ihre hohe Sozialschädlichkeit, insbesondere die durch sie verursachten materiellen und immateriellen Schäden. Die von den Staatsanwaltschaften ermittelte Schadenssumme lag im Zeitraum von 1974 bis 1985 im jährlichen Durchschnitt bei 4,5 Milliarden DM. Hierbei bleibt – wie allerdings auch bei anderen Straftaten – das große Dunkelfeld der nicht entdeckten Wirtschaftskriminalität noch ausgeblendet. Unter Berücksichtigung dieser nicht entdeckten Wirtschaftsdelikte wurde der jährliche Schaden auf über 50 Milliarden DM geschätzt, so das damals für die statistische Erfassung von der Bundesregierung beauftragte Freiburger Max-Planck-Institut. Andere gehen von weit größeren Schadenssummen aus, insbesondere auch infolge der steigenden Computerkriminalität. Allein im Steuerbereich werden Gesamtschäden bis 50 Milliarden Euro genannt.

Augenfällig ist, dass zwar weitaus mehr Eigentumsdelikte begangen werden, die Wirtschaftskriminalität insgesamt aber weit höhere Schäden verursacht, wie der folgende Vergleich zeigt: Im Jahre 2012 wurden bundesweit 2108092 Diebstahlshandlungen (39,7 Prozent der Gesamtkriminalität) gezählt. Als Gesamtschadenssumme dieser Eigentumsdelikte wurde seitens der Polizei ein Betrag von 2,28 Milliarden Euro angegeben. Diese Schadenssumme (aller Diebstahlshandlungen) verblasst gegenüber den Schäden, die durch Wirtschaftskriminalität verursacht werden. Nicht zu vernachlässigen sind daneben die immateriellen Schäden, die in Nachahmungseffekten, Sog- und Fernwirkungen bestehen können sowie in einem Vertrauensverlust in die Funktionsfähigkeit der geltenden Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung.

Strafverfolgung und gesellschaftliche Prävention
Die Praxis der Strafverfolgung zeigt, dass für Wirtschaftsstraftäter nur ein relativ geringes Risiko besteht, strafrechtlich zur Verantwortung gezogen zu werden. Wenige werden gefasst, von denen noch weniger – ein Viertel der ermittelten Täter – verurteilt werden. Die Verfahrenseinstellungen überwiegen. Die Strafandrohung geht deshalb bei vielen ins Leere. Zudem entsteht ein Gerechtigkeitsgefälle zu der sogenannten klassischen Kriminalität.

Die Gründe für die unzulängliche Strafverfolgung liegen in den Beweisschwierigkeiten: Komplizierte Normen bieten Schlupflöcher für "gewiefte" Straftäter; und viele Delikte laufen nach außen im Rahmen eines erlaubten Geschäftsverkehrs ab. Die Auswertung der Geschäftsunterlagen erfordert außerordentlich viel Zeit und Sachverstand. Hinzu kommen die Zuhilfenahme versierter Strafverteidiger – was das gute Recht jedes Beschuldigten ist – sowie eine Überlastung der Strafjustiz.
Allein oder auch nur primär kann die Strafjustiz Wirtschaftskriminalität nicht vereiteln – die Abwehr muss vorher ansetzen. Anstatt nur zu reagieren, müssen Aufklärung und Vorsorge betrieben werden. Hier sind alle gesellschaftlichen Kräfte gefordert einschließlich Verwaltung, Legislative, Wissenschaft und Medien. Bessere verwaltungsrechtliche Kontrollen, wie zum Beispiel bei der Ausfuhr von Industriematerial, das zum Kriegswaffeneinsatz nutzbar ist, könnten vorgreifend Verstöße gegen das Kriegswaffenkontrollgesetz und das Außenwirtschaftsgesetz vermindern. Nicht nur immer kompliziertere Steuer- und Subventionsgesetze, die Schlupflöcher für Wirtschaftsstraftäter schaffen, sondern auch ein Subventionsabbau könnte zu einer Reduzierung von Subventionsbetrügereien führen.

Strafverfolgung bei Korruption 2016 (© Statistisches Bundesamt)

Aufgabe der Wissenschaft ist es, kriminologische Ursachenanalysen zu erstellen und ein realistisches Bild von der Wirtschaftskriminalität sowie den Reaktionen der Justiz zu zeichnen. Wenn die Medien über diese wissenschaftlichen Erkenntnisse berichten und über Wirtschaftskriminalität und die durch sie verursachten Schäden sowie über Strafverfolgungsmaßnahmen informieren, können dadurch Straftäter in ihrer Selbstrechtfertigung verunsichert und kriminelle Gruppenauffassungen aufgebrochen werden. Auf diese Weise besteht die Möglichkeit, allgemeines Unrechtsbewusstsein für diese Art von Kriminalität zu stärken.

Schließlich ist die Gesamtgesellschaft gefordert. Wirtschaftsstraftäter sind sehr häufig in sogenannten geordneten Verhältnissen aufgewachsen. Sie haben herkömmliche Erziehungsmethoden erlebt und entsprechen den gesellschaftlichen Leitbildern. Es gilt deshalb, nicht nur eine Wirtschaftsethik von anderen einzufordern, sondern diese im eigenen Lebensbereich zu praktizieren. Wer als Eltern und Erzieher pharisäerhaft Gemeinsinn predigt, im Alltag aber ohne Scheu das Gemeinwesen schädigt, zum Beispiel durch Steuerhinterziehung, darf sich nicht wundern, wenn Kinder und Jugendliche kein gefestigtes Rechtsbewusstsein entwickeln.

Geldwäsche (© Bergmoser + Höller Verlag AG, Zahlenbild 131161)

QuellentextAllgemeines zur Cyberkriminalität

[…] Die Bedrohung durch Cyberkriminelle hat in 2017 ein "bisher beispielloses Ausmaß" angenommen, warnte die europäische Polizeibehörde Europol Ende September [2017]. Angriffe werden immer ausgeklügelter, Hacker immer professioneller. Schon 2016 zählte das Bundeskriminalamt mehr als 80.000 Cybercrime-Fälle, 80 Prozent mehr als im Vorjahr; die Dunkelziffer dürfte laut der Behörde "um ein Vielfaches" höher liegen.

Neue Zahlen für 2017 hat das BKA zwar noch nicht veröffentlicht. Aber das IT-Sicherheitsunternehmen G-Data zählte allein im dritten Quartal 2017 fast zwei Millionen neuer Typen von Schadsoftware, also Viren, Trojaner und Ähnliches. Im gesamten Jahr werden es insgesamt knapp neun Millionen sein. […]

Unternehmen, Privatpersonen oder Staaten drohen unterschiedliche Gefahren: Eindringlinge können geheime Informationen erbeuten oder Daten manipulieren. Bei sogenannten DDoS-Attacken legen Angreifer ein System durch schiere Überlastung lahm. Computer können gekapert und ferngesteuert werden.

Im Jahr 2017 rückte eine neue Art des Cyberangriffs in den Fokus: Ransomware, also Erpressungssoftware. Angreifer dringen dabei in ein Computersystem ein, verschlüsseln alle Daten und verlangen Lösegeld. Das war das Prinzip des sogenannten WannaCry-Angriffs, bei dem im Mai mehr als 200.000 Computer in 150 Ländern infiziert wurden. Der Angriff zeigte, wie verwundbar viele Systeme sind: Auf Anzeigetafeln der Deutschen Bahn prangten Fehlermeldungen, beim Logistiker TNT Express gab es Verspätungen. Europol nannte die Attacke ein "noch nie da gewesenes Ereignis".

Die WannaCry-Software verbreitete sich automatisch, nutzte eine Lücke in veralteten Windows-Systemen aus. Doch längst zielen Angreifer nicht mehr nur auf technische Systeme, sondern auf Menschen. In 95 Prozent der erfolgreichen Cyber-Angriffe habe menschliches Fehlverhalten eine Rolle gespielt, sagt Christian Pursche von der Zentralen Ansprechstelle Cybercrime des LKA Niedersachsen bei den Internet Security Days Ende September. […]

E-Mails sind häufig ein wichtiger Bestandteil von Cyber-Angriffen. Die Grundlage für die meisten Arten von Internetkriminalität bildet Schadstoffware, besser bekannt als Viren, Trojaner, Würmer. Die müssen irgendwie ins System gelangen. Die "häufigsten Infektionswege" seien E-Mail-Anhänge sowie der Besuch infizierter Webseiten, heißt es im Lagebericht des BSI. Auch der direkte Download von Schadprogrammen per Weblink sei häufiger zu beobachten.

Die Gemeinsamkeit: Immer muss ein Mensch klicken. […]

Sogenannte Phishing-Mails, die harmlos daherkommen, aber darauf zielen, Schadsoftware zu installieren oder Passwörter zu stehlen, werden meist wahllos an Tausende Empfänger verschickt. Immer häufiger kommt es laut BSI aber auch zu gezielten Angriffen auf einzelne Personen, Experten sprechen von Spear-Phishing. […] Die Basis […] bilden oft öffentlich zugängliche Informationen, all das, was die Menschen selbst über sich im Netz preisgeben. […]

Der Kampf um Internetsicherheit ist ein ständiges Wettrüsten: Angreifer und Beschützer liefern sich ein permanentes Rennen um die Sicherheit von Computersystemen. Die einen suchen nach immer neuen Lücken im System, die anderen versuchen sie per Update zu schließen. Das Problem: Der Nutzer lässt sich nicht so einfach updaten.
[…] Mitarbeiter müssen sich trauen nachzufragen, wenn ihnen eine Anfrage merkwürdig vorkommt. Auch wenn das zu Verzögerungen im Ablauf führt. Sie müssen wissen, wen sie fragen können, wenn sie sich bei einem E-Mail-Anhang unsicher sind. Und sie sollten sich nicht schämen müssen, wenn sie schon darauf geklickt haben. Denn niemand ist komplett davor gefeit, Betrügern auf den Leim zu gehen. [...]

Jakob von Lindern, "Klick!Mich!An!", in: Die ZEIT, Der große Jahresrückblick 2017, Nr. 50 vom 4. Dezember 2017

Kriminalität im Netz (© picture-alliance, dpa-infografik 12055)

Cyberkriminalität in Deutschland (© dpa-infografik 27507)

QuellentextCyberkriminalität – ein Fallbeispiel

Eine Rechnung auf Papier reichte Daniel Meffert aus, um die Hacker abzuwehren, die ihm um ein Haar ein Vermögen gestohlen hätten. Meffert ist Geschäftsführer des Unternehmens S+P aus Meerbusch bei Düsseldorf, gemeinsam mit sechs Kollegen verkauft er Werbemittel. Schlüsselanhänger, Kaffeebecher, Kulis. Und USB-Sticks. Und er freute sich, als die französische Abteilung eines großen Rohstoffhändlers gleich 50.000 Stück bestellte, schwarz-silberfarben, acht Gigabyte, unbedruckt, für eine Werbeaktion – insgesamt rund eine Viertelmillion Euro wert.

Meffert kannte den Konzern, hatte ihn bereits beliefert. Er bekam Mails von einer Firmenadresse und Formulare mit Logo. Er telefonierte mit einem Franzosen, Monsieur Michelle. Auf einer Messe erzählte ihm jemand, dass Monsieur Michelle vor Kurzem einen Sohn bekommen habe. Auch mit dem Mann am Telefon sprach er darüber. Alles passte zusammen. Also bestellte Meffert die USB-Sticks bei einem Importeur. Was er nicht ahnte: Nicht der echte Monsieur Michelle hatte bei ihm bestellt – sondern Verbrecher, die dessen Identität gestohlen hatten.

Die Diebe hatten das Unternehmen S+P gehackt – aber nicht durch einen technischen Angriff auf dessen Computersystem. Sondern durch gezieltes Ausspähen einer Firma und durch die Manipulation eines Mitarbeiters. Diese besondere Form der Internetkriminalität nennen Experten Social Engineering. […]

Die Schwachstelle im System von S+P war der Chef höchstpersönlich: Daniel Meffert. Der war nicht mal zu unvorsichtig, die E-Mail-Adresse, Telefonnummer und die Identität von Monsieur Michelle waren authentisch. Der Betrug war eben gut gemacht. Und flog nur deshalb noch rechtzeitig auf, weil Meffert die Rechnung für die USB-Sticks nicht nur per Mail, sondern zur Sicherheit auch per Post an die zuständige Abteilung in Frankreich schickte. Ganz klassisch auf einem Blatt Papier. "Ich habe das eher aus Gründlichkeit getan", sagt Meffert. "Aber vielleicht hatte ich auch eine Vorahnung."

Jedenfalls kam der Brief, anders als alle Mails, beim richtigen Unternehmen statt bei den Hackern an. Von dort rief sofort jemand bei Meffert an: "Danke für die Rechnung, aber wir haben bei Ihnen nichts bestellt." In letzter Sekunde konnte Meffert die Lieferung an die Betrüger stoppen – die USB-Sticks waren bereits in einem Laster auf dem Weg an ihr Ziel. Den Zulieferer bezahlen musste er trotzdem.

Möglich wurde der ausgeklügelte Betrug durch einen eher klassischen Cyberangriff: Vom Dienstlaptop des echten Monsieur Michelle hatten die Verbrecher alle Informationen gestohlen – sogar einen Scan seines echten Personalausweises, den sie Meffert vorlegten. Möglicherweise gelang ihnen all das, weil der echte Monsieur einen infizierten Mail-Anhang geöffnet hatte.

[…] [N]iemand ist komplett davor gefeit, Betrügern auf den Leim zu gehen.

Das hat auch Werbeartikel-Verkäufer Meffert schmerzhaft erfahren müssen. Obwohl der Betrug am Ende aufflog, hat er sein Unternehmen in große Schwierigkeiten gebracht. Denn die USB-Sticks waren zwar nicht gestohlen, aber beim Lieferanten bereits bezahlt – und mussten dann anderweitig verkauft werden. "Wir haben beinahe zwei Jahre gebraucht, um uns davon zu erholen", sagt Meffert. Selbst Konkurrenten halfen mit, dafür sind sie bei S+P sehr dankbar. Auch deshalb geht er so offen mit der Geschichte um. "Ich will andere Unternehmen warnen", sagt er.

Vorsichtig sein, lieber einmal zu viel nachfragen, das rät er. Einen wirklich zuverlässigen Schutz gegen solche Kriminelle aber gibt es nicht, glaubt Meffert. Schon gar keinen technischen. "Ich lege jetzt noch mehr Wert auf persönliches Kennenlernen", sagt er. Und einen kleinen Trick hat er sich doch zurechtgelegt: "Bei einem neuen Kunden rufe ich nicht über die direkte Durchwahl zurück, sondern lasse mich von der Zentrale durchstellen", sagt der Unternehmer. "Dann kommt heraus, wenn sich ein Betrüger als Geschäftspartner ausgibt."

Jakob von Lindern, "Klick!Mich!An!", in: Die ZEIT, Der große Jahresrückblick 2017 , Nr. 50

Organisierte Kriminalität

"Die Organisierte Kriminalität ist zu einer Herausforderung für Staat und Gesellschaft geworden. Organisierte Kriminalität konzentriert sich auf Deliktsbereiche, die hohe kriminelle Gewinne garantieren und bei denen zugleich das Risiko der Entdeckung dadurch vermindert wird, dass es entweder keine unmittelbaren Opfer gibt oder die Opfer nicht bereit sind, Anzeige zu erstatten und vor den Strafverfolgungsbehörden auszusagen." – so heißt es einleitend im Gesetzentwurf des Bundesrates für das Gesetz zur Bekämpfung des illegalen Rauschgifthandels und anderer Erscheinungsformen der Organisierten Kriminalität (OrgKG), verkündet am 22. Juli 1992 im Bundesgesetzblatt I, 1302 ff.

Diese Gesetzesüberschrift macht zugleich deutlich, dass zur Organisierten Kriminalität organisierter Rauschgifthandel gehört. Des Weiteren werden hierzu gerechnet: organisierter Waffenhandel, organisierte illegale Einreise bis hin zur Verschleppung von Mädchen und Frauen zum Zwecke der Prostitution, Schutzgelderpressung und organisierter Wohnungseinbruch. Obwohl in den Medien häufig die Abkürzung "OK" verwendet wird, gibt es keine genaue Definition des Begriffs. Fachkreise verstehen unter Organisierter Kriminalität "die von Gewinn- und Machtstreben bestimmte planmäßige Begehung von Straftaten, die einzeln oder in ihrer Gesamtheit von erheblicher Bedeutung sind, wenn mehr als zwei Beteiligte auf längere oder unbestimmte Dauer arbeitsteilig

  • unter Verwendung gewerblicher oder geschäftsähnlicher Strukturen,

  • unter Anwendung von Gewalt oder anderer zur Einschüchterung geeigneter Mittel oder

  • unter Einflussnahme auf Politik, Medien, öffentliche Verwaltung, Justiz oder Wirtschaft zusammenwirken".

Entsprechend der Weite dieses Begriffs kann auch der Umfang der Organisierten Kriminalität in Deutschland nur schwer taxiert werden. Die ermittelte Kriminalität ist hierbei nicht nur definitionsabhängig, sie ist auch abhängig vom Ermittlungseinsatz und Ermittlungserfolg. Festzustehen scheint, dass die Organisierte Kriminalität zunimmt.

Ermittlungsverfahren im Bereich Organisierte Kriminalität (© Bundeskriminalamt)

Ein besonderes Gewicht hat hierbei die zunehmende internationale Organisierte Kriminalität. Im Zweiten Periodischen Sicherheitsbericht der Bundesregierung aus 2006, S. 440, heißt es hierzu: "Empirische Untersuchungen zur Organisierten Kriminalität in Deutschland werden seit den späten 1960er- Jahren durchgeführt. Nach deren Ergebnissen bestehen hierzulande als höchst entwickelte Form dieser Kriminalität bis in die jüngste Zeit vorwiegend sogenannte Netzwerke professionell-organisierter Täter, die geschäftsmäßig agieren, alle Aspekte der Straftaten von der Vorbereitung bis zur Beuteverwertung rational vorausplanen und durchweg überregional bzw. international orientiert sind.

Es gibt Anzeichen für die Etablierung von vor allem ausländischen streng hierarchisch strukturierten kriminellen Gruppierungen in Deutschland. Als Beispiel können Gruppierungen der italienischen Organisierten Kriminalität (Cosa Nostra und ’Ndrangheta) sowie türkische oder kosovo-albanische Strukturen herangezogen werden. Sie verfügen aufgrund der seit längerem ansässigen Einwanderergemeinden über entsprechende Anlaufstellen in Deutschland. Auch solche Gruppierungen sollten regelmäßig nicht als bürokratisch oder gar quasi-militärisch voll durchorganisierte Syndikate missverstanden werden."
Diese Gefahrenbeschreibung verneint zum jetzigen Zeitpunkt eine Unterwanderung von Staat einschließlich Polizei und Justiz und von Gesellschaft in Deutschland durch verbrecherische Banden. Die Prognose, ob es in der Zukunft zu Mafia-ähnlichen Verhältnissen in Deutschland kommen könnte, wird von den Experten unterschiedlich beurteilt.

Gegenmaßnahmen
Mit dem eingangs erwähnten Gesetz zur Bekämpfung der Organisierten Kriminalität aus dem Jahr 1992 wurde das Instrumentarium, diesen Kriminalitätsbereich zu verfolgen, erweitert. Den einen, insbesondere aus der Sparte der Kriminalistik und Strafverfolgung, reicht diese Ausweitung noch nicht aus, den anderen, insbesondere aus der Strafrechtswissenschaft sowie der Strafverteidigung und dem Datenschutz, geht sie bereits zu weit. Von letzteren wird darauf verwiesen, dass es unverrückbare Prinzipien in der Strafverfolgung gebe, zum Beispiel die Trennung von Polizei und Verfassungsschutz. Vor allem dürfe die Kriminalitätsbekämpfung nicht dazu führen, dass elementare Bürgerrechte ausgehöhlt würden – diese rote Linie sehen Kritiker bereits überschritten. Die Diskussion über Notwendigkeit bzw. rechtsstaatliche Zulässigkeit neuer Methoden der Verbrechensbekämpfung kristallisierte sich im sogenannten Lauschangriff, das heißt dem Abhören von Gesprächen in der Wohnung, der Video-Überwachung und der Online-Durchsuchung von Computern, heraus.

Einigkeit besteht darin, dass auch mit erweiterten Eingriffsbefugnissen letztlich die Organisierte Kriminalität nicht erfolgreich unterbunden werden kann, sondern dass eine rationale Kriminalpolitik an den Wurzeln des Übels ansetzen muss. Hierzu werden unter anderem gerechnet: der Rauschgifthandel und die Korruptionsanfälligkeit.
Beispielhaft für das Fehlschlagen von allein verbietenden und strafenden Gegenmaßnahmen in der Drogenpolitik wird immer wieder auf die Prohibitionspolitik von 1919 bis 1939 in den USA hingewiesen, als Herstellung, Transport und Verkauf alkoholischer Getränke per Gesetz verboten waren. Dies hatte zu einem Schwarzmarkt in enormem Umfang und zu einer neuen Ära organisierten Gangstertums geführt. Als erfolgversprechender Ansatz gilt demgegenüber, durch verstärkte Aufklärung sowie durch Hilfsmaßnahmen für Drogenabhängige, unter Einschluss von Drogenersatztherapien, den Drogenmarkt "trocken" zu legen, um so keine Nachfrage aufkommen zu lassen und die Beschaffungskriminalität zu mindern.

Die offensichtlich zunehmende Korruptionsanfälligkeit soll durch innerbehördliche Kontrollprogramme und durch den Ausschluss derjenigen von staatlichen Aufträgen, die einer Bestechung überführt wurden, zurückgedrängt werden. Durch Aufklärung wird eine größere Sensibilisierung auch gegenüber der "kleinen Korruption" angestrebt. Allerdings nimmt die Korruption nach den Tatverdächtigen- und Verurteiltenzahlen im Öffentlichen Dienst eher ab und auch in der Wirtschaft zeigen sich keine dramatischen Entwicklungen.

Dabei erfassen diese Zahlen jedoch nicht das Dunkelfeld in der Korruption. Im Zweiten Periodischen Sicherheitsbericht der Bundesregierung von 2006, S. 246, heißt es hierzu: "Das Dunkelfeld wird aber auf ein Vielfaches der bekannt gewordenen Fälle geschätzt. Am Korruptionsdelikt sind auf beiden Seiten nur Täter beteiligt, der Vorteilgeber und der Vorteilnehmer. Bei derartigen Delikten ohne unmittelbare Opferbeteiligung fehlt in der Regel der Geschädigte, der die Tat wahrnehmen und zur Anzeige bringen könnte. Empirische Untersuchungen zum Dunkelfeld der Korruption, die diese Vermutungen zum (wahren) Ausmaß von Korruption erhärten, liegen nicht vor. Angesichts der Deliktstruktur sind mit herkömmlichen Dunkelfeldforschungen in diesem Bereich kaum verlässliche Ergebnisse zu erzielen.
Bis zum Jahr 2000 nahm die Zahl der polizeilich registrierten Fälle zu, seitdem erfolgte ein stetiger Rückgang. Da Korruptionsdelikte typischerweise Kontrolldelikte sind, es also weitgehend von den zur Überwachung eingesetzten personellen und sächlichen Ressourcen abhängt, ob überhaupt etwas und wie viel entdeckt wird, kann aus dieser Entwicklung im Hellfeld nicht zwingend der Schluss gezogen werden, Korruption habe abgenommen."

QuellentextDie europäischen Aktivitäten der Mafia

[…] Frankfurter Allgemeine Zeitung: Wie aktiv sind die großen italienischen Mafiagruppen ’Ndrangheta, Cosa Nostra und Camorra heute in Europa?
David Ellero: Für die Mafiagruppen gibt es außerhalb Italiens zwei große Drehscheiben: die Iberische Halbinsel, vor allem Spanien. Und Deutschland, Belgien, Holland, die aus Mafia-Sicht eine Region bilden.
FAZ: Was treiben sie in diesen Regionen?
Ellero: Vor allem Drogenhandel und Geldwäsche. Die italienischen Mafiagruppen sind gut darin, große Mengen von Drogen aus den Ursprungsländern nach Europa zu bringen. Vor allem die ’Ndrangheta, aber auch die Camorra gehören zu den wichtigsten Kokain-Großhändlern. […] Rotterdam ist der größte Hafen Europas, Antwerpen gehört ebenfalls zu den größten. Frankfurt und Schiphol sind riesige Flughäfen. Und es gibt sehr, sehr gute Autobahnen, die auch noch unentgeltlich sind. Die Region Deutschland, Niederlande, Belgien ist eine exzellente Drehscheibe. Und illegale Güter folgen denselben Dynamiken wie legale Güter.
FAZ: Können Sie einschätzen, wie viel Geld die Mafiagruppen so verdienen?
Ellero: […] Manche sprechen von bis zu 100 Milliarden Euro pro Jahr. Eine italienische Universität schätzte den Gewinn der ’Ndrangheta vor einigen Jahren auf 44 Milliarden Euro – das wäre mehr als Apple und Microsoft verdienen. Die konservativsten Schätzungen, die ich kenne, kommen auf zehn bis 15 Milliarden Euro.
FAZ: Und was passiert mit diesen Summen?
Ellero: Wenn du Millionen über Millionen verdienst, musst du das Geld investieren. […] Und die Italiener sind nun einmal bekannt für ihre gute Küche. Italienische Restaurants sind weit verbreitet – und exzellent zum Geldwaschen, denn das Geschäft basiert auf Bargeld. […] Aber natürlich machen Restaurants, Bars und Cafés nur einen kleinen Teil aus. Wir haben Hinweise, dass die Mafia auch viel wichtigere Wirtschaftszweige infiltriert hat.
FAZ: Zum Beispiel?
Ellero: Die holländischen Behörden etwa haben vor zwei Jahren zusammen mit italienischen Ermittlern herausgefunden, dass die ’Ndrangheta den Blumenmarkt von Amsterdam unterwandert hatte, den größten Blumenmarkt der Welt. Andere Kriminelle investieren in Immobilien. Und dann ist man schnell in dem Bereich, den italienische Journalisten den grauen Bereich nennen. All die Rechtsanwälte, die Buchhalter, die Finanzberater und die anderen, die eigentlich keine Kriminellen sind, die die Mafia aber immer reicher machen. Auf diesem Level ist es sehr schwer, die Organisationen zu fassen zu bekommen. Je weiter sie die legale Wirtschaft unterwandern, desto mehr entfernen sie sich von der ursprünglichen Straftat, etwa dem Drogenschmuggel.
FAZ: Wie organisieren sich die italienischen Mafiagruppen in Europa?
Ellero: Sehr unterschiedlich. Die ’Ndrangheta, die außerhalb Italiens momentan sicher am besten aufgestellt ist, ist militärisch organisiert. Gerichtsverfahren in den vergangenen Jahren haben gezeigt, dass sie eine große Organisation ist, die eine Art Vorstand hat. Die Mitgliedschaft basiert auf Familienzugehörigkeit. Wenn die ’Ndrangheta expandiert, ist das kein Zufall, sondern eine präzise Strategie. […] Die Cosa Nostra in Sizilien ist ähnlich monolithisch aufgebaut. […] Die Camorra wiederum ist nicht eine einzelne homogene Organisation. Sie besteht aus einer Vielzahl von Clans, manche größer, manche kleiner, manche stärker strukturiert, manche weniger. Es gibt keine Aufnahmerituale. Und so wird auch die Expansion eher dem unternehmerischen Geist der einzelnen Gruppen überlassen.
FAZ: In Italien haben ’Ndrangheta, Cosa Nostra und Camorra eigene Territorien. Wie kommen sie auf europäischer Ebene miteinander aus?
Ellero: Außerhalb Italiens arbeiten sie normalerweise sehr gut zusammen. Sogar Clans, die sich in Italien bekämpfen, kooperieren im Ausland. Sie haben ein gemeinsames Ziel: Geld verdienen. […]
FAZ: Der Mafiaexperte Roberto Saviano sagt, Deutschland sei ein Paradies für die Mafia. Stimmen Sie dem zu?
Ellero: Ich würde nicht von einem Paradies sprechen. Das ist ein bisschen zu simpel. Italien hat als Ergebnis von 20, 30 Jahren Anti-Mafia-Kampf sehr fortschrittliche Gesetze entwickelt. So ist zum Beispiel die Zugehörigkeit zu einer mafiösen Organisation an sich schon eine Straftat. Vermögen und Eigentum von Mafiamitgliedern kann beschlagnahmt werden, auch wenn es keinen Strafprozess und kein Urteil gibt. Im Rest von Europa ist das nicht möglich, das gilt nicht nur für Deutschland. […] [D]ie Kriminellen […] [investieren deshalb] […] ihr Geld dort, wo es nicht so leicht beschlagnahmt werden kann. Und weil Deutschland die größte italienische Gemeinde hat, gibt es schon statistisch die größten Probleme mit italienischen Kriminellen. Und natürlich zieht die starke deutsche Wirtschaft sie an. […]
FAZ: Wie definieren Sie denn Mafia?
Ellero: […] Mafiöse Strukturen sind Organisationen, die allein durch die Mitgliedschaft in der jeweiligen Gruppe Angst und Einschüchterung verbreiten. Es muss keine explizite Bedrohung, etwa mit dem Tod, geben. Mafiöse Kriminalität fokussiert sich auf das Unsichtbare. Ein Beispiel: Bei einer Auktion wird ein Haus versteigert. Ein Mafiamitglied kommt herein und will das Haus kaufen. Keiner gibt ein Angebot ab, weil alle den Kerl kennen und Angst haben. […] Das ist mafiös. Und in Italien ist das strafbar. In anderen europäischen Ländern nicht.

"Die Mafia fokussiert sich aufs Unsichtbare". Interview von David Klaubert mit David Ellero, italienischer Polizist und bis vor kurzem Mafiaexperte von Europol, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 12. August 2017 © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv.

QuellentextStaatliches Vorgehen gegen schwerstkriminelle Strukturen

[…] Im Rest Berlins wird noch diskutiert, ob der Begriff "Clan" nicht diskriminierend sei. In Neukölln nennt man die Dinge beim Namen. […] Die Geschichte der arabischen Clans ist ein Musterbeispiel für misslungene Integrationspolitik. Die Familien, die vor allem im Zuge des Libanon-Krieges nach Deutschland gekommen waren, erhielten hier zwar kein Bleiberecht, konnten aber auch nicht abgeschoben werden, da sie der Libanon nicht als seine Staatsbürger betrachtete. Ein Teil der Familien stammt ursprünglich aus Palästina, andere sind sogenannte Mhallamiye-Kurden, die in den dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts aus dem Südosten der Türkei in den Libanon gezogen waren. In Deutschland bekamen sie keine Arbeitserlaubnis. Sozialleistungen wurden gekürzt.

Die Familien zogen sich zurück in ihre patriarchalische Männerwelt. Sie suchten sich ihre eigenen Wege, um an Geld zu kommen. Regeln, die der Staat vorgab, waren ihnen egal. So führten die Kinder erst die Statistiken der Schulschwänzer und bald die der Intensivtäter an, während sich die Älteren das Viertel untereinander aufteilten. Frauen hatten sich zu fügen. Geheiratet wurde nur zwischen den Familien. […] Zwölf bis 14 dieser Familien gibt es in Berlin – je nach Zählung. Acht davon haben ihren Mittelpunkt in Neukölln. Zusammen werden die Clans für gut 20 Prozent der Straftaten im Bereich organisierte Kriminalität verantwortlich gemacht.

[…] Doch der Bezirk will sich nicht länger auf der Nase herumtanzen lassen – und hat seine eigenen Mittel. […] Schwerpunkteinsätze finden inzwischen regelmäßig statt, trotz aller Personalengpässe in der Verwaltung. […] Der Staat zieht sich nicht mehr zurück.

Doch die gemeinsamen Aktionen haben noch ein weiteres Ziel. Die Verwaltung soll besser zusammenarbeiten. Ein Grund für die Misere war, dass jedes Amt nicht über den Tellerrand schaute. So fiel es nicht auf, wenn Familien Probleme auf allen Ebenen hatten, mit dem Schulamt, dem Sozialamt, dem Wohnungsamt, der Polizei.

Die Antwort ist Austausch auf allen Ebenen. Seit November gibt es eine Arbeitsgruppe Kinder- und Jugendkriminalität von Bezirksamt und Justiz. Ein "Staatsanwalt vor Ort" ist für mehrere Tage pro Woche in Neukölln, um mitzubekommen, wenn ein Mitglied der Familienclans im teuren SUV beim Jobcenter vorfährt, um sich die Stütze abzuholen.

Im riesigen alten Rathaus soll die rechte Hand wieder wissen, was die linke macht. Flurfunk ist angesagt. Bei gemeinsamen Einsätzen sollen die Mitarbeiter der Ämter mitbekommen, was die anderen machen. […] Kurz: Der Staat muss besser organisiert sein als die organisierte Kriminalität.

Und wenn man den Halbweltgrößen mit dem Strafrecht nicht beikommen kann, hat der Bezirk ja noch das Ordnungsamt […]. Das Ordnungsamt braucht für seine Gewerbekontrollen, anders als die Polizei, keinen Durchsuchungsbeschluss. Die Mitarbeiter dürfen überall reingucken. […]

Trotz ihrer patriarchalischen Strukturen seien die "Clans" keineswegs straff geführte Organisationen, sagen erfahrene Ermittler. Viele Aktionen würden spontan begangen, nicht von langer Hand geplant. Gemacht werde, was das schnelle Geld bringe. Die Polizei spricht deshalb nicht von "Familien" oder "Clans", sondern von "Schwerstkriminalität aus arabischen Strukturen". In den "Strukturen" würden Straftaten schlicht als das einfachste Mittel gesehen, um Geld zu verdienen und sich Reputation zu erarbeiten.

Bei ihren Versuchen, ins offene Geschäft, ins "Hellfeld" zu wechseln, seien die Familienmitglieder oft schlechte Kaufleute. Es gebe zwar Familien, die inzwischen internationale Netzwerke aufgebaut hätten. "Aber insgesamt wird das strategische Bewusstsein der Strukturen extrem überschätzt", sagt ein Ermittler. Die medienwirksamen Aktionen, die offene Provokation der Staatsmacht bringen ihnen am Ende kaum Vorteile. Anders als die meisten Mafia-Organisationen, die diskret vorgehen, suchten viele Mitglieder der Clans Prestige und den großen Auftritt, egal um welchen Preis. Das Muskelspiel steht im Vordergrund.

Darauf bezieht sich das Signal, das durch Neukölln gehen soll: Der Staat hat die größeren Muskeln. […]

Alexander Haneke, " Parallelgesellschaft", in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 3. März 2018 – Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv.

Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung

Sexuelle Gewalt wird vor allem gegen Kinder und Frauen ausgeübt. Täter sind überwiegend Männer, die in der Regel physisch stärker sind. Ein besonderes Problem stellt hierbei die international organisierte Zwangsprostitution dar. Sexuelle Gewalt wird als sexuelle Nötigung und Vergewaltigung bestraft. Daneben gibt es weitere Strafandrohungen.

Zum Schutze der sexuellen Selbstbestimmung bei Kindern unter 14 Jahren ist ein absolutes Verbot aufgestellt: An ihnen dürfen auch ohne Gewalt keine sexuellen Handlungen vorgenommen werden. Diese sind als sexueller Missbrauch von Kindern strafbar. Diese Verletzungen werden zusätzlich dadurch gesteigert, dass die Täter häufig zur Familie gehören, im Fall des sexuellen Missbrauchs oftmals gerade die Väter, Stiefväter oder Onkel. Hinzu kommt, dass diese Missbräuche sich häufig über Monate oder gar Jahre hinziehen.

Der Umfang der Sexualkriminalität ist schwer einzugrenzen. Die Ermittlungsverfahren und Verurteilungen zeigen nur einen Bruchteil dieser Kriminalität, das meiste wird nicht aufgedeckt. Die Ursache für das große Dunkelfeld sind Abhängigkeiten und Gefühle wie Scham und Angst der Betroffenen. Auch wissen gerade Kinder sich im frühen Alter noch nicht zu wehren und müssen das Geschehen/das Verbrechen über sich ergehen lassen. Deshalb hat der Gesetzgeber 1994 festgelegt, dass die Verjährung für bestimmte Sexualstraftaten bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres der Betroffenen ruht.
Die polizeilich registrierten Fälle und die Verurteiltenzahlen klaffen weit auseinander. Das hat mehrere Gründe:

  • der Verdacht bestätigt sich nicht im Strafverfahren;

  • die Beweise reichen für eine Verurteilung nicht aus;

  • das Delikt gilt als verjährt;

  • bei leichteren Fällen ist das Verfahren mit oder ohne Auflagen eingestellt worden.

Zwischen Wahrheitssuche und Opferschutz

Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung (© Polizeiliche Kriminalstatistik)

Die Strafjustiz steht gerade bei der Verfolgung von sexueller Gewalt in einem Spannungsfeld zwischen Wahrheitssuche und Opferschutz. Strafjustiz muss auf der einen Seite die Wahrheit des Tatvorwurfs herausfinden. Wenn der Beschuldigte den Tatvorwurf bestreitet, müssen andere Beweise in den Prozess eingebracht werden. Hierzu gehört gerade auch die Zeugenvernehmung des Opfers. Strafjustiz muss aber auch dem Opferschutz genügen. Die Opfer einer Straftat möchten die schlimmen und verletzenden Erfahrungen der Vergangenheit hinter sich lassen, die strafprozessuale Aufarbeitung zwingt sie aber zur Konfrontation mit den zurückliegenden Ereignissen. Diese Belastungssituation verschärft sich noch, wenn der Beschuldigte aus der eigenen Familie stammt, diese den Tatbestand leugnet und eventuell dem Verletzten sogar Mitschuld zuspricht.

Dieser Konflikt ist nicht generell zu lösen. Das Gesetz bietet lediglich eine Milderung des Problems an:

  • In Ermittlungsverfahren ist möglichst nur eine Vernehmung des/der Verletzten durchzuführen.

  • Dem/der Verletzten soll durch Ausschöpfung anderer Beweismittel die Vernehmung in der Hauptverhandlung möglichst erspart werden.

  • Unter bestimmten Voraussetzungen kann die erneute Vernehmung in der Hauptverhandlung durch die Videoaufzeichnung der polizeilichen Vernehmung ersetzt werden.

  • Vor und während der Hauptverhandlung sind die Opfer der Straftat getrennt vom Angeklagten im Gerichtsgebäude unterzubringen.

  • In der Hauptverhandlung sollte die Öffentlichkeit ausgeschlossen werden.

  • Der Angeklagte kann bei Vernehmung von Zeugen unter 18 Jahren aus dem Sitzungssaal entfernt werden; die Vernehmung dieser Zeugen ist allein vom Vorsitzenden des Gerichts durchzuführen.

Darüber hinaus hat die Strafjustiz eine Hilfestellung und Betreuung des Opfers während des gesamten Strafprozesses sicherzustellen (psychosoziale Prozessbegleitung). So müssen Kinder, die Opfer einer Sexualstraftat geworden sind und als Zeugen in der Hauptverhandlung gehört werden sollen, auf diese Vernehmungssituation vorbereitet werden.

Prof. Dr. Heribert Ostendorf, geb. 1945, war nach dem Studium viereinhalb Jahre als Richter, vornehmlich als Jugendrichter, tätig. Anschließend lehrte er acht Jahre als Professor für Strafrecht an der Universität Hamburg. Von 1989 bis 1997 war er Generalstaatsanwalt in Schleswig-Holstein. Von Oktober 1997 bis Februar 2013 leitete er die Forschungsstelle für Jugendstrafrecht und Kriminalprävention an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel.
Professor Ostendorf hat neben Lehrbüchern und Gesetzeskommentaren zahlreiche wissenschaftliche Abhandlungen publiziert, vor allem zum Jugendstrafrecht. Sein Lehrbuch "Jugendstrafrecht" sowie sein Kommentar "Jugendgerichtsgesetz" sind in der 9. bzw. 10. Auflage erschienen und gelten als Standardwerke.