Katars Gesellschaft wirkt von außen zu Unrecht oftmals homogen und wird vor allem auf die Trennung zwischen katarischen Staatsangehörigen und nicht-katarischen Arbeitsmigrantinnen und -migranten reduziert. Ohne Zweifel bestimmt die Dominanz der ausländischen Arbeitskräfte den Diskurs um Zugehörigkeit, Staatsangehörigkeit und Beteiligung, zumal sich die knapp 300 000 Staatsangehörigen in ihrer Identität und Herkunft bedroht fühlen. Viele von ihnen stigmatisieren die Migrantinnen und Migranten als „Sündenböcke“ für die Missstände in der modernen Gesellschaft, um von eigenen Verfehlungen abzulenken. Außerdem fürchten Teile der katarischen Bevölkerung ein Ende des wirtschaftlichen Booms und somit auch ein Ende ihres hohen Lebensstandards bei gleichzeitiger Annäherung an den Lebensstandard der benachteiligten Migrantinnen und -migranten.
Um diese Sorgen zu mindern, hat die Regierung ein Wohlfahrtssystem eingerichtet, das die Privilegien der Staatsangehörigen stärkt, während ausländische Arbeitskräfte rechtlich, politisch und kulturell benachteiligt bleiben. Staatsangehörige erhalten kostenlos Strom und Wasser, Bildung und Gesundheitsversorgung und sind von Steuerzahlungen befreit. Derweil leiden nicht nur die Arbeitskräfte im Niedriglohnsektor unter massiven Ungleichbehandlungen. Auch gut verdienende angeworbene Fachkräfte aus den USA, Europa oder Indien haben kaum Chancen auf eine Einbürgerung oder eine rechtliche Gleichstellung mit katarischen Staatsangehörigen. In der Regel leben westliche Fachkräfte räumlich separiert in speziell gesicherten Wohnanlagen und treffen häufig nur im beruflichen Kontext mit katarischen Kolleginnen und Kollegen zusammen.
Anzahl der Arbeitsmigrantinnen und -migranten in den Golfstaaten 2019 (© bpb)
Anzahl der Arbeitsmigrantinnen und -migranten in den Golfstaaten 2019 (© bpb)
Das Recht auf Einbürgerung wird auch in Katar geborenen Kindern verwehrt, sollte der Vater nicht die katarische Staatsangehörigkeit besitzen. In der Vergangenheit wurde bestimmten Bevölkerungsgruppen auch der katarische Pass entzogen, um politische Unruhen zu vermeiden und eine potenzielle Opposition auszuschalten. Im Zuge des Konfliktes mit Saudi-Arabien verloren 2005 mehr als 5000 katarische Mitglieder des Al Ghafran-Stammes, der zum größten auch in Saudi-Arabien ansässigen Stamm der Al Murrah gehört, die Staatsangehörigkeit, da ihnen die Behörden vorwarfen, am Putschversuch von 1996 beteiligt gewesen zu sein.
Der Begriff des „Stammes“ (qabila) erweist sich in der wissenschaftlichen Diskussion zunehmend als problematisch, da er aus eurozentrischer Sichtweise oftmals dafür verwendet wird, komplexe soziale Strukturen in den heterogenen Gesellschaften des Nahen und Mittleren Ostens zu vereinfachen und auf ein traditionelles „Stammesdenken“ zurückzuführen. Dennoch beschreibt der Begriff die hybriden und flexiblen Gesellschaftsstrukturen in Katar und wird auch von den katarischen Staatsangehörigen häufig verwendet, um ihr kulturelles Erbe zu beschreiben. Das Konzept des Stammes gewinnt insbesondere in den vergangenen Jahren wieder verstärkt an Bedeutung, um individuelle Zugehörigkeiten und kollektive Identitäten zu umschreiben, und ist somit zu einem (imaginierten) Referenzrahmen der katarischen Bevölkerung geworden. Trotzdem sollte die Bedeutung des „Stammes“ weder überbetont noch ignoriert werden.