Katars wirtschaftliche Modernisierung ist eng mit der Anwerbung von Arbeitsmigrantinnen und -migranten aus anderen arabischen Ländern, Afrika und Asien verknüpft. Die Region der arabischen Halbinsel wird seit Jahrhunderten von Migrationsbewegungen zwischen dem Nahen und Mittleren Osten, Afrika und Asien geprägt, die sich zu einer historischen Konstante entwickelt haben. Enge wirtschaftliche, gesellschaftliche und kulturelle Beziehungen der arabischen Küstenregion des Persischen Golfes mit Ostafrika oder dem indischen Subkontinent ermöglichen seit Jahrhunderten einen regen Waren- und Ideenaustausch. Nach der Entdeckung der umfangreichen Öl- und Gasressourcen im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts erfuhren die sogenannten Vertragsstaaten, die unter britischem Protektorat standen und zu denen auch das heutige Katar gehörte, einen wirtschaftlichen Aufschwung, der den Bedarf an Arbeitsmigrantinnen und -migranten drastisch anstiegen ließ.
Heute ist jede und jeder Zehnte aller weltweiten Migrantinnen und Migranten in den Golfstaaten beschäftigt, sodass der Migrationskorridor zwischen den Entsenderegionen in Asien und Afrika in die Golfregion zu den wichtigsten der Welt gehört. Verfügte das heutige Staatsgebiet von Katar 1950 nur über 50 000 Einwohnerinnen und Einwohner, lag die Bevölkerungszahl 2010 – dem Jahr der WM-Vergabe – bei 1,7 Millionen und stieg bis 2013 auf 2,1 Millionen. Zwischen 1996 und 2019 wuchs die Bevölkerung um 18 Prozent. Mit der Vergabe der WM im Jahr 2010 hat sich der Bedarf an Arbeitskräften im Bausektor nochmals deutlich erhöht, sodass zwischenzeitlich bis zu 1 Million Arbeitsmigrantinnen und -migranten auf den WM-Baustellen und anderer WM-relevanter Infrastruktur arbeiteten. In Katar lebten 2018 etwa 2,8 Millionen Menschen, davon besaßen über 2,2 Millionen nicht die katarische Staatsangehörigkeit.
Wichtigste Migrantengruppen in Katar (© bpb)
Wichtigste Migrantengruppen in Katar (© bpb)
Somit beträgt der Anteil an Migrantinnen und Migranten 78,7 Prozent der Gesamtbevölkerung, wovon nur 17,2 Prozent Frauen sind, die vor allem im häuslichen Bereich arbeiten. Die meisten Arbeitsmigrantinnen und -migranten in Katar stammen 2018 aus Indien, Nepal, den Philippinen, Ägypten, Bangladesch und Pakistan. Weitere relevante Herkunftsländer sind Sri Lanka, Jemen, Kenia, Nigeria, Sudan und Uganda. Der Großteil arbeitet im Niedriglohnsektor im Baugewerbe oder im Dienstleistungsbereich sowie als Hausangestellte im Privatsektor.
Nach der Vergabe der WM an Katar im Jahr 2010 entzündete sich an der rechtlichen und politischen Situation der Arbeitsmigrantinnen und -migranten eine kontroverse Diskussion, die vor allem die vielfältigen Missstände im Migrationssystem kritisierte. Dabei handelt es sich um unregulierte Arbeitszeiten in sengender Hitze ohne entsprechende Schutzmaßnahmen auf vielen Baustellen, was die Gefahr für Unfälle erhöht. Viele Migrantinnen und Migranten leben unter katastrophalen hygienischen Bedingungen in Arbeitscamps auf engstem Raum in Barracken, die weder über Trinkwasser- noch über Stromversorgung verfügen. Jahrelang litten vor allem Hausangestellte unter der Willkür ihrer Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber, da sie nicht unter rechtlichem Schutz standen und daher häufig Opfer von Misshandlungen oder Vergewaltigungen, Schlaf- und Essensentzug oder fehlender medizinischer Versorgung im Krankheitsfall wurden. Oftmals werden Löhne nur unregelmäßig oder gar nicht gezahlt, was die finanzielle Misere der Arbeitsmigrantinnen und -migranten noch erhöht. Die Gründung von Gewerkschaften für ausländische Arbeitskräfte ist untersagt.
Strukturelle Gewalt gegen Migrantinnen und Migranten und asymmetrische Machtverhältnisse zwischen Arbeitgebenden und den Arbeitsmigrantinnen und -migranten existieren nicht erst seit der WM-Vergabe, sondern haben sich jahrzehntelang in allen Golfmonarchien etabliert. Sie rückten aber im Zuge der WM-Berichterstattung immer stärker in den Fokus der (europäischen) Öffentlichkeit, wie die Diskussion um die Zahl der Todesopfer auf katarischen WM-Baustellen zeigt: Medien gehen von 6500 bis zu 15 000 Toten aus. Diese Zahlen wurden aber weder von der Regierung in Katar noch vom Weltfußballverband FIFA bestätigt, sondern stattdessen als Diffamierungskampagne abgetan. Insbesondere bei der Erhebung von transparenten Daten zu den Todesursachen und den absoluten Zahlen zeigen sich gravierende Lücken, da die Regierung in Doha keine umfassenden Informationen bereitstellt und die Statistiken unzureichend sind. So schätzt Amnesty International, dass bis zu 70 Prozent aller Todesfälle nicht eingehend untersucht werden und auf Totenscheinen pauschal natürliche Todesursachen angegeben werden.
Grundlage der strukturellen Ausbeutung von Arbeitsmigrantinnen und -migranten ist das sogenannte Kafala-System („Bürgschaftssystem“). Strukturelle Gewalt findet dabei im Rahmen eines grenzübergreifenden Netzwerks statt, das bereits in den Heimatländern der Arbeitsmigrantinnen und -migranten beginnt und von dem viele Akteure profitieren: Die meisten Arbeitssuchenden aus Südasien wenden sich vor ihrer Ausreise an oftmals nicht registrierte und kriminelle Rekrutierungsagenturen, die sie an ihre neuen Arbeitgeber (kafil, „Bürgen“) vermitteln. Diese Agenturen sind zudem für die VisaVergabe zuständig und verlangen für ihre Dienstleistungen oftmals sehr hohe Gebühren, die die Migrantinnen und Migranten in die Verschuldung treiben.
QuellentextDas Kafala-System
Traditionell beruht das katarische Migrationssystem auf dem Kafala-System. Es bietet den Hintergrund für das Arbeitsverhältnis zwischen den Arbeitgebenden (den Bürgen) und den Arbeitnehmenden (den Arbeitsmigrantinnen und -migranten), das ein asymmetrisches Machtgefüge bildet: In ihm besitzt der Bürge (kafil) eine enorme Verfügungsgewalt, da er den Arbeitskräften u. a. den Reisepass abnehmen, deren Bewegungsfreiheit kontrollieren und vertragliche Absprachen modifizieren kann bzw. lange Zeit konnte.
Die Ursprünge des Kafala-Systems sind umstritten: Es wird zum einen auf eine beduinische Tradition zurückgeführt, Fremden Schutz und Obdach zu gewähren. Zum anderen wird argumentiert, dass die Entwicklung des Kafala-Systems auf die britische Kolonialherrschaft in den sogenannten Vertragsstaaten, den kleineren arabischen Golfmonarchien zurückzuführen ist. Die britische Kolonialverwaltung kontrollierte in Katar und anderen Golfstaaten seit den 1920er-Jahren und vor allem nach Beginn der kommerziellen Öl- und Gasproduktion bis in die 1970er-Jahre die Anwerbung von ausländischen Arbeitskräften entweder selbst oder delegierte das Rekrutierungsrecht an lokale Akteure. Mit der Einrichtung von Passkontrollen und der Einführung von Staatsbürgerschaftsgesetzen wurde das Kafala-System ein integraler Bestandteil der indirekten Herrschaft des britischen Empires am Persischen Golf.
Das System beruht auf der Exklusion bestimmter Bevölkerungsschichten, um den Kreis der Profiteure staatlicher Zuwendungen zu begrenzen und die Einnahmen aus den raren Ressourcen an einen exklusiven Empfängerkreis zu verteilen. In Katar sowie den anderen Golfstaaten dient das Kafala-System als traditionelles Machtinstrument, das über soziale Hierarchisierung und Zugang zum Arbeitsmarkt bestimmt. Es hat sich ein intransparentes Netzwerk herausgebildet, in dem unterschiedliche Akteure von den im Kafala-System angelegten Ungleichgewichten profitieren, während die Einwandernden vielfach systemischer Diskriminierung unterworfen werden: Viele Bürgen erwerben das Recht, Arbeitsmigrantinnen und -migranten rekrutieren zu dürfen, obwohl sie nur eine geringere Anzahl für den Eigenbedarf benötigen. Diese zusätzlichen Arbeitskräfte transferieren sie an andere Arbeitgebende gegen eine Vermittlungsgebühr weiter. Aufgrund dieser Praxis des Visahandels (tasattur) hat sich in den Golfstaaten ein lukrativer Markt entwickelt, in dem solche „Scheinbürgen“ sogenannte „free visas“ (azad wiza) ausstellen und über die Provisionen lukrative Gewinne generieren können.
Dieses Vorgehen führt dazu, dass die nicht-registrierten Migrantinnen und Migranten keine offizielle Aufenthaltsgenehmigung erhalten, weswegen sie jederzeit damit rechnen müssen, inhaftiert oder abgeschoben zu werden. Weiterhin wird ihr im Vorfeld ausgehandelter Vertrag, in dem ihnen ein bestimmtes Gehalt sowie Aufgabengebiet zugesagt wurde, von den neuen Bürgen oftmals nicht akzeptiert, sodass sie deutlich weniger Geld verdienen bzw. in anderen als zuvor abgesprochenen Berufszweigen – häufig unterhalb ihrer eigentlichen Qualifikation – arbeiten müssen.
Die dem Kafala-System inhärenten ungleichen Machtverhältnisse zwingen oftmals die Einwandernden, sich in einen illegalen oder irregulären Status zu begeben. So geraten Personen, deren Arbeitsvertrag ausgelaufen ist oder gekündigt wurde, ebenso in die Irregularität wie Arbeitskräfte in einem regulären Anstellungsverhältnis, die sich ohne Erlaubnis von ihrem Bürgen entfernen.
Viele emigrieren darüber hinaus freiwillig auf illegalem Wege, da sie sich sonst die hohen Migrationskosten nicht leisten könnten. Schmuggel und Menschenhandel führen ebenso in die nicht-dokumentierte Beschäftigung, wie sich ohne reguläre Aufenthaltsgenehmigung (iqama) weiter im Land aufzuhalten.
Die katarische Regierung hat im Zuge der anwachsenden internationalen Kritik nach der WM-Vergabe angekündigt, das Kafala-System abzuschaffen, allerdings bestehen Missstände in der Umsetzung weiterhin fort.
QuellentextReformen im Kafala-System?
[…] Hat der internationale Druck seit der WM-Vergabe vor zwölf Jahren den Alltag der Arbeitsmigrant:innen erleichtert? „Es ist ein wichtiger Prozess eingeleitet worden“, sagt Dietmar Schäfers, Vizepräsident der Bau- und Holzarbeiter Internationalen (BHI). „Auf den WM-Baustellen hat sich einiges verbessert. Aber dort, wo die Öffentlichkeit nicht so genau hinsieht, ist noch viel zu tun.“
[…] Im Zentrum der Kritik stand das sogenannte Kafala-System, das in etlichen Staaten der Golfregion praktiziert wird. Als Bedingung für ihre Einreise erhielten die vorwiegend aus Südasien stammenden Arbeiter:innen einen Bürgen, der ihre Reisepässe einbehalten, ihre Ausreise erschweren, ihren Jobwechsel verhindern konnte. Offiziell zur Bekämpfung von Kriminalität, denn ihre Heimatländer haben meist keine Auslieferungsabkommen mit Katar. „Bereits 2015 hat die katarische Regierung behauptet, dass das Kafala-System abgeschafft wurde“, sagt die Aktivistin Binda Pandey […]. „Tatsächlich wurden viele neue Gesetze auf den Weg gebracht, aber häufig mangelt es an Umsetzung und Kontrolle.“
In den vergangenen sechs Jahren hat das katarische Arbeitsministerium Richtlinien festgelegt, die europäischen Standards ähneln, zumindest auf dem Papier, etwa für Arbeitszeiten, Ruhephasen, Beschwerdemöglichkeiten. „Viele Arbeiter trauen sich nicht, gegen ihren Arbeitgeber juristisch vorzugehen“, sagt Binda Pandey. „Sie haben Angst, dass sie ausgewiesen werden und gar kein Geld mehr verdienen.“ […]
Viele Arbeitgeber, die häufig eine familiäre Nähe zum Herrscherhaus haben, fühlen sich offenbar unantastbar. Und so dokumentieren NGOs wie Amnesty oder Human Rights Watch zahlreiche Verstöße gegen neue Gesetze. Vielfach werden Reisepässe einbehalten und zugesicherte Löhne nicht ausgezahlt. Vielfach bedrohen Arbeitgeber ihre Angestellten und hindern sie an der Wahrnehmung von Gerichtsterminen. Noch immer verlangen Rekrutierungsagenturen von den Arbeiter:innen zum Teil horrende „Vermittlungsgebühren“, damit diese überhaupt eine Anstellung finden. Viele von ihnen leben in streng überwachten Unterkünften.
Inzwischen existieren in Katar „Streitschlichtungsausschüsse“, die zwischen Arbeitgebern und Arbeiter:innen vermitteln sollen. Die International Labour Organization ist mit einem Büro in Doha vertreten, auch Gewerkschaftsbünde sind für Inspektionen vor Ort, oftmals mit Vorankündigung. Es sind Bedingungen, die Nachbarstaaten wie Saudi-Arabien nicht zulassen. Für Katar sind genaue Zahlen kaum prüfbar, aber inzwischen sollen mehr als 20 000 Arbeiter:innen ihre ausgebliebenen Löhne erfolgreich eingeklagt haben.
Im Land leben aber rund 2,5 Millionen Arbeitsmigrant:innen, neunzig Prozent der Bevölkerung. „Die Ressourcen sind noch zu gering“, sagt Lisa Salza von Amnesty International in der Schweiz. „Die Beschwerdestellen in Katar können die Klagen nicht in angemessener Zeit bearbeiten.“ […]
Es wird wohl noch Jahre dauern, bis sich der tatsächliche Einfluss der Fußball-WM für Staat und Gesellschaft in Katar seriös beurteilen lässt. […]
Am Persischen Golf wird Katar von seinen Nachbarn kritisch beäugt. Die Herrscherhäuser in Saudi-Arabien oder den Vereinigten Arabischen Emiraten fürchten, dass sie durch die katarischen Reformen international in Zugzwang geraten. In den verbleibenden Wochen bis zur WM werden weitere Bücher und Dokumentationen zur Menschenrechtslage am Golf erscheinen.
Doch die Geopolitik hat sich geändert: Seit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine bemühen sich westliche Demokratien wie Deutschland um Gaslieferungen aus Doha. „Es gibt auch konservative Kräfte in Katar, die Reformen gern zurücknehmen würden“, sagt der Gewerkschafter Dietmar Schäfers. Wenn diese Kräfte ihr Ziel erreichen, dann wohl erst nach der WM, wenn die Aufmerksamkeit woanders liegt.
Ronny Blaschke, „Katars vorsichtige Reformen“, in: Frankfurter Rundschau vom 13. August 2022, S. 24
Die Unterbringung der Arbeitsmigrantinnen und Arbeitsmigranten führt immer wieder zu Kritik: In ihrer Unterkunft nahe Doha teilen sich 6 philippinische Arbeiter einen 10 m2 großen Raum, März 2016. (© Joerg Boethling)
Die Unterbringung der Arbeitsmigrantinnen und Arbeitsmigranten führt immer wieder zu Kritik: In ihrer Unterkunft nahe Doha teilen sich 6 philippinische Arbeiter einen 10 m2 großen Raum, März 2016. (© Joerg Boethling)
Zwar besteht in vielen Entsendestaaten politischer Druck, die irregulären und intransparenten Rekrutierungsprozesse besser zu kontrollieren, indem sich die Agenturen offiziell registrieren müssen. Doch die Erfolge bleiben vor allem in südasiatischen Herkunftsländern marginal: Stattdessen hat sich ein komplexer und intransparenter Markt an nicht registrierten Rekrutierungsagenturen entwickelt, die ein mafia-ähnliches Anwerbesystem aufgebaut haben. Insbesondere un- oder angelernte Arbeitskräfte werden oft Opfer von Menschenhändlern, da sie weder über ausreichende Informationen noch über die finanziellen Ressourcen verfügen, um offizielle Rekrutierungskanäle zu wählen. Es gibt Berichte, dass potenzielle Arbeitskräfte vor ihrer Ausreise von Rekrutierungsagenten gezwungen werden, Drogen zu schmuggeln. Außerdem schließen die Agenten mit der Mehrzahl der interessierten Menschen bereits vor ihrer Ausreise Arbeitsverträge ab, in denen ihnen unterdurchschnittliche Gehälter angeboten werden, was von den meisten aufgrund mangelnder Sprach- oder Lesekenntnisse nicht erkannt wird.
In vielen Fällen werden die Löhne auch bewusst in einer anderen Währung als besprochen angegeben, sodass deutlich geringere Gehaltszahlungen geleistet werden müssen. Weiterhin hat sich mit „Go now, pay later“ eine Praxis etabliert, in der die Agentur die Kosten für die zu vermittelnden Migrantinnen und Migranten im Vorfeld übernimmt, diese aber von deren Gehalt abzieht, was zwar die Auswanderung erleichtert, die Verschuldung allerdings zu einer kontinuierlichen Belastung werden lässt. 67 Prozent der zukünftigen Migrantinnen und Migranten müssen sich bei Verwandten oder Bekannten verschulden, ein Drittel veräußert das wenige Eigentum oder nimmt Kredite mit hohen Zinsen bei lokalen Geldleihern auf, um die Migrationskosten bezahlen und sich die Ausreise leisten zu können.
Damit begeben sich die ausländischen Arbeitskräfte jedoch in eine dreifache Abhängigkeit: Sie stehen nicht nur bei der Agentur und ihren zukünftigen Sponsoren in der Verpflichtung, sondern auch bei ihren Verwandten, denen sie Geld schulden. So liegen die Migrationskosten bei ungelernten Arbeitskräften im Durchschnitt bei etwa 30 Prozent des in den ersten zwei bis drei Jahren verdienten Gesamtlohns. Der hohe Verschuldungsgrad setzt die meisten Arbeitsmigrantinnen und -migranten immens unter Druck, die Missstände nach ihrer Ankunft zu erdulden, da sie bei Beschwerden fürchten, ihren Arbeitsplatz zu verlieren oder abgeschoben zu werden und damit die Erwartungen ihrer Angehörigen nicht erfüllen zu können. Dieser emotionale Druck führt dazu, dass sich viele aus Scham und Unwissenheit nicht bei ihren jeweiligen Konsulaten oder Botschaften über etwaige Missstände beschweren. Immerhin sind sie mit ihren Gehältern verantwortlich für ihre daheimgebliebenen Angehörigen, die von den sogenannten Rücküberweisungen abhängig sind. In vielen Entsendeländern leisten diese Geldtransfers einen relevanten Beitrag zur Existenzsicherung.
Viele Migrantinnen und Migranten und ihre daheimgebliebenen Familien befinden sich außerdem in einer widersprüchlichen Lebenswirklichkeit, da sie im Aufnahmeland nur temporär geduldet sind und sie deshalb die engen Bindungen an die Heimat nicht aufgeben wollen, obwohl sie mitunter einen Großteil ihres Lebens fernab der Heimat verbringen. Migration wird somit zu einem Status der „dauerhaften Vergänglichkeit“: In der Regel leben und arbeiten die Menschen – oftmals jahrzehntelang – in einer kulturell fremden Heimat ohne ihre Familien, sehen diese sehr selten und kommunizieren ansonsten zumeist über soziale Netzwerke. Dies hat massive Auswirkungen auf den Familienzusammenhalt, da die Abwesenheit zumeist männlicher Angehöriger das Geschlechterverhältnis in den Herkunftsländern fundamental verändern kann.
Die katarische Regierung schien in den ersten Jahren nach der WM-Vergabe überfordert und unwillig, auf die internationale Kritik an diesen umfangreichen Missständen zu reagieren. Insbesondere dem damaligen Emir Hamad, Vater des jetzigen Emirs Tamim, war offenbar die Brisanz dieser Kontroverse nicht bewusst gewesen, sodass die katarische Öffentlichkeitsstrategie internationalen Medien, Menschenrechtsorganisationen und politische Delegationen die Einreise ins Land untersagte sowie Einschüchterungskampagnen initiierte, um die internationale Kritik abzuschwächen. Doch dieses Vorgehen blieb weitgehend erfolglos. Deswegen änderte sich unter Emir Tamim die Strategie.
Ab 2017 reagierte die Regierung auf den internationalen medialen, wirtschaftlichen und politischen Druck und führte erste Reformen im Arbeitsrecht ein. Allerdings stehen diese formalen Verbesserungen in krassem Widerspruch zur mangelhaften Umsetzung: Noch immer leiden Arbeitsmigrantinnen und -migranten unter inakzeptablen hygienischen Bedingungen, rechtlichen Benachteiligungen und nicht ausgezahlten Löhnen. Trotz anderslautender Bekundungen ist das Kafala-System weder in Katar noch in den anderen Golfstaaten ersatzlos abgeschafft worden. Amnesty International konstatierte im April 2022, dass in sechs von acht Firmen der privaten Sicherheitsbranche noch immer Arbeitsbedingungen vorherrschen, die der Definition von Zwangsarbeit der International Labour Organization (ILO) entsprechen. Immer noch können von Arbeitgeberseite die Verträge sehr einfach gekündigt werden, was dazu führt, dass die entlassenen Arbeitskräfte nach spätestens 90 Tagen das Land verlassen haben müssen, sonst droht ihnen eine Gefängnisstrafe von maximal drei Jahren. Vergehen von Unternehmen bei der Zahlung der Mindestlöhne werden hingegen nur mit geringen Geld- bzw. Haftstrafen geahndet.
Die Inspektionen wurden zwar verbessert, konzentrierten sich aber vor allem auf die WM-Baustellen, während bei anderen, weniger in der Öffentlichkeit stehenden Infrastrukturprojekten die Arbeitsschutzmaßnahmen kaum kontrolliert wurden. So betrafen diese Maßnahmen nur 28 000 der in Katar arbeitenden Migrantinnen und Migranten und damit nur einen Bruchteil von 1,5 Prozent. Im Falle von Beschwerden von Migrantinnen und Migranten bei Lohnverzögerungen dauern die Verfahren meistens sehr lange, was den Druck auf die Betroffenen erhöht, ihre Klagen zurückzuziehen. Oftmals zahlen die Unternehmen trotz der Erhöhung des Mindestlohns zu niedrige Gehälter.
Durch den Ausbruch der Coronavirus-Pandemie haben sich viele dieser strukturellen Benachteiligungen noch verstärkt: Im Zuge der pandemiebedingten Ausgangssperren erhielten viele Arbeitsmigrantinnen und -migranten keine Löhne mehr, da Bauarbeiten und Aufträge gestoppt wurden. In Katar tätige Unternehmen beauftragen oftmals Subunternehmen, die teilweise die Rekrutierungsgebühren an die Migrantinnen und Migranten weiterleiten. Dies führt oftmals zu Lohnausfällen, da sich in Katar die „Pay when paid“-Praxis etabliert hat, in der Unternehmen erst dann die Gehälter auszahlen, wenn sie die Zahlungen von denjenigen, die sie beauftragt haben, erhalten haben.
Migrantinnen und Migranten klagten während der Lockdowns über unzumutbare Bedingungen in ihren Unterbringungen, da ihnen weder Lebensmittel noch eine gesundheitliche Versorgung zur Verfügung gestellt worden waren. In der einheimischen Bevölkerung verschärften sich außerdem die Vorbehalte gegenüber den Arbeitsmigrantinnen und -migranten, die als „Superspreader“ des Virus stigmatisiert wurden, was in einer Zunahme der sozialen Isolation resultierte. Hausangestellte wurden wieder häufiger Opfer von Misshandlungen, da Inspektionen während des Lockdowns nicht stattfinden konnten. Hunderttausende verloren ihre Arbeitsplätze und mussten das Land verlassen, was allerdings aufgrund der Reiserestriktionen zeitweise nicht möglich war. Auch Impfungen waren für diese Menschen aufgrund von langen Wartezeiten und fehlenden Informationen zu Impfzentren zeitweise nicht möglich.
Erst langsam setzte in Katar eine öffentliche Debatte über die Auswirkungen der Pandemie auf die Migrantinnen und Migranten ein: So entschied die Regierung in Doha, dass Arbeitgeber auch in Quarantänefällen den vollen Lohn auszahlen und Lebensmittel sowie Wasser zur Versorgung zur Verfügung stellen müssen. Beschwerdehotlines und Aufklärungskampagnen wurden gestartet, um die Arbeitsmigrantinnen und -migranten besser über ihre Rechte während der Pandemie aufzuklären.
Rücküberweisungen aus den Mitgliedsstaaten des Golfkooperationsrates (© bpb)
Rücküberweisungen aus den Mitgliedsstaaten des Golfkooperationsrates (© bpb)
Eine konsequente Umsetzung der rechtlichen Rahmenbedingungen scheitert aber auch daran, dass viele unterschiedliche Akteure inner- und außerhalb Katars von der Ausbeutung der Migrantinnen und Migranten profitieren. Katar fungiert neben den anderen arabischen Golfmonarchien nicht nur als eines der wichtigsten Empfängerländer von Süd-Süd-Migration, sondern auch als relevante Quelle internationaler Rücküberweisungen. Insgesamt betrug das Volumen der Rücküberweisungen aus dem Golfstaat 2020 10,7 Milliarden US-Dollar. Damit liegt Katar innerhalb der Mitgliedsstaaten des Golfkooperationsrates (GKR) auf Rang 4 hinter den VAE mit 43,2 Milliarden US-Dollar, Saudi-Arabien mit 34,6 Milliarden und Kuwait mit 17,4 Milliarden US-Dollar.
Weltweite Rücküberweisungen in ausgewählte Entsendestaaten (© bpb)
Weltweite Rücküberweisungen in ausgewählte Entsendestaaten (© bpb)
Ein Großteil dieser Gelder fließt in afrikanische und asiatische Entsendestaaten, deren fragile Wirtschaften von den Rücküberweisungen abhängig sind. So beträgt der Anteil der Rücküberweisungen am BIP in Nepal 24,8, in Pakistan 12,6, in den Philippinen 9,4, in Ägypten 8,4, in Marokko 7,4 und in Bangladesch 6,5 Prozent. Bei Indien handelt es sich mit einem Volumen von 83 Milliarden US-Dollar 2020 um den größten Empfänger von Rücküberweisungen weltweit. Pakistan und Bangladesch erhielten im selben Jahr 26 Milliarden bzw. 22 Milliarden US-Dollar. Im Fall von Bangladesch werden 85 Prozent der täglichen Ausgaben aus Rücküberweisungen bestritten, und 60 Prozent aller Familien sind vollständig auf die Geldtransfers aus dem Ausland angewiesen, um ihren Lebensunterhalt bestreiten zu können.
Auch in Katar befürchten einflussreiche Unternehmen und Geschäftsleute durch die Reformmaßnahmen Einnahmeeinbußen und stellen sich deswegen gegen eine konsequentere Umsetzung der Gesetze. Die politische Führung Katars nimmt auf solche Beharrungskräfte Rücksicht, um die eigene Legitimität und die Unterstützung wichtiger gesellschaftlicher Gruppen nicht zu gefährden. Dies führt häufig zu einem Aushandlungsprozess, in dem die katarische Regierung bei zu viel Kritik Maßnahmen zurücknehmen muss. Weiterhin zielen die katarischen Reformen vor allem darauf ab, die Situation der Migrantinnen und Migranten vor Ort zu verbessern, adressieren aber nicht die Situation der Arbeitsmigrantinnen und -migranten und ihrer Angehörigen in den Entsendestaaten.
Es ist davon auszugehen, dass nach Beendigung der WM-relevanten Infrastrukturmaßnahmen ein Exodus an Migrantinnen und Migranten stattfinden wird. Erste Trends ließen sich bereits während der Coronavirus-Pandemie beobachten. Eine Rückkehr dieser Migrantinnen und Migranten wird voraussichtlich hohe Herausforderungen an die Heimatländer mit sich bringen, die zum einen auf den stetigen Strom von Rücküberweisungen angewiesen sind und zum anderen aufgrund ihrer fragilen Wirtschafts- und Arbeitsmarktlage die Rückkehrenden nicht in den Arbeitsmarkt integrieren können. Als Folge droht dort ein Anstieg der sozialen Spannungen und der Arbeitslosigkeit. Allerdings werden solche Ausweisungswellen, die in Zeiten ökonomischer Krisen historisch immer wieder auftraten, den Migrationskorridor zukünftig nicht gravierend beeinträchtigen, da der Bedarf an Arbeitskräften im Niedriglohnsektor vor dem Hintergrund der ambitionierten Diversifizierungen in den golfarabischen Wirtschaften hoch bleiben wird.
Es bleibt die Sorge, dass der Reformwille der katarischen Regierung nach Ende des Turniers weiter zurückgehen könnte, da die internationale Aufmerksamkeit für die dortigen Arbeitsrechtszustände nachlässt. Vor diesem Hintergrund fordern Menschenrechtsorganisationen sowie internationale Gewerkschaftsverbände die Einrichtung eines Arbeiterzentrums, welches in Katar ansässig sein und von Arbeitsmigrantinnen und -migranten geleitet werden soll. Eine solche Institution könnte hilfesuchenden Migrantinnen und Migranten eine Anlaufstelle bieten, sie über ihre Rechte informieren und ihnen Beistand gewähren. Bislang ist dieser Vorschlag aber von der katarischen Regierung noch nicht angenommen worden. Weiterhin wurde die Einrichtung eines Kompensationsfonds vorgeschlagen, um Hinterbliebene von verstorbenen Arbeitsmigrantinnen und -migranten zu entschädigen. Allerdings hat weder die FIFA noch Katar diesem Vorschlag bisher zugestimmt, und es ist nicht ausreichend geklärt, wie die Zahlungen an die Familien vorgenommen werden sollen, da keine ausreichenden Informationen zu Adressen oder gar Bankkonten vorliegen.