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Vom Sinn und Zweck des Strafens | Kriminalität und Strafrecht | bpb.de

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Vom Sinn und Zweck des Strafens

Heribert Ostendorf

/ 8 Minuten zu lesen

Strafen heißt, mit Absicht Übel zufügen. Geschieht dies durch staatliche Stellen, bedarf es einer formalen, aber auch inhaltlichen Legitimation. Verschiedene Straftheorien bieten hierzu aus Ethik und Vernunft abgeleitete Grundlagen.

Freiheitsstrafen bedeuten nicht nur Entzug der Freiheit, sondern auch Verlust privater Lebensgestaltung. Zellentrakt in der Strafanstalt Berlin-Tegel, 2017 (© picture-alliance, Rolf Kremming)

Eine Kriminalstrafe bedeutet, mit absichtlicher Übelzufügung durch staatliche Organe auf kriminelle Taten zu reagieren. Nicht erst die Strafe ist eine Übelzufügung, bereits das Strafverfahren beschneidet die Freiheits- und Persönlichkeitsrechte der Beschuldigten. Das Strafverfahren ist ein Zwangsverfahren. Selbst wenn es mit einem Freispruch endet, wird mit dem Ermittlungsverfahren, dem Anklagevorwurf sowie der – öffentlichen – Hauptverhandlung in das Persönlichkeitsrecht eingegriffen. Über die Bloßstellung in der Öffentlichkeit kann eine Anklage zum wirtschaftlichen Ruin oder zum Verlust von gesellschaftlichen und politischen Ämtern führen. Strafe ist niemals Wohltat, mag sie auch noch so gut gemeint sein.

Für eine solche staatlich angeordnete und durchgeführte Übelzufügung bedarf es einer besonderen Legitimation, und zwar nicht nur einer formalen, das heißt durch Gesetz abgesicherten, sondern auch einer inhaltlichen Legitimation, die sich aus Ethik und Vernunft ableitet. Hierzu wurden und werden sogenannte Straftheorien entwickelt.

Straftheorien (© Heribert Ostendorf)

Strafbedürfnisse

Strafbedürfnisse sind in vielen gesellschaftlichen Bereichen zu finden. So sanktioniert man etwa im Sport Verstöße gegen die Spielregeln. Nach Ansicht des französischen Soziologen Émile Durkheim (1858–1917) verlangt das Gemeinschaftsbewusstsein nach Reaktionen, wenn anerkannte Normen verletzt werden. Diese können Strafen, aber auch andere Maßnahmen zur Wiederherstellung des Rechtsfriedens sein. Tatsächlich begegnen uns zumindest nach schweren Verbrechen lautstark geäußerte Strafbedürfnisse. Die tieferen Beweggründe dafür müssen hier unbestimmt bleiben – seien sie gespeist aus einem natürlichen Empfinden, aus einem anerzogenen Gefühl, aus rationaler Überlegung zum Selbstschutz der Gemeinschaft, aus Ohnmacht, mangels alternativer Lösungen oder aus Sadismus.

QuellentextHarte Strafen schrecken nicht ab – eine frühe Stimme

Geschichte, Erfahrung, und die Kenntniß der menschlichen Natur widersprechen der Ansicht, daß nur harte Strafen von Verbrechen abschrecken. Hätte man die Erfahrung gefragt, so würde sie belehrt haben, daß an harte Strafen und an ihre Vollziehung Niemand glaubt, weil jeder weiß, daß in die Länge ohne Grausamkeit solche Strafgesetze nicht gehalten werden können; daher auch jedes harte Strafgesetz die Versicherung einer baldigen Aufhebung in sich trägt.

Wird die Strafe auch am Anfange vollzogen, so fordert ihre Härte um so mehr zur Klugheit auf, das Verbrechen so zu verüben, daß keine Entdeckung zu fürchten ist, und jeder Bürger hält es für Pflicht, den Unglücklichen, den eine so harte Strafe treffen soll, zu retten; an eine Anzeige wäre nicht zu denken, da natürliche Scheu jeden Bürger abhielte, einer so grausamen Justiz einen Verbrecher in die Hände zu liefern; und selbst im Falle des Zeugnisses sucht jeder, weil er nicht beitragen mag, das harte Gesetz zu vollziehen zu helfen, so gut es möglich ist, zum Vortheile des Angeschuldigten auszusagen.

Der Staat aber verliert nicht bloß den erwarteten Vortheil, vom Verbrechen abzuschrecken, sondern bewirkt durch seine harte Strafe, daß schwerere Verbrechen verübt werden, als wohl sonst der Fall gewesen sein möchte, da jeder, wenn er einmal weiß, daß die Strafe hart ausfalle, lieber mehr wagt und seine Lust durch ein größeres Verbrechen befriedigt, das auch die Mühe lohnte. Es war ein trauriges Verkennen einer nahe liegenden Wahrheit, was die Rechtslehrer und Gesetzgeber irre führte; nicht die Härte der Strafen, sondern die Gewißheit, daß die im natürlichen Verhältnisse mit jedem Verbrechen stehende Strafe unvermeidlich den Verbrecher ereile, ist ein Abhaltungsmittel von Verbrechen.

Daher hat der Criminalprozeß eine vorzügliche Bedeutung für die Strafe, und die zweckmäßigste Einrichtung desselben, nach welcher jeder Schuldige am sichersten und schnellsten von seiner verdienten Strafe ereilt wird, ist die sicherste Bedingung der Wirksamkeit des Strafgesetzes.

Carl Joseph Anton Mittermaier, Über die Grundfehler der Behandlung des Kriminalrechts in Lehr- und Strafgesetzbüchern, Bonn 1819, S. 54 ff.
Externer Link: https://epub.ub.uni-muenchen.de/11110/1/8Jus2673.pdf (zuletzt abgerufen 21. November 2017)

Derartige kollektive Strafbedürfnisse werden aus psychologisch-psychoanalytischer Sicht durch strafende Reaktionen auf Verbrechen kanalisiert und letztendlich befriedigt. Überschäumende Strafbedürfnisse (Lynchjustiz) sollen bezähmt werden. Aus dieser Perspektive dienen Strafen aber bereits konkreten Zwecken: Wiederherstellung des Rechtsfriedens und Stärkung des Rechtsbewusstseins. Daneben gibt es auch ein Genugtuungsinteresse der verletzten Person selbst. Opfer von schweren Straftaten können vielfach das erlittene Leid besser verarbeiten, wenn sie sehen, dass die Täter bestraft werden.
Von kollektiven Strafbedürfnissen ist das individuelle Strafbedürfnis des Straftäters, das eigene Verlangen nach Sühne und Genugtuung, zu unterscheiden. Es gibt eine Straftheorie, der zufolge der Sinn der Strafe – auch – darin liegt, dem Straftäter die Verarbeitung seiner Schuld zu ermöglichen, zu sühnen. Ohne offizielle Strafe könne dieser für die psychische Stabilisierung notwendige Reinigungsprozess – bei vorhandenen Strafbedürfnissen – schwerlich durchgeführt werden. Die Strafe ist hiernach notwendig für den Täter.

Absolute Straftheorie

Die absolute Straftheorie bestreitet, dass es legitim ist, mit Strafe Zwecke zu verfolgen – Strafe hat zweckfrei zu sein, ist absolut. Für die absolute Straftheorie ist allein der Grund für eine Strafe von Belang, einen über die Bestrafung hinausweisenden Zweck erkennt sie nicht an. Immanuel Kant (1724–1804) als ihr wichtigster Vertreter formulierte in der Rechtslehre seines Werkes "Metaphysik der Sitten": "Richterliche Strafe [...] muß jederzeit nur darum wider ihn [den Verbrecher] verhängt werden, weil er verbrochen hat." Strafe wird danach nur um des reinen Strafens willen verhängt, irgendein staatlicher oder individueller Nutzen kann damit nicht verbunden werden. Weiter heißt dies in letzter Konsequenz nach Kant: "Selbst, wenn sich die bürgerliche Gesellschaft mit aller Glieder Einstimmung auflöste (zum Beispiel das eine Insel bewohnende Volk beschlösse, auseinanderzugehen und sich in alle Welt zu zerstreuen), müßte der letzte im Gefängnis befindliche Mörder vorher hingerichtet werden, damit jedermann das widerfahre, was seine Taten wert sind, und die Blutschuld nicht auf dem Volke hafte, das auf diese Bestrafung nicht gedrungen hat; weil es als Teilnehmer an dieser öffentlichen Verletzung der Gerechtigkeit betrachtet werden kann."
Strafe bedeutet nach dieser Theorie nicht mehr die Befriedigung persönlicher Rache- oder Genugtuungsbedürfnisse, sondern dient der Verwirklichung des Ideals von Gerechtigkeit. Auch nach Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) verlangt die Weltordnung – nach der Negation des Rechts durch die Straftat – nach der Strafe als Negation der Negation. Strafe ist Vergeltung von Übel mit Übel.

Relative Straftheorien

Während absoluten Straftheorien zufolge bestraft wird, weil ein Verbrechen begangen worden ist, dient nach relativen Straftheorien Bestrafung dem Ziel, dass zukünftig keine neuen Verbrechen begangen werden. Die relativen Straftheorien wollen

  • andere vor ähnlichen Taten abschrecken (negative Generalprävention),

  • das beeinträchtigte Rechtsbewusstsein der Allgemeinheit aufrichten (positive Generalprävention),

  • den einzelnen Täter vor einer Wiederholung abschrecken bzw. die Gesellschaft vor ihm sichern (negative Individual- oder Spezialprävention),

  • den einzelnen Täter positiv beeinflussen, ihn resozialisieren, um ihn so von einer Straftatwiederholung abzuhalten (positive Individual- oder Spezialprävention).

Die Zwecktheorien sind vor allem mit den Namen von Paul Johann Anselm von Feuerbach sowie Franz von Liszt verbunden.
Feuerbach (1775–1833) war Rechtsprofessor und arbeitete zeitweilig im Bayerischen Justiz- und Polizeiministerium. Von ihm stammt das reformierte Bayerische Strafgesetzbuch von 1813. Er entwickelte die "Theorie vom psychologischen Zwang". Den Begehren des Bürgers sei psychologisch entgegenzuwirken durch gesetzgeberische Zwangsanordnungen. Nicht erst die Strafvollstreckung, sondern bereits die Strafdrohung des Gesetzes sollte die Bürger davon abschrecken, Verbrechen zu begehen. Damit ist der generalpräventive Aspekt von Strafe angesprochen.

Franz von Liszt (1851–1919) – ein Vetter des gleichnamigen Komponisten und Klaviervirtuosen – war Rechtsprofessor, später zugleich Abgeordneter im Deutschen Reichstag für die damalige Fortschrittspartei. Sein Interesse an der Person des Straftäters führte von Liszt zur Abkehr vom herrschenden Prinzip der Tatvergeltung und der Generalprävention. Mit seiner bahnbrechenden Schrift "Der Zweckgedanke im Strafrecht" (1882) setzte er sich für ein individualpräventiv ausgerichtetes Strafrecht ein. Für die Behandlung des Täters entwickelte er neue Strafformen, wobei er die gesellschaftlichen Bedingungen von Verbrechen erkannte, die es zunächst zu verändern gelte.

QuellentextStrafanordnung zur Abschreckung

Das Eigenthümliche meiner Strafrechtstheorie, in so ferne sie der Präventionstheorie entgegengesetzt ist, besteht darin, daß sie die Strafe nicht als Sicherungsmittel vor einem bestimmten Verbrecher in concreto, sondern als Sicherungsmittel vor möglichen Verbrechern überhaupt, sowohl in Rücksicht auf die Androhung, als in Rücksicht auf die Execution der Strafe, darstellt.

Der Staat, sage ich, hat (eben darum, weil er Staat ist, und die Sicherung der Rechte aller zu dem Objecte seiner ganzen Wirksamkeit hat) das Recht und die Verbindlichkeit, auf rechtswidrige Handlungen, sinnliche Uebel mittels eines Gesetzes zu drohen und dadurch das Begehren rechtswidriger Handlungen psychologisch unmöglich zu machen. Zu der Androhung dieses Uebels (welches, weil es die Gattungsmerkmale von Strafe überhaupt an sich hat, Strafe und zwar bürgerliche Strafe ist) hat der Staat, so wie jeder der für seine Rechte fürchtet, darum vollkommenes Recht, weil durch diese Androhung niemandes Freyheit beschränkt wird, und jeder die bedrohte rechtswidrige Handlung von selbst unterlassen muß.

Aber auch die Ausführung dieser Drohung im Falle einer wirkliche[n] Rechtsverletzung ist gerecht. Die Rechtmäßigkeit derselben gründet sich zunächst auf die rechtlichnothwendige Einwilligung des Thäters in die Strafe durch Einwilligung in die That. Denn die Strafe ist in dem Gesetze als die Bedingung der That angekündigt, – die Handlung soll nicht geschehen, ohne daß die That eine rechtlichnothwendige Folge derselben sey, und ohne daß der Verbrecher sich dieser Strafe unterwerfe. Nun ist aber die Einwilligung in ein rechtlich Bedingtes nicht möglich ohne die Einwilligung in die Bedingung; wer in A, das durch B rechtlich bedingt ist, einwilligt, der ist eben darum rechtlich genöthigt, auch in B einzuwilligen. Es ist daher die Rechtmäßigkeit der Zufügung der in dem Gesetze angedrohten Strafe durch die rechtlichnothwendige Einwilligung des Thäters in die Strafe begründet.

– Von diesen Rechtsgründen der Androhung und der Zufügung der Strafe muß man den Zweck derselben wohl unterscheiden, so wie man den Zweck der Androhung der Strafe von dem Zwecke der Zufügung derselben absondern muß.

Der Zweck der Androhung der Strafe ist, durch die Vorstellung derselben, von möglichen Verbrechen abzuschrecken; der Zweck der Zufügung derselben ist, die Wirksamkeit der gesetzlichen Drohung möglich zu machen; denn nur dann kann eine Drohung wirklich abschrecken, wenn man weiß, daß sie realisiert werden wird. Wenn also im Falle die That geschähe, die Drohung nicht exequirt würde, so würde die Drohung des Gesetzes durch die Ausführung aufgehoben. Die Androhung würde als eine leere, fruchtlose Drohung vorgestellt, und mithin der Zweck des Gesetzes vereitelt werden.

Paul Johann Anselm von Feuerbach, Ueber die Strafe als Sicherungsmittel, Chemnitz 1800, S. 94 ff.
Externer Link: http://reader.digitale-sammlungen.de/de/fs1/object/display/bsb10396328_00001.html?contextType=scan&contextSort=score%2Cdescending&contextRows=10&zoom=0.6500000000000001&context=das+eigenth%C3%BCmliche+meiner+strafrechtstheorie (zuletzt abgerufen am 21. November 2017)

Plädoyer für angemessenes Strafen

Nur die notwendige Strafe ist gerecht. Die Strafe ist uns Mittel zum Zweck. Der Zweckgedanke aber verlangt Anpassung des Mittels an den Zweck und möglichste Sparsamkeit in seiner Verwendung. Diese Forderung gilt ganz besonders der Strafe gegenüber; denn sie ist ein zweischneidiges Schwert: Rechtsgüterschutz durch Rechtsgüterverletzung. Es lässt sich eine schwerere Versündigung gegen den Zweckgedanken gar nicht denken als verschwenderische Verwendung der Strafe, als die Vernichtung der körperlichen, ethischen, nationalökonomischen Existenz eines Mitbürgers, wo diese nicht unabweislich durch die Bedürfnisse der Rechtsordnung gefordert wird. So ist die Herrschaft des Zweckgedankens der sicherste Schutz der individuellen Freiheit gegen jene grausamen Strafarten früherer Zeiten, welche – es ist gut, sich daran zu erinnern – nicht durch die glaubensstarken Idealisten der Vergeltungsstrafe, sondern durch die Vorkämpfer des "flachen Rationalismus" beseitigt worden sind.

Franz von Liszt, Der Zweckgedanke im Strafrecht, Marburg 1882, S. 22
Externer Link: http://digital.bib-bvb.de/view/bvbmets/viewer.0.6.2.jsp?folder_id=0&dvs=1530189365243~718&pid=8473258&locale=de&usePid1=true&usePid2=true (zuletzt abgerufen 21. November 2017)

Vereinigungstheorie

Heute ist in der Rechtspraxis anerkannt, dass Strafe kein Selbstzweck sein darf; der straftheoretische Rigorismus Kants ist also überwunden. Strafe findet ihre Legitimation in der Zweckhaftigkeit für die Zukunft. Die strafrechtliche Legitimation ist in einem Notwehrrecht des Staates zur Abwehr sozialschädlicher Verhaltensweisen begründet ("Défence sociale"). Nach einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 21. Juni 1977 ist es das oberste Ziel des Strafens, "die Gesellschaft vor sozialschädlichem Verhalten zu bewahren und die elementaren Werte des Gemeinschaftslebens zu schützen".

Welche Zwecke der Strafe vorherrschend sein sollten, darüber besteht bislang ein unentschiedener Streit. Die Tat bleibt Ausgangspunkt des Strafens. Zugleich findet die Strafe ihre Begrenzung in der Tat, im Umfang der Verletzungen/Schädigungen und in der subjektiven Tatschuld, da nur die Strafe, die der Schuld angemessen ist (schuldangemessene Strafe), gerecht ist. Von daher wird heute in der Justizpraxis der sogenannten Vereinigungstheorie gefolgt.

Das Bundesverfassungsgericht hat dies in der erwähnten Entscheidung so formuliert: "Das geltende Strafrecht und die Rechtsprechung der deutschen Gerichte folgen weitgehend der Vereinigungstheorie, die – allerdings mit verschieden gesetzten Schwerpunkten – versucht, sämtliche Strafzwecke in ein ausgewogenes Verhältnis zueinander zu bringen. Dies hält sich im Rahmen der dem Gesetzgeber von Verfassungswegen zukommenden Gestaltungsfreiheit, einzelne Strafzwecke anzuerkennen, sie gegeneinander abzuwägen und miteinander abzustimmen. Demgemäß hat das Bundesverfassungsgericht in seiner Rechtsprechung nicht nur den Schuldgrundsatz betont, sondern auch die anderen Strafzwecke anerkannt. Es hat als allgemeine Aufgabe des Strafrechts bezeichnet, die elementaren Werte des Gemeinschaftslebens zu schützen. Schuldausgleich, Prävention, Resozialisierung des Täters, Sühne und Vergeltung für begangenes Unrecht werden als Aspekte einer angemessenen Strafsanktion bezeichnet."

Dementsprechend heißt es in § 46 (1) Strafgesetzbuch: "Die Schuld des Täters ist Grundlage für die Zumessung der Strafe. Die Wirkungen, die von der Strafe für das künftige Leben des Täters in der Gesellschaft zu erwarten sind, sind zu berücksichtigen."

Die tatsächlichen Wirkungen der beabsichtigten Strafzwecke sind umstritten, weil sie schwer messbar sind. Selbst bei späterer Abkehr des Verurteilten von kriminellem Verhalten steht nicht fest, ob gerade die verhängte Strafe zu diesem Ergebnis geführt hat. Dies gilt natürlich auch umgekehrt. Insbesondere die negative Generalprävention, das heißt die Abschreckung potenzieller Täter, wird in ihrer Wirksamkeit angezweifelt, weil im Zeitpunkt der Tatbegehung potenzielle spätere Strafen in der Regel gedanklich verdrängt werden.

"Entgegen einer weit verbreiteten Alltagsmeinung erscheinen nach dem gegenwärtigen Stand der kriminologischen Forschung die Abschreckungswirkungen (negative Generalprävention) von Androhung, Verhängung und Vollzug von Strafen eher gering. Für den Bereich der leichten bis mittelschweren Kriminalität jedenfalls gilt grundsätzlich, dass Höhe und Schwere der Strafe keine messbare Bedeutung haben. Lediglich das wahrgenommene Entdeckungsrisiko ist – allerdings nur bei einer Reihe leichterer Delikte – etwas relevant. Bislang wurden auch keine Anhaltspunkte dafür gefunden, dass eine Verschärfung des Strafrechts das Normbewusstsein positiv beeinflussen würde. [...] Wenn es eine Tendenz gibt, dann die, dass nach härteren Sanktionen die Rückfallrate bei vergleichbaren Tat- und Tätergruppen höher ist", so der Zweite Periodische Sicherheitsbericht der Bundesregierung aus 2006, S. 665 f.

Insgesamt wird heute vor allzu großen Erwartungen an das Strafrecht gewarnt. Teilweise zieht man sich in der Rechtslehre auf das Ziel zurück, durch Bewusstmachen von Eigenverantwortlichkeit zur Normstabilisierung in der Bevölkerung beizutragen und Rachegelüste zu kanalisieren. Damit kann aber weder dem Sicherungsinteresse der Gesellschaft vor gefährlichen Wiederholungstätern noch dem Sozialstaatsprinzip mit dem daraus abgeleiteten Resozialisierungsanspruch des Täters entsprochen werden. Strafe muss somit zum Ziel haben, die Wiederholungen von Straftaten zu verhindern.

QuellentextIm Fokus des Rechts steht der Mensch

Der rechtsstaatlich-liberalen Vergeltungs- und Abschreckungstheorie steht die Sicherungs- und Besserungslehre als Theorie des sozialen Strafrechts gegenüber. Dem sozialen Recht ist es ja, wie früher gezeigt wurde, im Gegensatz zum individualistischen Recht eigentümlich, nicht auf das abstrakte und isolierte Individuum, die Person, den Täter zugeschnitten zu sein, sondern auf die konkrete und vergesellschaftete Individualität. Wie das Arbeitsrecht erkannt hat, daß die Arbeitskraft nicht etwas vom Menschen Loslösbares ist, sondern der ganze Mensch, unter einem bestimmten Gesichtspunkte gesehen, so erkennt das soziale Strafrecht, daß das Verbrechen nicht etwas vom Verbrecher Loslösbares ist, sondern wiederum der ganze Mensch unter einem bestimmten Gesichtspunkte.

Man hat das neue Strafrecht unter das Schlagwort gebracht: "Nicht die Tat, sondern der Täter", man sollte sagen: nicht der Täter, sondern der Mensch. Der konkrete Mensch mit seiner psychologischen und seiner soziologischen Eigenart tritt in den Gesichtskreis des Rechts. Der Begriff des Täters löst sich unter dem Gesichtspunkte der Besserungs- und Sicherungstheorie in mannigfache charakterologische und soziologische Typen auf: den Gewohnheitsverbrecher und den Gelegenheitsverbrecher, den Besserungsfähigen und den Unverbesserlichen, den Erwachsenen und den Jugendlichen, den voll und den vermindert Zurechnungsfähigen. So darf sich die neue Strafrechtsschule mit Recht die "soziologische Schule" nennen, denn sie hat Tatsachen, die bisher nur der Soziologie gehörten, in den juristischen Gesichtskreis gerückt.

Rolf Dreier / Stanley L. Paulson (Hg.), Gustav Radbruch-Rechtsphilosophie: Studienausgabe, 2. Auflage, Heidelberg 2003, S. 154 f. © C. F. Müller Verlag

Täter-Opfer-Ausgleich

Erst seit den 1980er-Jahren ist mit dem Täter-Opfer-Ausgleich ein neuer Aspekt des Strafens hinzugekommen. Die bisher dargestellten Straftheorien haben das Tatopfer bei ihrer Betrachtung weitgehend ausgeklammert. Das primäre Anliegen, das des Opfers an Wiedergutmachung, wurde bei der Konzentration auf Gerechtigkeitsausgleich und Bestrafung bzw. Behandlung des Täters verdrängt. Das Opfer musste erst wieder "neu entdeckt" werden. Die grundsätzliche Akzeptanz in der Bevölkerung für diese Sanktionsform ist außerordentlich hoch. Die Opfer von Straftaten verfolgen mit ihrer Anzeige bei der Polizei in der Regel primär das Ziel der Schadenswiedergutmachung beziehungsweise sie wollen, dass das Geschehen sich nicht wiederholt. Die Zustimmungsrate lag in Täter-Opfer-Ausgleichsprojekten in Braunschweig, Köln, München/Landshut und Reutlingen bei den dort angesprochenen Opfern immer bei über 80, teilweise bei über 90 Prozent.

Der Gesetzgeber hat im Jugendstrafrecht dieses (Straf-)Anliegen ausdrücklich in den Katalog der Sanktionen sowie als vorgreifenden Einstellungsgrund aufgenommen: Bereits das Bemühen des jugendlichen Täters um einen Ausgleich mit dem Verletzten soll – abgesehen von schweren Delikten – nach dem Jugendgerichtsgesetz zur Verfahrenseinstellung, das heißt zum Strafverzicht, führen. Auch im Erwachsenenstrafrecht kann das Gericht nach einem Täter-Opfer-Ausgleich unter bestimmten Voraussetzungen von Strafe absehen bzw. die Strafe mildern. Der Gesetzgeber hat die Staatsanwaltschaften und die Gerichte verpflichtet, in jedem Stadium des Verfahrens die Möglichkeit eines Täter-Opfer-Ausgleichs zu prüfen (§ 155a Strafprozessordnung). Strafrecht hat hiernach – für bestimmte Kriminalitätsbereiche – die Funktion, den Strafverzicht zu ermöglichen und damit den Rechtsfrieden ohne Strafe wiederherzustellen. Damit ist in vielen Fällen dem Opfer am meisten gedient.

Durch die Konfrontation mit dem Opfer wird dem Täter sein Unrecht unmittelbar vor Augen geführt. Zum einen begünstigt die Wiedergutmachung seine Resozialisierung; zum anderen wird die Allgemeinheit durch den Ausgleich zufriedengestellt. Der Täter-Opfer-Ausgleich sollte Vorrang haben vor einer der Staatskasse zufließenden Geldstrafe. Bei schwerwiegenden Straftaten, insbesondere bei Wiederholungstätern, sowie in den Fällen, in denen der Täter nicht zu einem Ausgleich bereit ist, muss allerdings auf die Schutzfunktion der Strafe, von einer Wiederholung der Tat abzuhalten, zurückgegriffen werden.

Prof. Dr. Heribert Ostendorf, geb. 1945, war nach dem Studium viereinhalb Jahre als Richter, vornehmlich als Jugendrichter, tätig. Anschließend lehrte er acht Jahre als Professor für Strafrecht an der Universität Hamburg. Von 1989 bis 1997 war er Generalstaatsanwalt in Schleswig-Holstein. Von Oktober 1997 bis Februar 2013 leitete er die Forschungsstelle für Jugendstrafrecht und Kriminalprävention an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel.
Professor Ostendorf hat neben Lehrbüchern und Gesetzeskommentaren zahlreiche wissenschaftliche Abhandlungen publiziert, vor allem zum Jugendstrafrecht. Sein Lehrbuch "Jugendstrafrecht" sowie sein Kommentar "Jugendgerichtsgesetz" sind in der 9. bzw. 10. Auflage erschienen und gelten als Standardwerke.