Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Strafrechtsprinzipien und Strafverfahren | Kriminalität und Strafrecht | bpb.de

Kriminalität und Strafrecht Editorial Lagebild der Kriminalität Ursachen von Kriminalität Vom Sinn und Zweck des Strafens Politische Strafjustiz in Deutschland Strafrechtsprinzipien und Strafverfahren Sanktionensystem Ziele und Aufgaben des Jugendstrafrechts Beispiele schwerer Formen der Kriminalität Aufgaben und Ausgestaltung des Strafvollzugs Literaturhinweise Impressum

Strafrechtsprinzipien und Strafverfahren

Heribert Ostendorf

/ 21 Minuten zu lesen

Im Lauf der Geschichte wurden verschiedene Strafrechtsprinzipien entwickelt. Sie schreiben fest, wie rechtsstaatlich und gleichzeitig rational mit Straftätern umzugehen ist.

Gesetzlichkeitsprinzip

Karikatur: Der deutsche Adler am Richterpult (© picture-alliance, die KLEINERT.de / Jan Rieckhoff)

Das erste Strafrechtsprinzip heißt Gesetzlichkeitsprinzip. Es hat im Grundgesetz seinen Niederschlag gefunden: "Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde" (Art. 103 Abs. 2 GG). Es müssen sowohl die Strafbarkeitsvoraussetzungen, der sogenannte Tatbestand (lat. "nullum crimen sine lege": kein Verbrechen ohne Gesetz), als auch die Strafbarkeitsfolgen (lat. "nulla poena sine lege": keine Strafe ohne Gesetz) bestimmt sein.

Hinsichtlich der Strafbarkeitsfolgen stellt der Gesetzgeber für das Erwachsenenstrafrecht einen Rahmen auf, innerhalb dessen das Gericht nach bestimmten Strafzumessungsregeln die konkrete Strafe festzusetzen hat. Nur bei Mord und Völkermord hat der Gesetzgeber eine absolute Strafe angedroht, die lebenslange Freiheitsstrafe, die allerdings bei verminderter Zurechnungsfähigkeit reduziert werden kann.

Im Jugendstrafrecht wird ein größerer Entscheidungsfreiraum gewährt. Aber auch hier gilt, dass vor der Begehung der Straftat das strafbare Verhalten gesetzlich bestimmt sein muss, damit der Jugendliche/Heranwachsende sich in seinem Verhalten auf mögliche Strafen einstellen kann.

Eine Ausprägung des Gesetzlichkeitsprinzips ist das Rückwirkungsverbot. Damit ist das Verbot gemeint, Gesetze zu erlassen, die nicht nur für die Zukunft, sondern auch für die Vergangenheit ein bestimmtes Tun oder Unterlassen unter Strafe stellen. Das Rückwirkungsverbot gilt nur für diejenigen Normen, die die Strafrechtsfolgen einer begangenen Tat festlegen. Vom Rückwirkungsverbot nicht umfasst sind dagegen diejenigen Normen, die das Verfahren – sei es Ermittlung, Hauptverhandlung oder Vollstreckung – regeln. Für diese gilt nicht das Recht der Tatzeit, sondern das Recht der Aburteilungszeit.

Der Gang eines Strafverfahrens (© Bergmoser + Höller Verlag AG, Zahlenbild 129520)

Ein Streit hatte sich in der Bundesrepublik insbesondere anlässlich der Verlängerung der Verjährungsfrist bei nationalsozialistischen Mordtaten entzündet. Ursprünglich galt nach dem Reichsstrafgesetzbuch von 1871 bei Mord eine Verjährungsfrist von 20 Jahren. Der Deutsche Bundestag hat diese Verjährungsfrist aber schrittweise verlängert und schließlich 1979 die Unverjährbarkeit des Mordes festgestellt. Hatte also jemand im Jahre 1943 einen Mord begangen, so wäre dieser nach den damaligen Bestimmungen nach 20 Jahren – also 1963 – verjährt gewesen. Wenn der Gesetzgeber später Mord für unverjährbar erklärt, wird ein Gesetz angewendet, das zur Tatzeit so noch nicht gegolten hat. Der Täter könnte also sagen, dass er mit diesen Folgen nicht habe rechnen müssen. Andererseits war aber auch 1943 Mord strafbar. Es geht also hier nicht um die Strafbarkeit an sich, sondern nur um die Frage, wie lange danach noch die Tat verfolgt und ein Strafprozess geführt werden darf.
Eine vergleichbare Problematik stellte sich für die Straftaten, die von der Strafjustiz in der DDR nicht verfolgt wurden, zum Beispiel Erschießungen an der innerdeutschen Grenze, die als Totschlag geahndet werden sollten und für die eine Verjährung von 20 Jahren galt. Der Bundesgesetzgeber hat ausdrücklich das Ruhen der Verjährung in der Zeit der faktischen Nichtverfolgung festgeschrieben; die Jahre der DDR-Justiz werden bei der Verjährung also nicht angerechnet.

Bindung an Verfassungsnormen
Gesetze sind Interessenentscheidungen des Gesetzgebers. Dem Gesetzgeber kommt insoweit auch für Strafgesetze ein Beurteilungsfreiraum zu. Es ergibt sich allerdings für ihn eine Bindung an die Verfassungsnormen. Meinungsäußerungen dürfen nur dann unter Strafe gestellt werden, wenn damit in fremde Rechte und/oder in fremde Schutzsphären eingegriffen wird. Bestimmte Religionen, bestimmte Parteien dürfen nicht unter einen gesonderten Strafrechtsschutz gestellt werden. In diesem Zusammenhang gilt es zu unterscheiden zwischen Moralwidrigkeit und Rechtswidrigkeit. Nur das sogenannte ethische Minimum, so der österreichische Staatsrechtler Georg Jellinek (1851–1911), wie es in den Artikeln des Grundgesetzes umrissen ist, darf von Staats wegen gefordert werden. Eine bestimmte kirchliche Sexualmoral kann beispielsweise nicht für allgemeinverbindlich erklärt werden. In einem freiheitlichen Staatswesen ist der Staat keine Moralinstanz, weshalb in einem strafrechtlichen Normverzicht nicht ein moralisches Gutheißen erblickt werden darf: Was als strafunwürdig definiert wird, ist damit noch nicht als moralwürdig hingestellt. Nur in absolutistischen Staatssystemen wird zwischen Moralwidrigkeit und Gesetzeswidrigkeit nicht unterschieden.

Instanzenwege in der Strafgerichtsbarkeit bei Erwachsenen / Jugendlichen / Heranwachsenden (© bpb, Heribert Ostendorf)

Schuldstrafrecht
Der strafrechtliche Vorwurf bedeutet immer: Du, Bürgerin oder Bürger, hättest Dich anders verhalten können, wenn Du nur gewollt hättest. Hinter diesem Vorwurf steht das sogenannte Schuldstrafrecht: Keine Strafe ohne persönliche Schuld. Hierbei wird für Erwachsene vermutet, dass sie entsprechend ihrer Entwicklung grundsätzlich schuldfähig sind. Umgekehrt kann bei Jugendlichen, das heißt im Alter von 14 bis 17 Jahren einschließlich, nicht grundsätzlich von dieser Schuldvoraussetzung ausgegangen werden. Deshalb ist nach dem Jugendgerichtsgesetz hier immer die Schuld gesondert zu prüfen, das heißt, sie muss als gegeben festgestellt werden.

Allerdings gibt es auch strafrechtliche Reaktionen, die unabhängig von der persönlichen Schuld gefällt werden. Das deutsche Strafrechtssystem kennt das doppelspurige System der Strafen sowie der Maßregeln zur Besserung und Sicherung. Diese Maßregeln können auch und gerade dann ausgesprochen werden, wenn der oder die Angeklagte wegen persönlicher Schuldunfähigkeit (zum Beispiel Krankheit oder Rauschzustand) nicht verantwortlich handeln konnte. Die Einweisung in ein psychiatrisches Krankenhaus oder in eine Entziehungsanstalt für Suchtkranke ist somit unter bestimmten Voraussetzungen auch dem Strafgericht erlaubt, zum Beispiel wenn ein Brandstifter unter psychischem Zwang (Pyromane) Brände gelegt hat. Die härteste Maßregel der Besserung und Sicherung ist die Sicherungsverwahrung, die im Anschluss an die Strafe vollstreckt wird und lebenslang dauern kann.

Strafrecht als letztes Mittel
Das Strafrecht ist das schärfste Steuerungsinstrument des Staates, weil hiermit in der Regel am härtesten in die Privatsphäre eingegriffen wird (Im Gegensatz dazu wird von Nichtdeutschen häufig die Ausweisung als härteste Maßnahme empfunden.). Deshalb darf dieses Mittel aus rechtsstaatlichen Gründen (Grundsatz der Verhältnismäßigkeit) nur als letztes Mittel, als ultima ratio, eingesetzt werden. Zuvor sind andere Steuerungsinstrumente wie das Zivilrecht oder das Verwaltungsrecht anzuwenden. Hinzu kommen Effizienzüberlegungen: Bei einem übermäßigen Einsatz von Strafandrohungen verpufft die erwünschte Wirkung. Unter dem Aspekt der Vorbeugung betrachtet steht die Strafe erst an dritter Stelle. Als primäre Prävention gilt das Einwirken auf den Menschen zu einem normgetreuen Verhalten durch Erziehung und die Schaffung eines günstigen sozialen Klimas durch jugendpolitische und/oder sozialpolitische Maßnahmen; als sekundäre Prävention gilt die Vermeidung von Gelegenheiten und negativen Einflüssen. Zum Beispiel beugen technische Maßnahmen wie der Einbau einer elektronischen Autosicherung Fahrzeugdiebstählen vor.

Strafrecht hat deshalb immer nur "fragmentarischen Charakter", deckt nicht alle Regelverstöße der Bürgerinnen und Bürger ab. Nur bei elementaren Rechtsgüterverletzungen soll und darf das Strafrecht eingreifen. Ausprägungen dieses Prinzips sind, dass Handlungen, die eine Straftat vorbereiten, grundsätzlich noch nicht unter Strafe gestellt werden und die Strafbarkeit erst – bei schweren Delikten – mit Versuchsbeginn einsetzt. Das Ausspionieren einer günstigen Gelegenheit, zum Beispiel für einen Diebstahl, ist noch nicht strafbar, weil viele schon mal solche verwerflichen Gedanken haben, von der Realisierung aber doch zurückschrecken. Die Bestrafung solch einer bösen Absicht würde ein Gesinnungsstrafrecht bedeuten. Erst wenn der Tatplan konkret umgesetzt wird, beginnt die Strafbarkeit. Bei der Terrorismusbekämpfung hat der Gesetzgeber aber Ausnahmeregelungen geschaffen, indem auch die Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat sowie die Aufnahme von Beziehungen zu Terrorgruppen, um sich entsprechend unterweisen zu lassen, unter Strafe gestellt werden.

Eine weitere Ausprägung dieses Ultima-Ratio-Prinzips ist, dass das sogenannte Verwaltungsunrecht nur mit Geldbußen – bestimmte Verkehrsverstöße auch mit Fahrverbot – nach dem Ordnungswidrigkeitengesetz verfolgt wird. Die meisten Verstöße im Straßenverkehr wie zu schnelles Fahren oder Parken im Parkverbot sind Ordnungswidrigkeiten. Sie stellen kein kriminelles Unrecht dar und werden in einem besonderen Verfahren nach dem Ordnungswidrigkeitengesetz verfolgt. Ordnungswidrigkeiten finden sich in vielen Gesetzen zum Beispiel im Waffengesetz, im Jugendschutzgesetz und im Versammlungsgesetz; ihre Zahl ist kaum mehr überschaubar.

QuellentextDas letzte Mittel im Strafrecht

Ultima Ratio heißt übersetzt "letztes Mittel". […] In der Theorie. Wir kennen diesen Grundsatz aber auch in unserem Alltag. Wenn wir erkältet sind, Schnupfen haben, versuchen wir zunächst, ohne Antibiotika auszukommen, stattdessen heiße Milch mit Honig zu trinken, Salzlösungen zu inhalieren, frische Luft zu "tanken", Antibiotika erst einzusetzen, wenn diese Hausmittel nicht wirken, weil diese immer auch schädliche Nebenwirkungen erzeugen – bis zur Antibiotikaresistenz. […]

Auch Strafen, mit denen wir versuchen, Kriminalität zu bekämpfen, soziale Krankheiten zurückzudrängen, haben häufig schädliche Nebenwirkungen. Nicht nur der Straftäter erleidet mit der Bestrafung Übel, häufig auch die Familienangehörigen, die Kinder, der Lebenspartner. Und Strafübel wirken fort, der Verurteilte kann seine Arbeit verlieren, wenn er denn eine hat, Schulden werden gerade in der Zeit des Freiheitsentzuges nicht abgetragen, sie vermehren sich, gesellschaftlich geraten Verurteilte nicht selten gänzlich ins Abseits. Familien brechen auseinander, Freunde und Nachbarn wollen nichts mehr mit so einem zu tun haben. Kriminologen sagen, der Straftäter wird stigmatisiert. Im Mittelalter wurden Straftäter gezielt an den Pranger gestellt. In unserer Mediengesellschaft, im Internet gibt es neue Prangerwirkungen. […]

Das Ultima-Ratio-Prinzip gilt heute auch im Strafrecht. Bevor der Gesetzgeber für sozialschädliches Verhalten Strafe androht, müssen andere, bessere Vorbeuge- und Reaktionsmittel ausgeschöpft sein. Das gebietet das Verhältnismäßigkeitsprinzip. Das Verhältnismäßigkeitsprinzip ist Teil des Rechtsstaatsprinzips, abgeleitet aus Artikel 20 Abs. 3 Grundgesetz. Wenn der Staat mit Strafen, d. h. mit Rechtsgüterverletzungen beim Delinquenten, die Rechtsgüter der Bürger schützen will, muss dies unbedingt notwendig sein, weil mildere Mittel nicht ausreichen. Jede Strafe, auch die gut gemeinte erzieherische Sanktion, verlangt etwas vom Delinquenten, greift in seine Rechtsposition ein. Emotionale Strafbedürfnisse reichen für rechtsstaatliches Strafen nicht aus. Die Versteinerung von Rechtsgefühlen in Strafgesetzen bedarf der Gesetzesnotwendigkeit. Das ist das Wesen des Rechtsstaates, dass der Staatsmacht Grenzen gesetzt werden. Und wenn wir im Gerichtssaal Strafen aussprechen, müssen diese ebenfalls notwendig, zusätzlich geeignet und schuldangemessen sein. […]

Ich nenne vier Beispiele, vier Regelungen im Strafrecht, in denen sich dieses Ultima-Ratio-Prinzip widerspiegelt.
1. Vor Anklageerhebung, vor einer Verurteilung muss geprüft werden, ob eine Einstellung des Verfahrens wegen Geringfügigkeit in Betracht kommt – eine Einstellung mit Auflagen (meistens mit einer Geldbuße) oder ohne Auflagen. Dies gilt im Erwachsenenstrafrecht gemäß den §§ 153, 153a StPO [Strafprozessordnung]; dies gilt insbesondere im Jugendstrafrecht gemäß den §§ 45, 47 JGG [Jugendgerichtsgesetz]. Im Jugendstrafrecht werden ca. 67 Prozent der Verfahren aus diesen Opportunitätsgründen eingestellt, z. T. auch aus prozessökonomischen Gründen. Das Verfahren, angefangen mit der polizeilichen Vernehmung bis zum Tätigwerden der Staatsanwaltschaft bzw. des Gerichts, hat häufig bereits eine ausreichende Wirkung neben den sozialen Folgen und Reaktionen, z. B. vonseiten der Eltern bei Jugendlichen. "Nicht mit Kanonen auf Spatzen schießen", lautet das Sprichwort.
2. Bei Verstoß gegen das BtMG [Betäubungsmittelgesetz] hat die Drogentherapie Vorrang vor der Bestrafung gemäß den §§ 35 ff. BtMG. Das macht Sinn. Drogenabhängige werden allein mit Strafen nicht geheilt; auch im Strafvollzug werden Drogen konsumiert. Eine Besserung, eine Prävention vor weiteren Straftaten – auch vor der Beschaffungskriminalität – kann in der Regel nur die Drogentherapie bringen; die Strafandrohung kann hierfür einen Anstoß geben.
3. Ambulante Sanktionen […] haben Vorrang vor stationären Sanktionen – wie bei Krankheiten. Im Jugendstrafrecht gibt es für den ambulanten Bereich eine ganze Palette von Strafeinwirkungen: Erziehungsmaßregeln und Zuchtmittel. Jugendstrafe wegen schädlicher Neigungen des Angeklagten […] darf gemäß § 17 Abs. 2, 1. Alt. JGG nur verhängt werden, wenn Erziehungsmaßregeln und Zuchtmittel nicht ausreichen. So steht es im Gesetz – und dem Gesetz sind wir verpflichtet.
4. Viertes und letztes Beispiel für das Ultima-Ratio-Prinzip im Strafrecht: Wenn eine Freiheitsstrafe unverzichtbar ist, die bekanntlich im Jugendstrafrecht Jugendstrafe heißt, kann diese Strafe zur Bewährung ausgesetzt werden, d.h. wenn der Verurteilte sich in der Bewährungszeit gut führt und die Weisungen und Auflagen befolgt, wird die Strafe erlassen. Im Jugendstrafrecht soll die Jugendstrafe bis zu zwei Jahren zur Bewährung ausgesetzt werden (§ 21 Abs. 2 JGG). Die Resozialisierung des Täters mit Weisungen und Auflagen, insbesondere auch mit Unterstützung durch den Bewährungshelfer, ist erfolgversprechender als mit der Verbüßung der Freiheitsstrafe in einer Strafvollzugsanstalt. Trotz aller Bemühungen in den Anstalten ist die Rückfallquote deutlich höher als nach einer Bewährungsstrafe gerade mit Einsatz eines Bewährungshelfers. Deshalb ist der Bewährungshelfer im Jugendstrafrecht verpflichtend. Die Rückfallquote nach Verbüßung einer Jugendstrafe liegt bei 70–80 Prozent, wobei die Definition des Rückfalls unterschiedlich ist. […]

Heribert Ostendorf, "Jugendstrafrecht – Ultima Ratio der Sozialkontrolle junger Menschen", in: Zeitschrift für Jugendkriminalrecht und Jugendhilfe, Heft 4, 2017, abrufbar unter Externer Link: www.dvjj.de

Prinzipien der Straforganisation

Die rechtsprechende Gewalt ist den Gerichten anvertraut, wobei in der Strafjustiz – zum Teil auch in anderen Gerichtszweigen – neben berufsmäßigen auch ehrenamtliche Richterinnen und Richter eingesetzt werden können. Sie sind unabhängig, das heißt, ihnen können keine Weisungen erteilt werden, so verfügt in Artikel 97 GG: "Die Richter sind unabhängig und nur dem Gesetze unterworfen."

Gericht
Im Geschäftsverteilungsplan werden nach bestimmten Grundsätzen für die Dauer eines Geschäftsjahres die anfallenden richterlichen Geschäfte auf die einzelnen Senate, Kammern oder Abteilungen eines Gerichts verteilt, um so im Vorhinein den "gesetzlichen Richter" (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) zu gewährleisten. Eine Abweichung davon ist nur in Ausnahmefällen möglich. Ein Richter darf deshalb auch nicht durch einen anderen Richter abweichend vom Geschäftsverteilungsplan ersetzt werden. Ebenso haben Richtlinien für das Strafverfahren, die von den Landesjustizverwaltungen entwickelt werden, für Richter keine unmittelbare Bedeutung. Wohl aber müssen sich Richter wie auch Staatsanwälte einer öffentlichen Kritik in den Medien stellen.

Erledigungen durch die Gerichte (© bpb, Heribert Ostendorf)

Erledigungen durch die Staatsanwaltschaften (© bpb, Heribert Ostendorf)

Staatsanwaltschaft
Als Strafverfolgungsbehörde leitet die Staatsanwaltschaft das Ermittlungsverfahren, sie erhebt und vertritt die Anklage und ihr obliegt bei Erwachsenen die Strafvollstreckung. Im Unterschied zu den unabhängigen Gerichten ist die Staatsanwaltschaft weisungsabhängig, wenngleich es im Hinblick auf die Gesetzesgebundenheit Grenzen gibt. Weisungen können von der Behördenleitung, letztlich vom Justizministerium des jeweiligen Bundeslandes, gegeben werden, auch wenn dies in der Praxis äußerst selten vorkommt. Insbesondere darf dem einzelnen Staatsanwalt nicht vorgeschrieben werden, wie er in einer Hauptverhandlung agiert, da nur mit der Verwertung der Hauptverhandlung, mit dem, was zum Beispiel die Zeugen hier aussagen, richtige Entscheidungen getroffen werden können. Die Hauptverhandlung ist das Kernstück des Strafverfahrens und daher entscheidend für die Überzeugung, die sich das Gericht bildet. Der Staatsanwaltschaft werden zunehmend Entscheidungskompetenzen übertragen, so darf sie insbesondere Ermittlungsverfahren aus Opportunitätsgründen einstellen.

Die Polizei ist im deutschen Strafprozessrecht im Rahmen der Strafverfolgung nur "Zuarbeiter" für die Staatsanwaltschaft, sie muss deren Weisungen folgen. Die Sachleitungsbefugnis hat somit die Staatsanwaltschaft, die allerdings selten in Anspruch genommen wird – nur in besonders wichtigen Verfahren wie zum Beispiel bei Tötungsverbrechen, bei der Verfolgung der Organisierten Kriminalität oder bei der Verfolgung von Sexualstraftaten. Ansonsten ermittelt zunächst die Polizei und übersendet die Ermittlungsakte der Staatsanwaltschaft, die allerdings nicht selten nachermitteln lässt und in ihrer Entscheidung frei ist von dem Ermittlungsergebnis der Polizei. In anderen, ebenso rechtsstaatlich ausgerichteten Staaten, zum Beispiel in den Niederlanden, wird der Polizei aufgrund einer anderen Tradition, aufgrund anderer Rechtsregeln sowie einer anderen Polizeiausbildung bei der Kriminalitätskontrolle mehr Machtbefugnis eingeräumt.

Verteidigung
Als drittes Organ der Strafrechtspflege gilt die Strafverteidigung. Jede und jeder Angeklagte hat nicht nur das Recht, sich selbst zu verteidigen, sondern auch das Recht, sich einen Verteidiger oder eine Verteidigerin zu wählen. Darüber hinaus gibt es in bestimmten Fällen einen Anspruch auf eine Pflichtverteidigung, deren Kosten von der Staatskasse getragen werden. Die Verteidigung hat die Aufgabe, die Rechte der Beschuldigten zu wahren und die entlastenden beziehungsweise für die Angeklagten sprechenden Gesichtspunkte geltend zu machen. Sie soll somit nur im Zusammenwirken mit Gericht und Staatsanwaltschaft der Wahrheitsfindung dienen und darf diese daher nur nicht aktiv vereiteln.

Die Verteidigung hat eigenständige Rechte. Insbesondere hat sie das Beweisantragsrecht und kann Rechtsmittel einlegen. Wahrheit und Gerechtigkeit sollen in der Auseinandersetzung zwischen Anklage und Verteidigung gefunden werden. Die Strafverteidigung muss folglich immer versuchen, das Beste für die Angeklagten herauszuholen. Allerdings ist im Gegensatz zum angloamerikanischen Recht der deutsche Prozess kein Parteienprozess, das heißt, die Staatsanwaltschaft soll nicht nur die gegen, sondern auch die für die Angeklagten sprechenden Umstände ermitteln und in den Prozess einbringen. Wie Letzteres auf der einen Seite in der Praxis häufig ausbleibt, so werden auf der anderen Seite Verteidigerrechte zum Teil sehr extensiv ausgenutzt (Konfliktverteidigung). Verfahrensverzögerungen sind aber im System des streitigen (kontradiktorischen) Prozesses angelegt; Strafverteidigung ist ein unverzichtbares Element der Strafrechtspflege.

Vollstreckung
Im Erwachsenenstrafrecht ist die Staatsanwaltschaft auch Strafvollstreckungsbehörde. Sie betreibt also die Vollstreckung der Strafurteile, fordert etwa die Geldstrafen ein oder leitet bei Freiheitsstrafen den Vollzug ein. Anders ist es im Jugendstrafrecht. Dort ist der Jugendrichter zugleich Vollstreckungsleiter. Die Organisation des Strafvollzuges von Freiheitsstrafen ist in den jeweiligen Landesjustizministerien angesiedelt. Anstehende gerichtliche Entscheidungen im Strafvollzug, zum Beispiel über die Entlassung zur Bewährung, werden bei Erwachsenen von sogenannten Strafvollstreckungskammern getroffen. Die Staatsanwaltschaft ist in diesen Entscheidungsprozess eingebunden.

Bindung an Gesetz und Recht

Da Strafgesetze notwendigerweise abstrakt, das heißt für viele Fälle und unterschiedliche Fallgestaltungen gefasst sind, stellt sich die Frage, ob eine Strafnorm im konkreten Einzelfall passt und angewendet werden kann. Im Hinblick auf das erwähnte Gesetzlichkeitsprinzip sind dem Strafrechtsanwender engere Grenzen gezogen als dem Rechtsanwender in anderen Rechtsgebieten. Entscheidend ist allein der Wortlaut des Strafgesetzes, der die Tat genau bezeichnen muss, es darf kein "Gummiparagraf" sein. Insbesondere ist eine entsprechende Gesetzesanwendung (Analogie) zuungunsten des Beschuldigten unzulässig. Wenn beispielsweise nach dem Gesetz ein Führerscheinentzug davon abhängig gemacht wird, dass ein "Kraftfahrzeug" im betrunkenen Zustand geführt wird, so darf der Führerscheinentzug nicht entsprechend für einen betrunkenen Fahrradfahrer angeordnet werden. Dies gilt auch, wenn neuere Entwicklungen, zum Beispiel in der Technik, dazu führen, dass Lücken in der Strafbarkeit entstehen. Es ist dann Aufgabe des Gesetzgebers – falls erforderlich – ,solche Lücken zu schließen. Dies galt etwa für die elektronischen Daten, die vom Gesetzgeber neu geschützt werden mussten. Staatsanwaltschaft oder Gerichte haben zur Gesetzesausweitung keine Kompetenz.

So hatte die Rechtsprechung nach altem Recht abgelehnt, Grafitti-Verunstaltungen zu bestrafen, da hierfür gem. § 303 Abs. 1 StGB eine Beschädigung oder Zerstörung einer fremden Sache Voraussetzung ist. Der Gesetzgeber hat mit dem neuen Abs. 2 des § 303 reagiert: "Ebenso wird bestraft, wer unbefugt das Erscheinungsbild einer fremden Sache nicht nur unerheblich und nicht nur vorübergehend verändert." Zweifel werden aber geäußert, ob damit (nicht "unerheblich" und "vorübergehend") die Strafbarkeit hinreichend bestimmt ist.

Über dem Gesetz stehen Grundrechte und Menschenrechte. Das Gericht hat nach Artikel 100 GG die Pflicht, die Verfassungskonformität von Gesetzen zu prüfen, wobei das Bundesverfassungsgericht das Monopol besitzt, nach dem Inkrafttreten des Grundgesetzes ergangene Gesetze als verfassungswidrig zu verwerfen.
Von daher hat der Grundgesetzgeber auch die doppelte Bindung an Gesetz und Recht aufgestellt (Art. 20 Abs. 3 GG). Die Gesetzgebundenheit ist keine bloße Formalität, sondern Grundlage für die Gewähr von Freiheiten. In einem freiheitlichen Staatswesen stellen nach einem Wort von Gustav Heinemann (1899–1976, Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland von 1969 bis 1974) Gesetze die Kleider der Freiheit dar. Nach dem Juristen Rudolf von Ihering (1818–1892) ist die Form "die geschworene Feindin der Willkür, die Zwillingsschwester der Freiheit". Formgebundenheit, das heißt Gesetzesgebundenheit, bedeutet auch Freiheitsverbürgung. Gesetzesungebundenheit ist das Einfallstor für Ideologien. So sind in der Strafprozessordnung die staatlichen Eingriffsbefugnisse genau abgesteckt, was auf der anderen Seite für die Beschuldigten eine Freiheitsverbürgung bedeutet.

Prinzipien des Strafverfahrens

Oberstes Prinzip für die Strafverfolgungsorgane ist das Legalitätsprinzip. Es bedeutet, dass bei Verdacht einer Straftat diese auch ohne Anzeige verfolgt werden muss. Ein Ermessensfreiraum besteht insoweit nicht. Die Strafverfolgungsbehörden, also Staatsanwaltschaft und Polizei, haben von Amts wegen und ohne Ansehen der Person des Beschuldigten ihre Ermittlungen durchzuführen. Wenn die Staatsanwaltschaft zum Ergebnis kommt, dass ein hinreichender Tatverdacht vorliegt, muss Anklage erhoben werden. Von diesem Grundsatz sind allerdings zunehmend Ausnahmen eingeräumt worden.

Dem Legalitätsprinzip steht danach das Opportunitätsprinzip gegenüber. Es stellt als Ausnahme vom Anklagegrundsatz (Legalitätsprinzip) die Entscheidung, ob wegen einer Straftat eingeschritten werden soll, in bestimmten Fällen in das Ermessen der Justiz. Hiernach kann die Staatsanwaltschaft oder das Gericht ein Strafverfahren unter bestimmten Umständen einstellen. Dies trifft insbesondere auf Bagatellstraftaten zu, bei denen das Verfahren wegen Geringfügigkeit eingestellt werden kann. Daneben gibt es noch weitere Einstellungsgründe, wobei die Staatsanwaltschaft zum Teil ohne Zustimmung des Gerichts diese Verfahren beenden kann. Neben dem Ziel einer angemessenen Reaktion auf Straftaten und der Vermeidung unnötiger Härten ("Nicht mit Kanonen auf Spatzen schießen") dient das Opportunitätsprinzip der Entlastung der Strafjustiz.

Vor allem im Jugendstrafrecht gibt es vermehrte Einstellungsmöglichkeiten, um Jugendliche nicht mit der ganzen Härte des Strafverfahrens zu überziehen. Hierfür hat sich weltweit der Begriff "Diversion" durchgesetzt, der dem Wortsinn nach Ablenkung oder Wegführung bedeutet (lat. divertere: vorbeileiten) und darauf zielt, Kriminalität möglichst außerhalb der Justiz und ihrer formellen Verfahren zu bewältigen.

Die Diversion verfolgt das Ziel, die Stigmatisierung der Betroffenen durch den Abbau formeller Verfahren zu vermeiden und schneller zu reagieren, damit der Bezug zwischen Tat und Reaktion erhalten bleibt. Auch sollen den Betroffenen flexiblere Hilfen zur Problemlösung angeboten werden. Nicht zuletzt soll die Justiz entlastet werden. Den Gegensatz dazu bilden die "formellen" Sanktionen, die durch Verurteilung verhängt werden.

"Diversion" ist zu unterscheiden von einem wortgleichen Be­griff, der in den früher kommunistisch regierten Staaten ver­wendet wurde, sich dort aber in völlig anderer Bedeutung auf einen Straftatbestand der Zerstörung und Unterwanderung bezog.

Unschuldsvermutung
Bis zum Abschluss des Strafverfahrens gilt die Unschuldsvermutung. Sie ist in Artikel 6 Abs. 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention festgelegt: "Jede Person, die einer Straftat angeklagt ist, gilt bis zum gesetzlichen Beweis ihrer Schuld als unschuldig". Dies hat Auswirkungen für das Ermittlungsverfahren, insbesondere auch für die Information der Öffentlichkeit. Namen von Beschuldigten dürfen in diesem Stadium grundsätzlich nicht bekannt gegeben werden, weil ansonsten eine Vorverurteilung eintreten könnte. Andererseits hat die Öffentlichkeit ein berechtigtes Interesse daran, über wichtige Strafverfahren informiert zu werden. Nur sogenannte Personen der Zeitgeschichte, das heißt Personen, die durch ihr Wirken im Blickpunkt der Öffentlichkeit stehen, müssen es sich in diesem Stadium gefallen lassen, auch als Beschuldigte genannt zu werden. In den sozialen Medien werden nicht selten Tatverdächtige vorverurteilt und an den Pranger gestellt.

Öffentlichkeitsprinzip
Ein weiterer Grundsatz des Prozessrechts ist das Öffentlichkeitsprinzip. Nur über die Öffentlichkeit der Hauptverhandlung können auch unbeteiligte Personen erfahren, wie die Strafjustiz auf Straftaten reagiert. Allein auf diese Weise kann das Rechtsbewusstsein bestätigt werden. Ursprünglich wurde die Öffentlichkeit der Prozesse während der Französischen Revolution zur Kontrolle der Justiz eingeführt. Wie aber bereits ausgeführt, gilt das Öffentlichkeitsprinzip nur für die Hauptverhandlung und dies auch nur für Erwachsene. Das Jugendstrafverfahren ist demgegenüber zum Schutz der Jugendlichen vor einer Bloßstellung grundsätzlich nicht öffentlich.

Verbot der Doppelbestrafung
Nach der Maxime "ne bis in idem" (lat.: nicht zweimal gegen dasselbe), die Verfassungsrang hat, darf niemand wegen derselben Tat aufgrund der allgemeinen Strafgesetze mehrmals bestraft werden (Art. 103 Abs. 3 GG). Eine Doppelbestrafung im Sinne einer erneuten Bestrafung würde das Vertrauen in die endgültige Aburteilung eines Normbruchs zerstören. Verurteilte müssen sich auch dann auf ein rechtskräftiges Urteil verlassen können, wenn dieses sich später als zu milde herausstellt. Bedeutung hatte dieser Grundsatz unter anderem für sogenannte Totalverweigerer, die aufgrund einer einmal und endgültig getroffenen Gewissensentscheidung sowohl den Wehrdienst als auch den Ersatzdienst ablehnten. Wegen des Verbots der Doppelbestrafung konnten sie nach einer ersten Verurteilung nicht erneut strafrechtlich belangt werden.

Subjektrolle der Angeklagten
Mit Rücksicht auf die verfassungsrechtlich verbürgte Menschenwürde darf kein Angeklagter und keine Angeklagte zum bloßen Objekt des Strafverfahrens gemacht werden. Der oder die Angeklagte ist die Hauptperson des Strafverfahrens und hat dementsprechend auch eine Vielzahl von eigenständigen Rechten: Fragerechte, Erklärungsrechte, Beweisantragsrechte und das sogenannte letzte Wort. Weiterhin können Angeklagte Rechtsmittel einlegen.

QuellentextDer Grundsatz der Mündlichkeit

Der Grundsatz der Mündlichkeit gehört zu den wesentlichen Maximen des Strafprozesses. Ein Strafurteil darf nur auf dem beruhen, was in der Hauptverhandlung erörtert wurde. Im Kern geht es dabei um die Vernehmung von Beschuldigten und Zeugen. Der Grundsatz erstreckt sich aber auch auf schriftliche Beweismittel, wie polizeiliche Vernehmungsprotokolle. Sie müssen vor Gericht grundsätzlich verlesen werden.

Ein schriftliches Verfahren lässt das deutsche Strafrecht nur ausnahmsweise zu. Es verleiht der unmittelbaren Kommunikation damit enorme Bedeutung. Zu deren Komplexität schweigt das Gesetz jedoch – trotz aller Gefahren missglückter Kommunikation, die jedem Menschen täglich drohen. […]

Trotz der Pflicht zur Mündlichkeit liefert der Gesetzesrahmen keine Anhaltspunkte dazu, wie etwa der Inhalt einer Aussage oder deren Glaubwürdigkeit zu ermitteln sind. Das Gesetz bietet auch keine Anleitung zur Vermeidung von Missverständnissen. Ebenso wenig liefert die Strafrechtswissenschaft Antworten auf diese allgemeingültigen Fragen. […]

Mit der Einführung der Mündlichkeit ging es dem Gesetzgeber im 19. Jahrhundert um eine Stärkung des Angeklagten, insbesondere des weniger gebildeten, der sein Anliegen nicht schriftlich vortragen konnte. Die Einführung des Mündlichkeitsprinzips markierte darüber hinaus einen rechtsstaatlichen Kontrast zum geheim geführten Inquisitionsprozess. Darin blieben selbst dem Angeklagten wesentliche Informationen, wie die Namen der gegen ihn aussagenden Zeugen, verborgen.

Eine Erkenntnis über den qualitativen Unterschied zwischen schriftlicher und mündlicher Kommunikation ging mit der Einführung des Mündlichkeitsprinzips nicht einher. Der Jurist Paul Johann Anselm von Feuerbach schrieb im Jahr 1821: "Ein gesprochenes Wort bedeutet ebenso viel als ein geschriebenes." […]

Marlene Grunert, "Kannitverstan? Nachfragen hilft!", in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 14. November 2017 © Alle Rechte vorbehalten, Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt von Frankfurter Allgemeine Archiv

Grundsätzlich muss ihnen auch nach Artikel 103 Abs. 1 GG das rechtliche Gehör eingeräumt werden. Dieser Grundsatz besagt, dass einer gerichtlichen Entscheidung nur solche Tatsachen und Beweisergebnisse zugrunde gelegt werden dürfen, zu denen die Beteiligten Stellung nehmen konnten. Es steht ihnen auf der anderen Seite frei, sich zur Sache zu äußern oder nicht auszusagen. Aus ihrem Schweigen dürfen keine nachteiligen Schlüsse gezogen werden.

Die Rechtsstellung der Beschuldigten wird im deutschen Strafrecht insbesondere dadurch geschützt, dass bestimmte Vernehmungsmethoden als verboten gelten und Aussagen, die unter Verletzung dieses Verbots zustande gekommen sind, nicht verwertet werden dürfen, selbst dann nicht, wenn der Beschuldigte einer Verwertung zustimmt. Ein vieldiskutiertes Beispiel ist der Einsatz von Lügendetektoren, die nach einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im deutschen Strafprozess nicht eingesetzt werden dürfen. Die Wirkungen dieser "Beweisverbote" gehen weit. Die Strafverfolgungsbehörden dürfen zwar listig vorgehen, sie dürfen aber den Beschuldigten nicht irreführen, indem sie ihn täuschen.

Dies ist ein Hinweis darauf, dass Strafverfolgung nicht um jeden Preis betrieben werden darf. Das Verbot bestimmter Vernehmungsmethoden ist somit auch ein Ausdruck des Prinzips eines fairen Verfahrens (fair trial), wie es Artikel 6 Abs. 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention festlegt: "Jede Person hat ein Recht darauf, dass […] über eine gegen sie erhobene strafrechtliche Anklage von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht in einem fairen Verfahren öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird. […]." Dieses fair-trial-Prinzip gebietet es auch, Strafverfahren in angemessener Zeit abzuwickeln (Beschleunigungsgebot).

Verhältnismäßigkeitsgrundsatz
Das Strafrecht ist Teil des öffentlichen Rechts, in dem das Verhältnis des Einzelnen zum Staat und den übrigen Trägern öffentlicher Gewalt geregelt ist. Auch im Strafrecht gilt daher das Prinzip der Verhältnismäßigkeit. Danach darf bei Eingriffen in verfassungsmäßig geschützte Rechte das angewendete Mittel nicht stärker sein und der Eingriff nicht weiter gehen, als der Zweck der Maßnahme es rechtfertigt.

Im Strafprozess wirkt sich dies dahingehend aus, dass verfahrensrechtlich zulässige Eingriffe in Freiheit, Eigentum und andere Rechtsgüter der Beschuldigten in einem angemessenen Verhältnis zur Schwere des Tatvorwurfs und zum Grad des bestehenden Verdachts stehen müssen. So darf beispielsweise kein Haftbefehl bei einem Ladendiebstahl ausgesprochen werden, auch dann nicht, wenn Flucht oder Fluchtgefahr besteht. Eine – vorläufige – Freiheitsentziehung würde in jedem Fall in keinem Verhältnis zu dem Tatvorwurf und der hierfür in Betracht kommenden Sanktion stehen.

Auch Durchsuchungs- und Beschlagnahmemaßnahmen oder psychiatrische Begutachtungen stehen unter dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Strafverfolgungsmaßnahmen stoßen daher vielfach an rechtliche Grenzen, die – auch wenn sie zum Teil in der Bevölkerung nicht auf Verständnis stoßen – bei der Rechtsanwendung wegen der Bindung an das Gesetz zu beachten sind.

Rechte und Pflichten

Anzahl der Untersuchungsgefangenen (© bpb, Kirstin Drenkhahn: Entwicklung und Prognose der Gefangenenpopulation und ihrer Merkmale)

Untersuchungshaftrate in Prozent (© bpb, Kirstin Drenkhahn: Entwicklung und Prognose der Gefangenenpopulation und ihrer Merkmale)

Beschuldigte müssen im Strafverfahren besondere Eingriffe der Strafverfolgungsbehörden (Polizei und Staatsanwaltschaft) erdulden. Als Beschuldigte gelten Personen, gegen die ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren geführt wird. Hierfür reicht ein Anfangsverdacht aus, der voraussetzt, dass konkrete tatsächliche Anhaltspunkte für ein strafbares Verhalten bestehen. Für schwerwiegende Eingriffe ist im Regelfall von Gesetzes wegen eine richterliche Entscheidung vorgeschrieben. Diese ist zwingend vorgesehen, wenn die Fahrerlaubnis vorläufig entzogen oder Untersuchungshaft angeordnet werden soll.

Im Fall der Freiheitsentziehung soll mit dieser Rechtsgarantie nach Artikel 104 Abs. 2 GG verhindert werden, dass ein derart schwerer Eingriff in die Freiheit der Person allein von weisungsgebundenen Exekutivorganen wie der Polizei abhängt. Allerdings kann in Eilfällen ("Gefahr im Verzug") statt einer vorherigen eine nachträgliche richterliche Entscheidung eingeholt werden. Von dieser Möglichkeit machen Polizei und Staatsanwaltschaft in der Praxis nicht selten Gebrauch. Insoweit spricht man von ihrer subsidiären "Eilkompetenz" bei Gefahr im Verzug.

Eingriffsbefugnisse gegen Beschuldigte
Die Strafverfolgungsbehörden können von folgenden Eingriffsbefugnissen Gebrauch machen:

  • Vernehmung: Der oder die Beschuldigte ist vor Anklageerhebung zu vernehmen; in einfachen Fällen genügt es, wenn dem Beschuldigten Gelegenheit gegeben wird, sich schriftlich zu äußern. Er ist verpflichtet, der Ladung des Gerichts sowie der Staatsanwaltschaft zu folgen; der polizeilichen Aufforderung muss er nicht nachkommen.

  • Identitätsfeststellung: Ist jemand einer Straftat verdächtig, so können die Strafverfolgungsbehörden die zur Feststellung seiner Identität erforderlichen Maßnahmen treffen. Auch Unverdächtige müssen sich unter bestimmten Voraussetzungen eine Identitätsfeststellung gefallen lassen, wenn sie zum Beispiel eine Straftat als Zeuge beobachtet haben.

  • Vorläufige Festnahme: Polizei und Staatsanwaltschaft sind zur vorläufigen Festnahme befugt, wenn die Voraussetzungen eines Haftbefehls vorliegen. Darüber hinaus gibt es ein "Jedermannsrecht" zur vorläufigen Festnahme. Es berechtigt jeden – auch ohne richterlichen Haftbefehl – eine auf frischer Tat ertappte Person vorläufig festzunehmen, wenn Fluchtgefahr besteht oder ihre Identität nicht sofort festgestellt werden kann.

  • Blutproben und DNA-Analysen: Gerade bei Tötungs- und Sexualdelikten hat sich die DNA-Analyse zu einem erfolgreichen Aufklärungsmittel entwickelt, weil so Täterspuren offengelegt werden.

  • Beschlagnahme: Beweismittel können beschlagnahmt werden.

  • Durchsuchung: Zum Zwecke der Festnahme sowie zum Auffinden von Beweismitteln dürfen Durchsuchungen von Wohnungen und anderen Räumen durchgeführt werden.

  • Überwachung der Telekommunikation: Bei bestimmten, besonders schweren Straftaten darf die Telekommunikation überwacht und aufgezeichnet werden. Auch Verkehrs- und Standortdaten können unter bestimmten Voraussetzungen ermittelt werden.

  • Rasterfahndung, Einsatz technischer Mittel, Einsatz verdeckter Ermittler: Um die Organisierte Kriminalität (siehe hierzu auch S. 62 ff.) intensiver verfolgen zu können, sind den Strafverfolgungsbehörden weitere Eingriffsbefugnisse eingeräumt worden. Rasterfahndung ist der Abgleich großer, zum Teil für ganz andere Zwecke angelegter Datenbestände (zum Beispiel Meldedaten über Strom- und Wasserbezieher oder Bankenbenutzer), um durch verschiedene Sortiervorgänge unter bestimmten Verdachtskriterien Tatverdächtige herauszufiltern. Der Einsatz technischer Mittel ("Lauschangriff") ist nach Änderung von Artikel 13 GG ("Die Wohnung ist unverletzlich") seit 1998, als die Absätze 3 bis 6 eingefügt wurden, auch in Wohnungen erlaubt. Versteckte Kameras ("Sehangriff") sind zum Zwecke der Strafverfolgung aber nicht genehmigt, nur das Bundeskriminalamt ist zur Prävention von terroristischen Taten zur Videoüberwachung befugt. Verdeckte Ermittler sind Polizeibeamte, die verdeckt, das heißt unter einer veränderten Identität, zur Aufklärung und Verfolgung von Straftaten mit erheblicher Bedeutung ermitteln und dabei eventuell auch in verbrecherischen Organisationen aktiv werden. Im Hinblick auf rechtsstaatliche Erfordernisse ist der Einsatz – rechtlich – jedoch umstritten. Hiervon zu unterscheiden sind sogenannte V-Leute (Vertrauensleute). Hierbei handelt es sich um Personen, die der Polizei im Rahmen ihrer Ermittlungen bei der Aufklärung einer Straftat vertrauliche Mitteilungen machen, aber keine Polizeibeamten sind.

  • Vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis: Sind dringende Gründe für die Annahme vorhanden, dass das Urteil für eine Straftat im Zusammenhang mit dem Führen eines Kraftfahrzeugs zur Folge haben wird, dass die Fahrerlaubnis entzogen wird, so kann diese vorläufig einbehalten werden.

  • Untersuchungshaft: Der härteste Eingriff in Bürgerrechte im Rahmen eines strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens ist die Untersuchungshaft. Der Gesetzgeber hat deswegen strenge Voraussetzungen für ihre Anordnung aufgestellt; dies gilt verstärkt in Jugendstrafverfahren. Voraussetzungen für die Verhängung von Untersuchungshaft sind: dringender, nicht bloß allgemeiner Tatverdacht; es muss ein Haftgrund vorliegen, nämlich Flucht- oder Verdunkelungsgefahr; außerdem gilt, dass die Verhältnismäßigkeit von zur Last gelegter Straftat und Freiheitsentziehung gegeben sein muss. Ausnahmsweise besteht auch bei Wiederholungsgefahr für bestimmte, schwere Straftaten ein Haftgrund. Dieser dient dann nicht mehr der Durchführung des Strafverfahrens, sondern der Vorbeugung vor weiteren Straftaten.

So funktioniert der DNA-Abgleich (© picture-alliance, dpa-infografik 24402, Quelle: dpa, Eurofins)

Rechte Beschuldigter
Den staatlichen Eingriffsbefugnissen stehen folgende Rechte der beschuldigten Personen gegenüber:

  • Recht auf Schweigen: Keine beschuldigte Person muss zu den Vorwürfen aussagen; erst recht braucht sich niemand selbst zu belasten. Darauf muss die beschuldigte Person hingewiesen werden. Falls dies nicht geschieht, dürfen ihre Äußerungen nicht verwertet werden.

  • Recht auf anwaltlichen Beistand: Die beschuldigte Person kann in jeder Lage einen Verteidiger oder eine Verteidigerin heranziehen. In bestimmten Fällen ist ihr eine Pflichtverteidigung zu bestellen, so zum Beispiel, wenn ihr ein Verbrechen, das heißt eine Straftat, für die eine Mindeststrafe von einem Jahr Freiheitsstrafe angeordnet wird, zur Last gelegt wird, oder wenn sich der Beschuldigte in Untersuchungshaft befindet.

  • Aktive Verteidigung: Die beschuldigte Person kann zu ihrer Entlastung einzelne Beweiserhebungen beantragen.

  • Ablehnung eines Richters oder einer Richterin wegen Besorgnis der Befangenheit: Hierfür muss ein Grund vorliegen, der geeignet ist, Misstrauen gegen die Unparteilichkeit eines Mitglieds des Gerichts zu wecken.

  • Heranziehung eines Dolmetschers: Wer die deutsche Sprache nicht versteht, hat Anspruch auf eine mündliche Übersetzung.

  • Rechtliches Gehör: Vor einer nachteiligen Entscheidung muss rechtliches Gehör gewährt werden (Art. 103 Abs. 1 GG; siehe S. 39). Dementsprechend hat der oder die Angeklagte vor der Urteilsverkündung das sogenannte letzte Wort; das entscheidende letzte Wort hat aber das Gericht.

  • Rechtsmittel: Gegen die Verurteilung können Angeklagte Berufung oder Revision einlegen. In der Berufungsinstanz können neue Tatsachen und Beweismittel vorgebracht werden, die dann wiederum einer neuen rechtlichen Würdigung unterliegen. Im Unterschied dazu lässt die Revision keine neuen Tatsachen zu, sondern führt nur zu einer Nachprüfung des angefochtenen Urteils in rechtlicher Hinsicht.

Opfer/Verletzte im Strafverfahren
Das Opfer einer Straftat hat zum einen in der Regel ein Interesse am Ausgang des Strafverfahrens, wobei seine unmittelbaren Interessen wie Schadensersatz oder Schmerzensgeld allerdings selten befriedigt werden; zum anderen wird das Opfer "gebraucht", um die Wahrheit zu ermitteln und den Beschuldigten zu überführen.

Zeugenrolle
Um eine im Strafverfahren relevante Tatsache zu beweisen, stehen unterschiedliche Beweismittel – Urkunden, Zeugen und Sachverständige – zur Verfügung. Im Falle des Zeugenbeweises berichtet eine Person dem Gericht darüber, wie sie bestimmte Tatsachen wahrgenommen hat. Der Zeuge oder die Zeugin hat die

  • Pflicht zum Erscheinen, das erzwungen werden kann, sofern die Ladung vom Gericht oder von der Staatsanwaltschaft erfolgt;

  • Pflicht zur Aussage über die eigene Person. Der Gesetzgeber hat aber einen Schutz vor Fragen nach möglichen entehrenden Tatsachen und Vorstrafen aufgestellt;

  • Pflicht zur Aussage zur Sache;

  • Pflicht zur Duldung von zumutbaren körperlichen Untersuchungen. So muss sich das Vergewaltigungsopfer, das eine Anzeige erstattet, eine ärztliche Untersuchung der Geschlechtsorgane gefallen lassen.

Diesen Pflichten stehen folgende Rechte gegenüber:

  • Zeugnisverweigerungsrechte insbesondere für Verlobte, Ehepartner und Verwandte sowie Verschwägerte der beschuldigten Person;

  • Auskunftsverweigerungsrecht: Jeder Zeuge kann die Auskunft auf solche Fragen verweigern, deren Beantwortung ihn selbst oder einen Angehörigen der Gefahr aussetzen würde, wegen einer Straftat oder Ordnungswidrigkeit verfolgt zu werden;

  • Recht auf Anwesenheit einer Vertrauensperson bei der Zeugenvernehmung;

  • Recht der Opfer/Verletzten, sich eines rechtsanwaltlichen Beistands zu bedienen. Bei schweren Delikten (Verbrechen), insbesondere bei Sexualverbrechen, haben die Betroffenen für ihre Zeugenvernehmung einen Anspruch auf anwaltlichen Beistand, die Kosten trägt der Staat;

  • Recht der Verletzten auf Beistand eines psychosozialen Prozessbegleiters;

  • Recht, den Ausschluss der Öffentlichkeit zu beantragen;

  • Entfernung des Angeklagten bei der Zeugenvernehmung, wenn seine Anwesenheit zu einer besonderen Belastung der Zeugin oder des Zeugen führen würde.

QuellentextZur Rolle des Opfers im Strafverfahren

Im Mittelpunkt des Strafprozesses steht der Angeklagte [...]. Es geht um seine Verurteilung, um seine Bestrafung. Insoweit ist das Strafverfahren täterorientiert [...]. Wenn der Staat in Form der Strafjustiz dem Bürger ein Strafübel auferlegt, muss die Schuld des Täters eindeutig nachgewiesen werden. [...] Der hieraus abgeleitete Beweisgrundsatz "Im Zweifel für den Angeklagten" wird vielfach von Opfern [...] nicht verstanden. [...] Dies ist aber die bittere Konsequenz eines Strafprozesses, der Straftäter überführen muss. Falschbezichtigungen sind zwar selten, aber sie kommen vor. Es gibt eben auch falsche Opfer.

Richtig ist aber, dass das Opfer seit der Einführung des staatlichen Strafprozesses in den Hintergrund gedrängt wurde, lange vergessen wurde und erst seit den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts wiederentdeckt wurde. [...] Der Gesetzgeber hat die Stellung des Opfers in den letzten Jahren verstärkt, z. B. mit dem Opferanwalt, der auch Akteneinsicht erhält. Die Nebenklage wurde ausgebaut [...].

Das Opfer soll bei schwerwiegenden Delikten sich auch im Jugendstrafprozess einbringen können, soll das erlittene Opferleid darstellen können. Dem Opfer ist auf Antrag mitzuteilen, wann der verurteilte Täter aus der Strafhaft entlassen oder wann erstmalig Vollzugslockerungen gewährt werden (§ 406d Abs. 2 StPO).
Darüber hinaus hat der Gesetzgeber den Täter-Opfer-Ausgleich sowohl im Jugendstrafprozess als auch im Erwachsenenstrafprozess eingeführt. [...]
Auf der anderen Seite gilt es klarzustellen: Der Strafprozess dient nicht der therapeutischen Behandlung der Opfer, die Hauptverhandlung ist hierzu ein höchst ungeeigneter Ort. Die Anerkennung und Aufarbeitung des Opferleids in einem Prozess ist ein begleitendes Anliegen, insoweit hat das Opfer seine eigenständige Rolle, dies ist aber nicht der Primärzweck.

Allerdings werden in der Praxis die Opferrechte häufig noch nicht hinreichend beachtet. [...] Auch wenn die Entscheidung des Gerichts möglicherweise gut vertretbar war, so muss die Justiz doch in diesen Fällen mehr Transparenz an den Tag legen und das Opfer mit in eine solche Entscheidung einbinden. Die Zeugen müssen in verständlicher Form über den Ausgang des Verfahrens informiert werden. Sonst wird kein Rechtsfriede hergestellt. [...] Es geht also nicht darum, die Rolle des Opfers im Strafprozess neu zu definieren, schon gar nicht darum, im Interesse eines Opferschutzes das Strafrecht zu verschärfen, es geht darum, die Interessen des Opfers im Alltag des Prozesses ernst zu nehmen. [...]

Heribert Ostendorf, "Der Missbrauch von Opfern zum Zwecke der Strafverschärfung", in: Praxis der Rechtsphilosophie, 18. Jahrgang, Heft 1, Oktober 2008

QuellentextResozialisierung incognito

[…] Es gibt in Deutschland viele Menschen, die mit echten Papieren unter falschem Namen leben – mit Billigung der Behörden. […]
Der deutsche Rechtsstaat verbannt selbst seine schlimmsten Feinde nicht in alle Ewigkeit, er setzt auf Resozialisierung, er hilft Straftätern aktiv dabei, in die Gesellschaft zurückzukehren. Er schränkt dafür sogar die Freiheit anderer ein. So haben Gerichte wiederholt verboten, die Namen der zwei Täter zu nennen, die den Münchner Schauspieler Walter Sedlmayr getötet haben – damit sie wieder Fuß fassen können im Leben. Viele Medien strichen die Namen in ihren Archiven. Erst der Bundesgerichtshof entschied 2009, dass die Verurteilten keinen Anspruch auf Entfernung ihrer Namen haben, das wäre eine unzulässige Beschneidung der Medienfreiheit. Andere Straftäter aber haben vor Gericht durchgesetzt, dass kein aktuelles Bild mehr von ihnen gezeigt werden darf – auch das zu ihrer Resozialisierung.
Die frühere RAF-Terroristin Susanne Albrecht, die es der RAF ermöglichte, 1977 den Dresdner-Bank-Chef Jürgen Ponto zu töten, einen Freund ihrer Familie, war 1991 zu zwölf Jahren Haft verurteilt worden. Mit den Fotos auf den Fahndungsplakaten aus den Siebzigern hat die Frau heute nichts mehr zu tun, mit der Frau vor Gericht schon eher. Im März 2007 setzte sie vor dem Oberlandesgericht Hamburg durch, dass die Veröffentlichung eines Fotos von diesem Prozess untersagt wird. Sie hatte damit argumentiert, dass sie ein Recht auf einen Neuanfang habe. Das Gericht gab ihr Recht: Hinter dem Resozialisierungsinteresse von Albrecht müsse das Interesse an einer Bildberichterstattung über die RAF-Prozesse zurücktreten.

Susanne Albrecht hatte als Kronzeugin gegen die RAF ausgesagt, der Staat tat daraufhin viel, um ihr die Rückkehr ins bürgerliche Leben zu erleichtern. Schon nach sechs Jahren kam sie frei. Sie arbeitete danach als Deutschlehrerin für ausländische Kinder in Bremen. Das Land sprach von einer "voll gelungenen Resozialisierung". Bremens langjähriger Bürgermeister Henning Scherf hatte sich persönlich darum gekümmert, dass alles geheim blieb.
Strikte Geheimhaltung, das ist der Schlüssel für das neue Leben. Denn neben resozialisierungswilligen Straftätern gibt es auch gefährdete Zeugen und auch Opfer von Verbrechen, die untertauchen müssen. Zum Beispiel die Familie des Münchner Attentäters David S.: Der 18-Jährige war im Sommer 2016 Amok gelaufen und hatte neun Menschen erschossen, bevor er sich selbst tötete. Er hinterließ Menschen voller Zorn, Trauer und Verzweiflung. Aber auch: eine Mutter, einen Vater, einen kleinen Bruder. Menschen, die weiterleben, ihr Geld verdienen, zur Schule gehen müssen. Auch die Familie des Münchner Attentäters hat einen neuen Namen bekommen, einen neuen Wohnsitz. Und die Familie musste einen Vertrag unterschreiben: Detailliert wird dort geregelt, was ihnen erlaubt ist und was nicht. Keine Besuche mehr am alten Wohnort, kein Plausch mit alten Freunden. [...]

Oft werden solche Menschen in andere Länder gebracht. "Aber das hat nichts mit einem tollen, neuen Leben auf Hawaii zu tun", sagt Ludwig Waldinger vom LKA Bayern, das eine "Zeugenschutz-Dienststelle" betreibt. Eher mit einem ziemlich kargen Leben in Paderborn. Oder in einer Kleinstadt in Österreich. Viele halten das dann gar nicht aus. Immer wieder kehren gefährdete Personen freiwillig dem Zeugenschutz den Rücken. Lieber haben sie ständig Angst als ständig einsam zu sein. Denn ein solches Leben verlangt den Menschen viel ab: vor allem eiserne Disziplin. Und das über Jahre.

Giorgio Basile, ein Mafia-Mörder, der selbst mindestens 30 Menschen ermordet hatte, hat immerhin schon 19 Jahre überlebt. 1998 ist er ausgestiegen und hat in Deutschland gegen seine Bande ausgesagt, seitdem schwebt er in Lebensgefahr, auch seine Frau und seine Kinder. Nie mehr dürfen die Kinder die Oma in Italien besuchen. Immer kann ein Umzug notwendig werden, oft von einem Tag auf den anderen. Oft müssen solche Menschen ihr Aussehen verändern. Da werden Haaransätze gehoben, Nasen operiert. Die Familie ist völlig aufeinander bezogen, keiner darf sich verplappern. Familie Basile weiß, dass sie bis zu ihrem Lebensende von der Mafia gesucht werden wird. Die Polizei in Italien weiß es auch. Entsprechend hart sind die Schutzmaßnahmen. "Diese Leute werden geschützt, aber eigentlich leben sie in einem Gefängnis außerhalb des Gefängnisses", sagt LKA-Sprecher Waldinger. […]

Annette Ramelsberger, "Plötzlich anonym", in: Süddeutsche Zeitung vom 16. Mai 2017

Nebenklage und Privatklage
Bei bestimmten Delikten kann sich der oder die Verletzte – bzw. bei Tötungsdelikten können sich die Angehörigen – der durch die Staatsanwaltschaft erhobenen Klage als Nebenkläger oder Nebenklägerin anschließen. Damit verbunden ist das Recht, an der Hauptverhandlung teilzunehmen und Anträge zu stellen.
Bei bestimmten Bagatelldelikten erhebt die Staatsanwaltschaft nur ausnahmsweise die Klage, "wenn dies im öffentlichen Interesse liegt". Geschieht dies nicht, kann der oder die Verletzte Privatklage erheben. In der Praxis wird hiervon selten Gebrauch gemacht. Der Grund dafür kann sein, dass der oder die Geschädigte kein besonderes Interesse an der Strafverfolgung hat, dass der Verfahrensweg nicht bekannt ist oder dass die Voraussetzung eines gescheiterten Sühneversuchs nicht erfüllt ist. Darüber hinaus müssen die Gebühren einer Privatklage vom Kläger vorgeschossen werden, daher besteht auch eine finanzielle Hürde.

Prof. Dr. Heribert Ostendorf, geb. 1945, war nach dem Studium viereinhalb Jahre als Richter, vornehmlich als Jugendrichter, tätig. Anschließend lehrte er acht Jahre als Professor für Strafrecht an der Universität Hamburg. Von 1989 bis 1997 war er Generalstaatsanwalt in Schleswig-Holstein. Von Oktober 1997 bis Februar 2013 leitete er die Forschungsstelle für Jugendstrafrecht und Kriminalprävention an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel.
Professor Ostendorf hat neben Lehrbüchern und Gesetzeskommentaren zahlreiche wissenschaftliche Abhandlungen publiziert, vor allem zum Jugendstrafrecht. Sein Lehrbuch "Jugendstrafrecht" sowie sein Kommentar "Jugendgerichtsgesetz" sind in der 9. bzw. 10. Auflage erschienen und gelten als Standardwerke.