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1815-1933: Emanzipation und Akkulturation | bpb.de

1815-1933: Emanzipation und Akkulturation

Prof. em. Dr. Arno Herzig Arno Herzig

/ 29 Minuten zu lesen

Große Kaufhäuser waren eine Domäne jüdischer Unternehmner: Innenansicht des Kaufhauses Wertheim in Berlin. 1937 wurde der Konzern von den Nationalsozialisten zerschlagen. (© Wikimedia)

Politische Einschränkungen der Restaurationszeit

Der Entfaltungsspielraum, der den Juden in zahlreichen deutschen Staaten zur Zeit Napoleons eingeräumt worden war, wurde auf dem Wiener Kongress (1815) durch die restaurativen Staatslenker, die Vertreter der so genannten Heiligen Allianz aus Russland, Preußen und Österreich, wieder eingeschränkt. Mit der Niederlage Napoleons sollten auch die aus der Sicht der Kongressteilnehmer schändlichen Ideen der Französischen Revolution beseitigt und die alte Ordnung wiederhergestellt werden. Auch Frankreich passte sich diesen Forderungen an und setzte das bourbonische Königtum wieder ein. Doch konnten die Errungenschaften der Revolution nicht ganz beseitigt werden, da der Code Napoleon in Kraft blieb. Auch in ehemals von Frankreich kontrollierten deutschen Gebieten - wie in Teilen des Rheinlands - garantierte er bürgerliche Grundrechte.

Vielfach traten allerdings die vorrevolutionären Judenordnungen erneut in Kraft. Juden mussten Städte wie Bremen und Lübeck wieder verlassen, wo sie sich unter der französischen Herrschaft niedergelassen hatten. In Preußen fand das Emanzipationsgesetz von 1812 in den neu erworbenen Landesteilen keine Anwendung. Bayern erließ 1813 ein so genanntes Matrikelgesetz, das die maximale Zahl der jüdischen Familien in den einzelnen Gemeinden festschrieb. Es ist unter pragmatischen und rationalen Gesichtspunkten schwer zu verstehen, warum sich die meisten deutschen Staaten in ihrer Entwicklung zum modernen Wirtschaftsstaat gerade im Hinblick auf die wirtschaftlich aktive jüdische Minderheit Fesseln anlegten und damit wie in Preußen einen ungeheuren Verwaltungsaufwand provozierten. Ein Konzept der planmäßigen "bürgerlichen Verbesserung" durch die Beamten steckte nicht dahinter. Diese hätten die "Judenfrage" am liebsten durch die Taufe gelöst.

Unterstützung fanden sie damit in breiten Bevölkerungsschichten, die das Konzept vom "christlichen Staat", in dem Juden keine Ämter oder gesellschaftsrelevanten Positionen besetzen sollten, befürworteten. Die Intellektuellen des Restaurationszeitalters grenzten die Juden wieder aus und betrieben zum Teil judenfeindliche Propaganda. So auch die Dichter Achim von Arnim und Clemens Brentano, die die Juden in negativen Kontrast zu ihren romantischen Vorstellungen des deutschen Wesens stellten. Vertreter des neu aufkommenden Liberalismus hielten bis in die 1840er Jahre an dem Erziehungskonzept für Juden fest. Der Jude solle "entjudet" und zu einem "nützlichen Mitglied der Gesellschaft" gemacht werden, forderten 1828 die Liberalen im württembergischen Landtag. Die sich anbahnende Emanzipation der Juden wurde vor allem von den kleinbürgerlichen Schichten bekämpft. 1819 kam es in mehreren Städten, so in Würzburg, Frankfurt am Main oder Hamburg, zu den "Hep-Hep-Unruhen", pogromähnlichen Angriffen auf jüdische Bürger und ihren Besitz. Das Schimpfwort Hep-Hep, das man den Juden nachrief, soll sich angeblich auf die mittelalterlichen Kreuzzüge beziehen und die Abkürzung für das lateinische Hierosylima est perdita (Jerusalem ist verloren) bedeuten. Eine andere Vermutung ist, dass die Teilnehmer an den Ausschreitungen einen Lockruf für Ziegen nachahmen wollten, die in zahlreichen Darstellungen als Symbol des Teufels verwendet wurden. An den Unruhen beteiligten sich vor allem Mitglieder des Zunfthandwerks und der Krämergilden, die gegen die "Freihandel" treibenden Juden protestierten, sowie Studenten. Hier dokumentierte sich Konkurrenzneid auf eine bisher marginale und verachtete Minderheit, die sich nun zunehmend in gesellschaftlich gehobenen Positionen etablierte. Die Hep-Hep-Unruhen wurden auch als "Revolte der alten Zeit gegen die neue" interpretiert: Die Ausschreitungen begannen, als im bayerischen Landtag über die Judenemanzipation debattiert wurde. Die an den Übergriffen Beteiligten dagegen wollten die sich auflösende traditionelle Ständeordnung mit ihrer politischen und ökonomischen Benachteiligung der Juden konservieren.

QuellentextPersönliche Diskriminierung

Johann Jacoby (1805 - 1877) an Jakob Jacobson (1807 - 1858), Königsberg 10. Juli 1832:
Mitten unter frohen christlichen Genossen fühlte ich mich oft plötzlich durch ein dunkles Gefühl beklemmt, das meine Brust gewaltsam einengend den kaum aufdämmernden Frohsinn erstickte; [...]. Oft habe ich über Ursache und Folgen dieser Erscheinung nachgedacht und gefunden, dass Ähnliches gewiss jedem gebildeten und edler denkenden Juden begegnet, sobald er sich über seine unnatürliche Stellung zur Mitwelt aufrichtige Rechenschaft gibt. Der Gedanke: Du bist ein Jude! Ist eben der Quälgeist, der jede wahre Freude lähmt, jedes sorglose Sichgehenlassen gewaltsam niederdrückt! Durch die Staatsgesetze von äußeren Ehren und so vielen Rechten ausgeschlossen, in der Meinung seiner christlichen Mitbürger niedriger gestellt, fühlt der Jude sich durch fremde Überhebung gedemütigt. [...] Mit bürgerlicher Unfähigkeit geschlagen, sehen wir uns von allen Ehrenstellen, Staatsämtern, selbst von Lehrstühlen ausgeschlossen; nicht einmal Offizier, Torschreiber, Feldmesser, Apotheker, Kalkulator, Briefträger, Sekretär kann der Jude werden. Überall wird er in der Entwicklung seiner Fähigkeiten gehemmt, im ungestörten Genuss der Menschen- und Bürgerrechte gekränkt und überdies noch - als natürliche Folge hiervon - der allgemeinen Verachtung preisgegeben.

Edmund Silberner ( Hg.), Johann Jacoby Briefwechsel: 1816 - 1849, Hannover 1974, S. 37 ff. Zitiert nach: Deutsch-Jüdische Geschichte. Quellen zur Geschichte und Politik, Stuttgart 2007, S. 61

Soziale und wirtschaftliche Entfaltung

Trotz dieser negativen Begleitumstände erlebten die deutschen Juden im 19. Jahrhundert einen einmaligen Aufstieg. Es ist umstritten, ob die jüdische Minderheit trotz oder gerade wegen der Einschränkungen durch Staat und Gesellschaft den Aufstieg in den Mittelstand schaffte. Ihre Zahl stieg auf dem Gebiet des späteren Deutschen Kaiserreichs von circa 257000 (1816/17) auf etwa 400000 (1848), womit die Wachstumsrate zehn Prozent über dem Durchschnitt der Gesamtbevölkerung lag, und weiter auf 470000 in den 1860er Jahren. Im Kaiserreich wuchs die jüdische Bevölkerung zwischen 1871 und 1912, dem Jahr der letzten Volkszählung vor dem Ersten Weltkrieg, von 512000 (1,25 Prozent der Gesamtbevölkerung) auf 615000 (0,95 Prozent). Trotz nominalen Anstiegs war der prozentuale Anteil also rückläufig, was mit der sinkenden Kinderzahl in den jüdischen Familien zusammenhing, der durch Zuwanderung nicht ausgeglichen werden konnte. Hatten die Juden in Deutschland im 18. Jahrhundert weitgehend auf dem Land gelebt, so setzte mit der allmählich wachsenden Freiheit der Wohnortwahl der Zuzug in die großen Städte ein. In manchen Großstädten stieg die Zahl der jüdischen Einwohner häufig in nur 20 Jahren um das Doppelte oder gar Dreifache. In Berlin zum Beispiel lebten 1852 weniger als 10000 Juden, 1871 waren es bereits 36000. Selbst in den Ruhrstädten, deren Einwohnerzahl mit der Industrialisierung enorm anstieg, war der gleiche Trend zu beobachten.

Entwicklung der jüdischen Bevölkerung in den deutschen Staaten 1852-1871 (in 1000)

Ab den 1850er Jahren gewann auch der soziale Aufstieg an Dynamik. Die Juden folgten hier nicht der einst von Christian von Dohm vorgeschlagenen und nach 1815 von den Beamten und großen Teilen der Öffentlichkeit geforderten "Produktivierung" in den traditionellen Berufen. Stattdessen nutzten sie die besseren Aufstiegsmöglichkeiten im kommerziellen Sektor, der sich nun im Zeitalter des Kapitalismus fulminant entfaltete. Gekennzeichnet ist dieser Prozess durch die Umschichtung vom traditionellen Hausierer- und Trödelhandel zum Klein- bzw. Großhandel, verbunden mit der Eröffnung von Ladenlokalen in besserer bzw. bester städtischer Zentrallage. Mit fortschreitender Industrialisierung gelang es ehemaligen jüdischen Textilverlegern, ihre dezentralisierten Manufakturen zu Fabriken weiterzuentwickeln. Während sich im Westen jüdische Unternehmer in der Textil-, Nahrungs- und Genussmittelindustrie etablierten, gelang im Osten, vor allem in Schlesien, darüber hinaus auch der Einstieg in die Schwerindustrie. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gab es auch in der Elektro- und Chemischen Industrie einige erfolgreiche jüdische Unternehmer. Die weiterhin auf den Dörfern lebenden Juden übernahmen nur sehr vereinzelt landwirtschaftliche Betriebe; ihre Einnahmequelle blieb hauptsächlich der Landhandel, insbesondere der Viehhandel, häufig auch kombiniert mit der Geldleihe. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gehörten sie weitgehend zur dörflichen gehobenen Mittel- bzw. Oberschicht, was sich in ihrem besseren Lebensstil nach städtischem Vorbild ausdrückte bzw. in den Aufstiegschancen, die sie ihren Kindern boten. Mit Zunahme der Landindustrie (Sägewerke, Lebensmittelverarbeitung, Landmaschinenfabrikation) etablierten sich jüdische Unternehmer auch dort. Der Vieh- und Kornhandel jüdischer Händler verlagerte sich jedoch als Folge der Verbesserung der Verkehrsinfrastruktur durch den Eisenbahnbau immer stärker in die Großstädte.

Auffallend rückläufig ist in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Zahl der jüdischen Armen. Zählten in den 1840er Jahren noch circa 40 bis 50 Prozent der Juden in Deutschland zu den marginalisierten Schichten, so waren es 1858 in Preußen nur noch 2,2 Prozent der jüdischen Bevölkerung, die von Almosen oder Bettelei lebten. Dies war in erster Linie der Leistung jüdischer Wohlfahrtsvereine zu verdanken, die - wie in Hamburg - ihre Tätigkeit selbst dann aufrecht erhielten, als nach der bürgerlichen Gleichstellung der Juden das öffentliche Armenwesen auch für diese zuständig war. Umgekehrt waren zahlreiche Sozialstiftungen reicher Juden nicht nur für jüdische Arme, sondern für alle zugängig. Diese Stiftungen entsprangen vielfach dem sozialen Engagement der jüdischen Oberschicht, deren Repräsentanten sich als reiche Kaufleute oder Bankiers etabliert hatten. Unter den Bankiers kam eine große Zahl aus dem traditionellen Hofagententum wie die Familien Rothschild oder Oppenheim. Nicht alle in dieser Gruppe blieben dem Judentum treu; manche konvertierten und wurden dann vielfach geadelt. Aber es gab auch eine große Gruppe jüdischer Geschäftsleute, die die Kombination von Handel und Geldgeschäft zugunsten des Geldgeschäfts aufgegeben hatten. Auf lokaler oder regionaler Ebene spielten sie eine wichtige Rolle für die Entwicklung der städtischen Infrastruktur oder der Industrie. Ihre Banken gingen allerdings um die Jahrhundertwende weitgehend in Bankvereinen oder Großbanken auf.

Typisch war für die jüdische Minderheit das Streben nach wirtschaftlicher Unabhängigkeit, so auch verstärkt ab den 1870er Jahren in akademischen Berufen, vor allem als Ärzte und Rechtsanwälte. Dies hing wohl auch damit zusammen, dass manche akademische Berufe selbst nach der Emanzipation für Juden schwer zugänglich blieben, etwa Positionen als Hochschullehrer, Staatsanwälte, Richter oder im Offizierskorps. Diese Einschränkung galt weitgehend für den gesamten Staatsdienst, obwohl 1868 mit Moritz Ellstädter der erste Jude in Deutschland Minister wurde, und zwar Finanzminister in Baden. Bereits 1860 war Gabriel Riesser Richter am Hamburger Obergericht geworden. Die starke Konzentration auf die unabhängigen Berufe führte zu einer Überrepräsentation jüdischer Berufstätiger in der Berufssparte der Ärzte und Rechtsanwälte. Auch in den kaufmännischen Berufen war dies der Fall. Im politischen Bereich gelang bis zur Revolution von 1848 der Einstieg nur auf lokaler Ebene als Stadträte. Doch auch hier verhielten sich die Regierungen restriktiv. So nahm in Preußen die revidierte Stadtordnung von 1831 Juden das Recht, Bürgermeister zu werden. Erst 1870 hatte sich ein jüdisches Wirtschaftsbürgertum herausgebildet, dem die bürgerliche Gleichstellung bzw. Emanzipation, wie man zeitgenössisch sagte, nicht mehr verweigert werden konnte. Die jüdische Minderheit erreichte dies weitgehend durch eigene Anstrengungen, durch Selbstemanzipation, nicht durch das großzügige Entgegenkommen der christlichen Mehrheitsgesellschaft.

Aufstieg ins Bildungsbürgertum

Neben den wirtschaftlichen Erfolgen waren es die Anstrengungen jüdischer Intellektueller auf geistigem Gebiet, die im beginnenden 19. Jahrhundert letztlich zur Emanzipation führten. Eine wichtige Bedeutung kommt hier dem 1819 in Berlin unter der Ägide des bekannten Juristen Eduard Gans gegründeten "Verein für Cultur und Wissenschaft der Juden" zu. Gemäß Vereinsstatuten sollten die Juden durch einen von innen heraus sich entwickelnden Bildungsgang mit dem Zeitalter und den Staaten, in denen sie lebten, in Harmonie gebracht werden - für diese Idee einer kulturellen Integration stand der Begriff der "Akkulturation". Sie bedeutete für die Vereinsmitglieder keineswegs die Preisgabe jüdischer Kultur, im Gegenteil: sie betonten deren Bedeutung für die europäische Kultur. Deshalb sammelten und publizierten sie hebräische Kulturgüter. Wenn dieser Verein, dem kurzfristig auch Heinrich Heine angehörte, nach kurzer Zeit scheiterte, so geht auf ihn doch die Gründung der jüdischen Wissenschaften zurück. Allerdings weigerten sich die deutschen Universitäten, Professuren für Judaica-Wissenschaften einzurichten. Einen gewissen Ersatz bot das von dem Kommerzienrat Jonas Fraenkel 1854 gestiftete Jüdisch-Theologische Seminar in Breslau, das zum Vorbild weiterer Gründungen vor allem in den USA wurde. In Breslau lehrte der bedeutende jüdische Historiker Heinrich Graetz. Die ehemaligen Mitglieder des Vereins setzten sich in der Folgezeit für die Ausbildung jüdischer Lehrer ein, die in den jüdischen Schulen den Schülern und Schülerinnen neben der religiösen Bildung auch die allgemein bildenden Fächer vermitteln sollten. Ein Handicap war allerdings, dass diese Lehrer nicht vom Staat, sondern von den jüdischen Gemeinden bezahlt werden mussten, was wegen der zu geringen Besoldung zu häufigem Lehrerwechsel führte. Viele jüdische Kinder wechselten seit den 1840er Jahren auf die Gymnasien über, so dass neben dem Wirtschaftsbürgertum im 19. Jahrhundert auch ein jüdisches Bildungsbürgertum entstand, aus dem nicht nur bedeutende Wissenschaftler, sondern auch zahlreiche Künstler und Literaten hervorgingen.

QuellentextJüdisch-Theologisches Seminar zu Breslau

Die auf Anregung des in Breslau amtierenden Reformrabbiners Abraham Geiger begründete Einrichtung knüpfte mit ihrem Programm einer wissenschaftlich fundierten Rabbinerausbildung an Konzeptionen an, wie sie seit den 1820er-Jahren in den Debatten um eine Wissenschaft vom Judentum formuliert worden waren. Zum ersten Direktor des Seminars wurde Zacharias Frankel berufen, der als moderater Reformer eine vermittelnde Rolle zwischen Reform und Orthodoxie einzunehmen versuchte. Sein Konzept eines positiv-historischen Judentums prägte die Ausrichtung des Seminars, sodass dessen Absolventen sowohl als liberale als auch als konservative Rabbiner in jüdischen Gemeinden Deutschlands tätig waren. Über 700 Studenten wurden bis zur Auflösung des Seminars im November 1938 hier ausgebildet, 249 erhielten die Ordination als Rabbiner. Bekannte jüdische Gelehrte wie die Historiker Heinrich Graetz und Marcus Brann oder die Altphilologen Jacob Bernays und Jacob Freudenthal lehrten und forschten an dieser Einrichtung. Am Seminar herausgegeben wurde die von Frankel begründete "Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums", eine der führenden und auch international beachteten Zeitschriften für jüdische Geschichte, Philosophie und Religion.

Andreas Reinke, Geschichte der Juden in Deutschland 1781 - 1933, Darmstadt 2007, S. 66

Säkularisierung und Reformjudentum

Die Öffnung zur Kultur der Allgemeingesellschaft führte im Judentum zu einer Identitätskrise, die sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in der Auseinandersetzung um die richtige Form des Gottesdienstes und des jüdischen Alltagslebens dokumentierte. Der Entfremdung vor allem junger Juden vom Judentum seit der Aufklärungszeit versuchte eine progressive Avantgarde durch eine Reform des Gottesdienstes entgegenzuwirken. 1810 hatte der Präsident des Kasseler (jüdischen) Konsistoriums Israel Jacobson den Gottesdienst mit deutscher Predigt und Orgelmusik eingeführt. Dies nahm in Hamburg 1817 der dort gegründete Tempelverein auf und wurde somit zum Vorbild einer großen Zahl von Synagogengemeinden, die mit ihrem Ritus modernen ästhetischen Ansprüchen genügen wollten. So entstanden die liberalen jüdischen Gemeinden.

Die orthodoxen Gemeinden, die bald in die Minderheit gerieten, versuchten die traditionelle Form des Gottesdienstes aufrecht zu erhalten. Doch gab es auch hier Reformer, die die so genannte Neoorthodoxie begründeten. Die heftigen Auseinandersetzungen zwischen den beiden Hauptströmungen, den Orthodoxen und Liberalen, klangen nach 1850 ab, doch ging der Säkularisierungsprozess weiter. Es entstand eine säkulare Form jüdischer Identität. Man blieb formell Mitglied der jüdischen Gemeinde, richtete sein Alltagsleben aber nicht nach deren Forderungen aus. So bildete sich ein jüdisches Milieu, dem auch zum Christentum Konvertierte treu blieben. Man verkehrte im jüdischen Bekanntenkreis, heiratete untereinander, lebte in jüdischen Wohnquartieren, die sich nach Auflösung der ehemals erzwungenen jüdischen Wohnviertel nun aus eigener Initiative gebildet hatten, wie etwa dem Hamburger Grindel-Viertel. Eine wichtige Rolle für dieses jüdische Selbstverständnis spielten die jüdischen Vereine, die sich mit jüdischer Kultur, aber auch Wohlfahrt befassten. Bei aller liberaler Haltung und trotz immer wieder erfolgender Zurückweisung durch die Allgemeingesellschaft war der deutsche Patriotismus unter den Juden weit verbreitet. Das blieb auch so, als sich angesichts des immer stärker werdenden Antisemitismus im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts ein Nationaljudentum und in seiner konsequentesten Form der Zionismus herausbildete. Diese Bewegung, die einen eigenen jüdischen Staat in Palästina anstrebte, fand in Deutschland nur sehr wenige Anhänger.

Kampf um die Emanzipation

Nur vereinzelt gab es in der christlichen Mehrheitsgesellschaft im Vormärz Stimmen, die sich für eine vollständige Gleichstellung der Juden aussprachen, so der Rheinische Provinziallandtag von 1843 und 1845. Die Emanzipation der Juden war ein langer Prozess, der sich seit dem Aufklärungszeitalter fast 100 Jahre hingezogen hatte. Die meisten Vertreter des Liberalismus, besonders aber die Konservativen versuchten sie nach wie vor zu verhindern. Es waren vor allem Juden, etwa die Dichter Heinrich Heine und Ludwig Börne, die energisch für die Gleichstellung kämpften und die Emanzipation der Juden als einen Teil der Gesamtemanzipation im immer noch feudalistisch geprägten deutschen Staat verstanden. Der bedeutendste Vorkämpfer für die Emanzipation der Juden war seit den 1830er Jahren der Hamburger Jurist Gabriel Riesser. Den Verhinderungsstrategien der Emanzipationsgegner setzte er eine klare Position entgegen: Die Juden erfüllen im Staat die gleichen Pflichten wie die anderen Bürger, also stehen ihnen auch die gleichen Rechte zu. Mit dieser Position setzte er sich durch, als er im Revolutionsjahr 1848 in das deutsche Parlament, die Frankfurter Nationalversammlung in der Paulskirche, gewählt worden war. Zum ersten Mal hatten bei diesen Wahlen Juden das uneingeschränkte aktive und passive Wahlrecht. Nach einer beeindruckenden Rede Riessers sprach sich im August 1848 die Mehrheit des Parlaments für die Gleichstellung der Juden aus. Auch wenn nach dem Scheitern der Revolution in den einzelnen Bundesstaaten noch 20 Jahre lang Hindernisse aufgebaut wurden, war damit der Durchbruch erreicht. Riesser selbst wurde 1860 in Hamburg zum ersten jüdischen Richter in Deutschland ernannt. 1869 erklärten unter Führung Preußens der Norddeutsche Reichstag und 1871 nach Bildung des Deutschen Reiches der gesamtdeutsche Reichstag die bürgerliche Gleichstellung der Juden zum Gesetz. Zu Recht konnte bereits 1850 der Rabbiner Ludwig Philippson, Herausgeber der bedeutenden "Allgemeinen Zeitung des Judentums", an die Mehrheitsgesellschaft gerichtet schreiben: "Ihr emanzipiert die Juden nicht; sie selbst haben sich emanzipiert, ihr vollendet nur die äußere Emanzipation." Die Juden waren damit nicht nur zu gleichberechtigten Bürgern geworden, sondern sie bildeten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sogar eine Kerngruppe des deutschen Bürgertums.

QuellentextDie hohe Sache der Gleichheit

Meine Herren! Es hat in einer früheren Diskussion, wo es sich um bevorzugte Stände handelte, ein geehrter Redner mit voller Befugnis das Recht in Anspruch genommen, vor Ihnen im Namen des bevorzugten Standes, dem er angehört, zu reden und denselben zu verteidigen. Ich nehme das Recht in Anspruch, vor Ihnen aufzutreten im Namen einer seit Jahrtausenden unterdrückten Klasse, der ich angehöre durch die Geburt, und der ich - denn die persönliche religiöse Überzeugung gehört nicht hierher - ferner angehöre durch das Prinzip der Ehre, das mich hat verschmähen lassen, durch einen Religionswechsel schnöde versagte Rechte zu erwerben. Im Namen dieser unterdrückten Volksklasse gegen gehässige Schmähungen vor Ihnen das Wort zu ergreifen, dieses Recht nehme ich in Anspruch. [...]
Ich selbst habe unter den Verhältnissen der tiefsten Bedrückung gelebt, und ich hätte bis vor kurzem in meiner Vaterstadt nicht das Amt eines Nachtwächters erhalten können. Ich darf es als ein Werk, ich möchte sagen, als ein Wunder des Rechts und der Freiheit betrachten, daß ich befugt bin, hier die hohe Sache der Gerechtigkeit und der Gleichheit zu verteidigen, ohne zum Christentum übergegangen zu sein. Und so lebe ich denn der festen Zuversicht, daß die gute Sache bereits gesiegt hat, ungeachtet der letzten Aufwallungen des bösen Willens von wenigen Seiten her. Ich glaube nicht, daß es möglich ist, gleiche Rechte zu geben für aktive und passive Wählbarkeit, für das hohe Werk der Gesetzgebung, solange noch die verletzendsten Ausnahmegesetze in niederen Sphären bestehen. Durch diese Ausnahmegesetze würde das höchste politische Recht geschändet werden, das Sie zum Gemeingut aller Deutschen machen wollen, ohne allen Unterschied der Konfession [...].
Die Juden werden immer begeistertere und patriotischere Anhänger Deutschlands unter einem gerechten Gesetze werden. Sie werden mit und unter den Deutschen Deutsche werden. Vertrauen Sie der Macht des Rechts, der Macht des einheitlichen Gesetzes und dem großen Schicksale Deutschlands. Glauben Sie nicht, daß sich Ausnahmegesetze machen lassen, ohne daß das ganze System der Freiheit einen verderblichen Riß erhalte, ohne daß der Keim des Verderbens in dasselbe gelegt würde. Es ist Ihnen vorgeschlagen, einen Teil des deutschen Volkes der Intoleranz, dem Hasse als Opfer hinzuwerfen; das werden Sie aber nimmermehr tun, meine Herren!

Aus der Rede Gabriel Riessers im Frankfurter Parlament am 29. August 1848.

Julius Höxter, Quellentexte zur jüdischen Geschichte und Literatur, hg. u. erg. von Michael Tilly, Wiesbaden 2009, S. 517 ff.

Die Juden im Kaiserreich

Die Zeit des Kaiserreichs war - trotz immer noch vorhandener Vorbehalte und des seit den 1870er Jahren aufkommenden Antisemitismus - für die Juden ein "goldenes Zeitalter", vor allem was ihren Aufstieg aus der sozialen Marginalität in das Klein-, Mittel- oder Großbürgertum betraf. Wenn es auch kaum noch jüdische Arme gab, so war doch durchaus auch weiterhin eine unterbürgerliche Schicht im Judentum vorhanden, die sich aus jüdischen Kleinstunternehmern am Rande des Existenzminimums oder aus Zuwanderern aus dem Osten zusammensetzte. Doch gab es unter den Arbeitern kaum ein jüdisches Proletariat. In den Städten dominierte, verglichen mit anderen Konfessionsgruppen, überproportional die jüdische Oberschicht. In Breslau stellten sie zum Beispiel nach der Klassifizierung des preußischen Dreiklassenwahlrechts etwa 35 Prozent der Wähler in der ersten Klasse. Das sicherte dem reichen jüdischen Bürgertum auch erheblichen politischen Einfluss und verschaffte seinen Mitgliedern, wenn sie es wünschten, den Zugang zu allen gesellschaftlichen Zirkeln; zur Hofgesellschaft allerdings nur in Einzelfällen. Das Wohlwollen Kaiser Wilhelms II. genossen der Berliner Bankier Carl Fürstenberg, ferner der Gründer der Allgemeinen Elektrizitätsgesellschaft (AEG) Emil Rathenau sowie der Hamburger Reeder Albert Ballin. Dieser machte als Generaldirektor der Hamburg-Amerika-Linie die HAPAG zur wichtigsten transatlantischen Schifffahrtslinie.

Jüdisches Kulturleben

Eindrucksvoll ist im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert der Beitrag jüdischer Literaten und Künstler zur deutschen Kultur, wobei antisemitische Strömungen allerdings gleichzeitig um Ausgrenzung bemüht waren. So wandte sich Richard Wagner in seinem 1850 zunächst unter Pseudonym, 1869 aber unter richtigem Namen erschienenen Buch "Das Judentum in der Musik" mit rassistischen Argumenten gegen einen der großen Komponisten seiner Zeit, Felix Mendelssohn Bartholdy, obgleich dieser als Kind christlich getauft worden war. Doch jüdische Künstler und Autoren haben sich nicht als jüdisch verstanden, auch wenn sie - besonders in der Literatur - in ihren Werken Fragen jüdischer Tradition oder Existenz behandelten, wie Heinrich Heine in seinem "Rabbi von Bacharach". Obgleich Heine nach seinem Studium konvertiert war, bekannte er sich vor allem in seinen Spätschriften zum Judentum. Die Verhinderungsstrategien der Allgemeingesellschaft gegen die jüdische Emanzipation geißelte er mit ironischer Schärfe. Allerdings gab es auch so etwas wie eine jüdische Romantik, die in der so genannten Ghettoliteratur zum Ausdruck kam. In ihr wurde das Leben in jüdischen Gemeinden folkloristisch dargestellt. Doch handelte es sich bei diesen Gemeinden nicht um Orte in Deutschland, sondern um das osteuropäische Schtetl. Den jüdischen Gesellschaftsroman, der den charakteristischen jüdischen Konflikt des 19. Jahrhunderts problematisiert, publizierte mit "Jettchen Gebert" 1906 der jüdische Dichter Georg Hermann: In seinem Buch thematisiert er die Judenemanzipation in einer nicht-jüdischen Gesellschaft zum einen und die innerjüdische Auseinandersetzung zwischen den alteingesessenen westjüdischen Familien Deutschlands und den hinzuziehenden "Ostjuden" zum anderen. Erst der Zionismus, die jüdische Nationalbewegung, mit seiner Variante des Kulturzionismus, plädierte um die Jahrhundertwende für eine "jüdische Literatur". Dort, wo jüdische Künstler bzw. Architekten wie der im Kaiserreich sehr erfolgreiche jüdische Architekt Edwin Oppler eine jüdische Kultur herausstellten, betonten sie damit den Anteil der jüdischen Bauweise im Rahmen der europäischen Kultur. Maurische und arabische Elemente, die im 19. Jahrhundert als typisch jüdisch in der Baukunst galten, lehnte Oppler ab und baute Synagogen, die den rheinischen Kaiserdomen sehr ähnlich sahen, wie beispielsweise die 1938 zerstörte Synagoge in der Calenberger Neustadt in Hannover.

QuellentextFelix Mendelssohn Bartholdy

Im Gegensatz zu Giacomo Meyerbeer (1791 - 1864), der stark in der französischen Kultur verankert war, blieb Felix Mendelssohn Bartholdy (1809 - 1847) in seinem kurzen Leben ganz der deutschen Musikgeschichte verhaftet. Er war ein Enkel Moses Mendelssohns, des bedeutenden Philosophen der Aufklärung, der den Weg zur Emanzipation der Juden in Deutschland bereitet hat. Der von ihm und anderen Denkern wie etwa Lessing vertretene Toleranzgedanke machte es möglich, dass auch in der musikalischen Hochkunst jüdische Komponisten wie Meyerbeer und Mendelssohn aufkommen konnten. Mendelssohn gilt in der Musikgeschichte (neben Robert Schumann) als wichtigster Vertreter der deutschen Romantik und des Historismus.
Die Ouvertüre zu Shakespeares "Sommernachtstraum" von 1826, der 1843 die komplette Schauspielmusik zu der Komödie folgte, wurde schon von Schumann in ihrer Neuheit und Leichtigkeit gerühmt: Die Musik sei "fein und geistreich genug, gleich vom ersten Auftreten Drolls und der Elfe an; das ist ein Necken und Scherzen in den Instrumenten, als spielten sie die Elfen selbst; ganz neue Töne hört man da." Auch die Sinfonien, Klavierlieder und "Lieder ohne Worte" lassen Mendelssohn als Romantiker erscheinen. Seine Oratorien "Paulus" und "Elias" knüpfen dagegen an Händel und Bach an. Sie gehören zu den Hauptwerken der Oratorienkomposition im gesamten 19. Jahrhundert. Für Mendelssohns historische Haltung ist auch die von ihm initiierte und geleitete erstmalige Wiederaufführung von Johann Sebastian Bachs "Matthäuspassion" am 11. März 1829 in Berlin kennzeichnend.
Mendelssohns Vater Abraham ließ seine vier Kinder 1816 in der "Jerusalem und Neuen Kirche" zu Berlin evangelisch-reformiert taufen und fügte den Namen Bartholdy hinzu. Viel später, in einem Brief an seinen Sohn, der sich 1829 gerade in London aufhielt, erläuterte er seine Motive: "Du kannst und darfst nicht Felix Mendelssohn heißen du mußt dich also Felix Bartholdy nennen weil der Name ein Kleid ist, und dieses der Zeit, dem Bedürfniß, dem Stande angemessen seyn muß, wenn es nicht hinderlich oder lächerlich werden soll. Heißt du Mendelssohn so bist du eo ipso ein Jude, und das taugt dir nichts, schon weil es nicht wahr ist. Beherzige dies, mein lieber Felix und richte dich danach."
Doch weder Felix noch seine Schwester Fanny richteten sich danach, sie wollten nicht auf den Namen "ihrer Väter" verzichten und führten ihn neben den christlich klingenden Namen Bartholdy und Hensel (Ehename Fannys ab 1829).

Peter Petersen, Juden in der Musik Deutschlands, in: Arno Herzig /Cay Radermacher (Hg.), Geschichte der Juden in Deutschland, Hamburg 2007, S. 304 f.

Wenngleich die zahlreich gegründeten jüdischen Kultur- und Sozialvereine eine neue, säkulare Form jüdischer Identität dokumentierten, lässt sich kaum von einer jüdischen Subkultur sprechen. Obwohl sie das jüdische Vereinswesen förderten und - allerdings nur an den hohen Festen - am jüdischen Gemeindeleben teilnahmen, integrierten sich die jüdischen Bürger vollständig in das bürgerliche Gesellschaftsleben - zum Beispiel in die damals populären Freimaurerlogen, die sich im 19. Jahrhundert auch für jüdische Mitglieder öffneten. In den bürgerlichen Vereinen und Gesellschaften unterstützten jüdische Bürger rege die bürgerliche Festkultur, wie vor allem bei den Schillerfeiern 1859 deutlich wird. Ein sichtbarer Beweis für die erfolgreiche Integration in die ländliche bzw. kleinstädtische Gesellschaft war die Mitgliedschaft in den Schützengesellschaften, in denen Juden nun auch Schützenkönige werden konnten - was Anfang des 19. Jahrhunderts noch auf erhebliche Ablehnung gestoßen war. Jüdische Identität und bürgerliche Identität schlossen sich für die meisten Juden nicht mehr aus, sondern ergänzten sich. Es war ein "Leben aus zwei Quellen", wie 1914 der jüdische Schriftsteller Jakob Loewenberg die Situation in einem autobiographischen Roman schildert. Wie aus zahlreichen Autobiographien hervorgeht, waren in jüdischen Familien die bürgerlichen Tugenden Fleiß, Ordnungsliebe, Pflichterfüllung hoch angesehen.

Jüdisches Familienleben

Die jüdische Tradition pflegten in erster Linie die Frauen, so in der familiären Gestaltung der Feiertage oder aber in der Vermittlung der Grundanschauungen des Judentums. Die Männer gingen dagegen am Sabbat vielfach ihren Berufsverpflichtungen nach wie auch die Kinder ihrem Schulbesuch. Geschlossen blieben allerdings die Heiratskreise, das heißt Ehepartner wurden fast ausschließlich im jüdischen Milieu gesucht. Dabei spielte die "gute Partie" durchaus eine Rolle, was sich in der Höhe der entsprechenden Mitgift ausdrückte. Trotz dieser konventionellen Verhaltensmuster spielten Jüdinnen in der deutschen Frauenbewegung eine bedeutende Rolle: Gleiche Bildungs- und Berufschancen für Frauen sowie deren politische Gleichberechtigung waren die Ziele des 1904 gegründeten Jüdischen Frauenbundes (JFB), der unter den jüdischen Frauen einen hohen Organisationsgrad erreichte. Geführt wurde er durch die energische Bertha Pappenheim, die sich auch als Schriftstellerin für die Rechte der Frauenbewegung einsetzte. Trotz seiner Forderungen und obwohl es seit dem Mittelalter immer wieder jüdische Frauen mit einem vergleichsweise hohen Grad beruflicher Selbstständigkeit gegeben hatte, orientierte sich auch der JFB am Frauenbild der Kaiserzeit. Die Frau sollte sich primär der Ehe und Familie widmen und den Mann in seinem Beruf unterstützen. Auch auf eine gleichberechtigte Stellung in der Gemeinde und in der Synagoge erhob der JFB bis in die Zeit der Weimarer Republik keinen Anspruch. Zwar hatte bereits 1846 eine Rabbinerkonferenz in Breslau Männer und Frauen in ihren religiösen Rechten und Pflichten für gleichberechtigt erklärt, doch traten selbst die liberalen Gemeinden für eine Trennung von Männern und Frauen in der Sitzordnung im Gottesdienst ein und Frauen wurden nicht zur Toralesung aufgerufen. Erst 1922 führten die Liberalen Gemeinden parallel zur Bar Mizwa, der Konfirmation für Jungen, die Bat Mizwa, die Konfirmation für Mädchen, ein. 1934 wurde dann mit Regina Jonas in Berlin die erste Frau als Rabbinerin ordiniert. Nicht so konservativ wie die christlichen Familien waren die jüdischen in Bezug auf die Bildung von Frauen eingestellt. Sie ermöglichten auch den Mädchen den Besuch von Höheren Schulen und, sobald in Deutschland möglich, der Universitäten. Von den 189 Studentinnen, die es 1910 in Preußen gab, waren 22 jüdisch. Doch blieben ihnen vor dem Ersten Weltkrieg in Deutschland eine akademische Karriere oder die Universitätslaufbahn versagt. Erst 1919 konnte sich die Hamburger Jüdin Agathe Lasch als eine der ersten Frauen überhaupt in Germanistik habilitieren. Den meisten Frauen blieb während der Kaiserzeit nur der Beruf der Lehrerin offen.

Juden im politischen Leben

Mit ihrem Bevölkerungsanteil von ungefähr einem Prozent spielten die Juden im politischen Leben, etwa als Wähler für den Reichstag, kaum eine Rolle. Die Mehrheit von ihnen neigte zum Liberalismus, der ihnen die Möglichkeit bot, am Ausbau der bürgerlichen Freiheiten und des Rechtsstaats mitzuwirken. Im Reichstag gehörten die beiden jüdischen Abgeordneten Eduard Lasker und Ludwig Bamberger zu den profiliertesten Politikern der Bismarck-Ära. Als Bismarck 1878 ein Bündnis mit den Konservativen schloss und auch die Nationalliberalen nach Rechts tendierten, initiierten Lasker und Bamberger die Gründung der linksliberalen Freisinnigen Volkspartei, der die meisten jüdischen Wähler ihre Stimme gaben. Obgleich es unter den jüdischen Bürgern der Kaiserzeit kaum SPD-Wähler gab, spielten in der Sozialdemokratie jüdische Politiker eine wichtige Rolle. Zu den Gründern der Sozialdemokratie 1863 gehörte der aus Breslau stammende jüdische Politiker Ferdinand Lassalle, der unter den deutschen Arbeitern eine fast kultische Verehrung genoss. Unter den SPD-Reichstagsabgeordneten waren durchgängig acht bis zwölf Prozent jüdisch. In den Richtungskämpfen der Partei positionierten sie sich auf unterschiedlichen Flügeln, wobei sich gegen Ende des Kaiserreichs die aus Polen stammende Rosa Luxemburg auf dem marxistischen Flügel hervorhob.

Der Antisemitismus der Kaiserzeit

Neben den Linksliberalen waren die Sozialdemokraten die einzigen, die den Antisemitismus bekämpften, der sich nach der liberalen Phase und erfolgten Emanzipation der 1860er Jahre seit den 1870er Jahren in den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Gruppen ausbreitete. Im politischen Katholizismus, der sich in Reaktion auf die staatliche Kulturkampfpolitik zu einem großen geschlossenen Lager formierte, wirkten die judenfeindlichen Traditionen der katholischen Kirche nach. Verstärkt wurden die Ressentiments durch den ökonomischen Neid der ländlich-katholischen Bevölkerungsgruppe, die sich im Prozess der Hochindustrialisierung sozial an den Rand gedrängt sah. Schuld an dieser Entwicklung war nach der in der katholischen Parteipresse veröffentlichten Meinung der Liberalismus, der von den katholischen Propagandisten mit dem Judentum gleichgesetzt wurde. Dass in den späten 1880er und 1890er Jahren der Antisemitismus im politischen Katholizismus - verkörpert durch die Zentrumspartei - wenn auch nicht überwunden, so doch tabuisiert wurde, ist das Verdienst des Zentrumsführers Ludwig Windthorst, der von dieser Absage seinen Verbleib in der Partei abhängig gemacht hatte.

Doch der Antisemitismus war nicht nur im politischen Katholizismus virulent, sondern breitete sich auch im protestantischen Bürgertum aus. Durch die Thesen des bekannten Historikers Heinrich von Treitschke im so genannten Berliner Antisemitismusstreit von 1878 erfasste er auch die akademische Jugend. Treitschkes griffige Formel "Die Juden sind unser Unglück" rief zwar den Protest vieler seiner Kollegen hervor, wurde aber von den Studenten aufgegriffen und machte somit den Antisemitismus in akademischen Kreisen salonfähig. Er wurde zum "kulturellen Code" (Shulamit Volkov) des deutschen Bildungsbürgertums.

QuellentextHeinrich von Treitschke: Unsere Aussichten

Wenn Engländer und Franzosen mit einiger Geringschätzung von dem Vorurtheil der Deutschen gegen die Juden reden, so müssen wir antworten: Ihr kennt uns nicht; Ihr lebt in glücklicheren Verhältnissen, welche das Auskommen solcher "Vorurtheile" unmöglich machen. Die Zahl der Juden in Westeuropa ist so gering, daß sie einen fühlbaren Einfluß auf die nationale Gesittung nicht ausüben können; über unsere Ostgrenze aber dringt Jahr für Jahr aus der unerschöpflichen polnischen Wiege eine Schaar strebsamer hosenverkaufender Jünglinge herein, deren Kinder und Kindeskinder dereinst Deutschlands Börsen und Zeitungen beherrschen sollen; die Einwanderung wächst zusehends, und immer ernster wird die Frage, wie wir dies fremde Volksthum mit dem unseren verschmelzen können. Die Israeliten des Westens und Südens gehören zumeist dem spanischen Judenstamme an, der auf eine vergleichsweise stolze Geschichte zurückblickt und sich der abendländischen Weise immer leicht eingefügt hat. [...] Wir Deutschen aber haben mit jenem polnischen Judenstamme zu thun, dem die Narben vielhundertjähriger christlicher Tyrannei sehr tief eingeprägt sind; er steht erfahrungsgemäß dem europäischen und namentlich dem germanischen Wesen ungleich fremder gegenüber. Was wir von unseren israelitischen Mitbürgern zu fordern haben, ist einfach: sie sollen Deutsche werden, sich schlicht und recht als Deutsche fühlen - unbeschadet ihres Glaubens [...], denn wir wollen nicht, daß auf die Jahrtausende germanischer Gesittung ein Zeitalter deutsch-jüdischer Mischcultur folge. [...] unbestreitbar hat das Semitenthum an dem Lug und Trug, an der frechen Gier des Gründer-Unwesens einen großen Antheil, eine schwere Mitschuld an jenem schnöden Materialismus unserer Tage, der jede Arbeit nur noch als Geschäft betrachtet und die alte gemüthliche Arbeitsfreudigkeit unseres Volkes zu ersticken droht; in tausenden deutschen Dörfern sitzt der Jude, der seine Nachbarn wuchernd auskauft. Unter den führenden Männern der Kunst und Wissenschaft ist die Zahl der Juden nicht sehr groß; um so stärker die betriebsame Schaar der semitischen Talente dritten Ranges. [...] Bis in die Kreise der höchsten Bildung hinauf, unter Männern, die jeden Gedanken kirchlicher Unduldsamkeit oder nationalen Hochmuths mit Abscheu von sich weisen würden, ertönt es heute wie aus einem Munde: die Juden sind unser Unglück!

in: Preußische Jahrbücher, 44 (1879), H. 5, S. 559 - 576 (Auszug)

Zit. nach: Der "Beliner Antisemitismusstreit" 1879 - 1881. Kommentierte Quellenedition. Im Auftrage des Zentrums für Antisemitismusforschung bearbeitet von Karsten Krieger, 2 Bde., München 2003, Teil 1, S. 6 - 19

Andreas Reinke: Geschichte der Juden in Deutschland 1781 - 1933, Darmstadt 2007, S. 93

QuellentextAntisemitismus als "kultureller Code"

In der unmittelbaren Nachkriegszeit hat Hannah Arendt vor der Vorstellung gewarnt, der moderne Antisemitismus sei eine weitere Bekundung des in der christlichen Welt seit unvordenklichen Zeiten herrschenden "ewigen Hasses" auf die Juden oder ein direkter Erbe der judenfeindlichen Vorurteile, Diskriminierungen und Unterdrückungen des Mittelalters. Vielmehr sei es ganz wesentlich die Anlehnung an die Vergangenheit, die für die Verkennung der späteren, wirklichen Gefahr verantwortlich gewesen sei. [...] Der moderne Antisemitismus ist ihr zufolge mit dem modernen Nationalstaat entstanden und war die Reaktion der Gesellschaft auf die einzigartige Rolle der Juden in ihm. [...]
Der Antisemitismus nahm zwar unter den Nazis neue Formen an und war von beispielloser Intensität, aber er erwuchs aus der institutionellen Struktur, die die Wilhelminische Gesellschaft vorgegeben hatte. [...]
Was ist denn eigentlich so einmalig oder modern an dieser elementaren Antipathie der westlichen Gesellschaft gegen die Juden? [...] Gibt es eigentlich einen erkennbaren "modernen" Antisemitismus, der in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts beginnt? [...]
[...] Die einmalige deutsche Kultur, die sich in den neunziger Jahren herausbildete, kam in der "deutschen Ideologie" zum Ausdruck; in einer radikal antimodernen Mentalität, die von Liberalismus, Kapitalismus und Sozialismus nichts wissen wollte; in dem sehnsüchtigen Verlangen nach einer längst entschwundenen Welt. Zu ihr gehörte eine Reihe politischer Auffassungen, darunter die Ablehnung der Demokratie und der Ruf nach Wiederherstellung einer völkischen Gemeinschaft in Harmonie und Gerechtigkeit. Sie verband sich mit extremem Nationalismus, kolonialen und imperialen Bestrebungen, Begeisterung für den Krieg und mit dem Eintreten für einen vorindustriellen Sittenkodex [...]. In der einen oder anderen Weise ging diese Ideologie stets mit dem Antisemitismus Hand in Hand. [...]
Zum Antisemitismus assoziierte man aber nicht nur eine nationalistische Außenpolitik, protektionistische Wirtschaftspläne oder die Forderung nach ständischen Sozialreformen. Der Antisemitismus war auch Bestandteil eines ganzen Ethos, Element einer moralischen Perspektive. Ein gutes Beispiel sind die Ansichten der Antisemiten über Frauen und ihre Rechte. Das Deutschtum war ein Kult der Männlichkeit [...].
Den Frauen, so hieß es, fehlten wie den Juden das erforderliche ethische Bewusstsein und der moralische Ernst, die beide den deutschen Mann auszeichneten. Antisemitismus und Antifeminismus gingen im deutschen Kaiserreich fast zwangsläufig Hand in Hand. Beide waren integrierender Bestandteil jener anti-emanzipatorischen Kultur, die bei der Mehrheit der Deutschen in der Vorkriegszeit verbreitet war.
Die Wilhelminische Gesellschaft machte einen Prozess der kulturellen Polarisierung durch. [Es] entstanden zwei hauptsächliche Ideengruppen, zwei konzeptionelle Lager, zwei Systeme von Werten und Normen, kurzum: zwei Kulturen. Zu ihrer [...] Bezeichnung dienten oft zwei Begriffe: Antisemitismus und Emanzipation. [...]
Da [der Antisemitismus] im wesentlichen verbal blieb und für die Entscheidung der wichtigeren Tagesfragen wenig praktische Bedeutung hatte, war er umso besser geeignet, symbolischen Wert anzunehmen. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts war er zum "kulturellen Code" geworden. Das Bekenntnis zum Antisemitismus wurde zu einem Signum [Erkennungszeichen, Red.] kultureller Identität, der Zugehörigkeit zu einem spezifischen kulturellen Lager. Man drückte dadurch [...] die Präferenz [Vorliebe, Red.] für spezifische soziale, politische und moralische Normen aus. Die im deutschen Kaiserreich lebenden Zeitgenossen lernten, diese Botschaft zu entschlüsseln. Sie wurde Bestandteil ihrer Sprache, ein vertrautes und handliches Symbol.
Wie kam es, dass der Antisemitismus in der Kultur des deutschen Kaiserreichs eine so zentrale Rolle spielte? Durch welchen Vorgang verwandelte er sich in ein Symbol, ein Kürzel für ein ganzes System von Ideen und Einstellungen, die mit der direkten Schätzung oder Nicht-Schätzung von Juden wenig bis gar nichts zu tun hatten? [...]
Die Juden, so [der Historiker Heinrich] Treitschke, bildeten eine Gefahr für das "neue deutsche Leben" [...]. Sie waren das Gegenteil alles Deutschen, und schon ihre Präsenz war eine Gefahr für die deutsche Kultur. Die Juden standen für "Lug und Trug" und für Materialismus, im Gegensatz zur "Arbeitsfreudigkeit unseres Volkes". Die gesamte geistige Gemeinschaft in Deutschland, erklärte er, sei zu dem unausweichlichen Schluss gelangt: "Die Juden sind unser Unglück."
Treitschke leistete nicht nur jene "assoziative Verschmelzung", die notwendig war, um das Bindeglied zwischen dem Antisemitismus und seiner besonderen Art von Nationalismus herzustellen; er verwendete auch die vertraute Propagandatechnik der "falschen Metapher". Die Judenfrage war nicht ein Problem neben anderen, sondern der Kern allen Übels. Mit einem Federstrich wurde ein Einzelproblem zum Inbegriff aller anderen gemacht. Die Juden wurden mit jedem negativen Aspekt des deutschen Lebens gleichgesetzt [...].
Um die Mitte der neunziger Jahre war das Bündel von Ideen, Werten und Normen, das im ersten Jahrzehnt des Reichs entstanden war, von einer dafür prädisponierten [empfänglichen, Red.] Gesellschaft absorbiert worden und wurde zu einer einzigartigen, weitverbreiteten Kultur. [...]
Die Fronten des Konflikts waren klar, und man musste entweder die Emanzipation in toto oder den Antisemitismus in toto akzeptieren. Für die meisten Deutschen war das selbstverständlich. Ein besonderes Problem schuf es nur für die patriotischen, nationalistischen Juden sowie für eine kleine Minderheit von Antisemiten im emanzipatorischen Lager.

Shulamit Volkov, Antisemitismus als kultureller Code, München 2000, S. 13-36

Eine eklatant antijüdische Haltung vertrat beispielsweise der "philosemitische Antisemit" (Wolfgang Paulsen) Theodor Fontane. 1879 schreibt er in einem allerdings nicht veröffentlichten Essay: Im jüdischen Bürgertum Berlins finde man "alles das Beste, was wir haben". Selbst in der "dominierenden Gesellschaft" entfalteten sie "eine Überlegenheit". Im Gegensatz zum preußischen Adel hätten die jüdischen Bürger das Enge und Provinzielle abgestreift. Andererseits mokiert sich Fontane 1882 in einem Brief aus Norderney an seine Frau: "Fatal waren die Juden; ihre frechen, unschönen Gaunergesichter (denn in Gaunerei liegt ihre ganze Größe) drängen sich einem überall auf. Wer [...] ein Jahr lang Menschen betrogen hat, hat keinen Grund darauf, sich in Norderney unter Prinzessinnen und Comtessen mit herumzuzieren [...] hat kein Recht [...] sich an einen Grafentisch zu setzen." Fontane durfte nicht an Grafentischen sitzen, was seinen Neid hervorrief, der dann in ein antijüdisches Ressentiment umschlug. Wie hier bei Fontane wird im antisemitischen Diskurs der Zeit vielfach eine Art Minderwertigkeitskomplex deutlich, indem vermeintlich jüdische Fähigkeiten bewundert, zugleich aber negativ interpretiert werden.

Fontane ist nur ein Beispiel für judenfeindliche Klischees. Auch bei anderen Autoren des 19. Jahrhunderts, so bei Fritz Reuter, Wilhelm Raabe oder Wilhelm Busch, finden sie sich. Am deutlichsten tritt dies in einem der meist gelesenen Romane des 19. Jahrhunderts, in Gustav Freytags "Soll und Haben" von 1855, hervor, der bis 1922 114 Auflagen erzielte. Der Roman sollte als liberale Programmschrift die Kraft des deutschen Bürgertums und eines leistungsfähigen Bauernstandes demonstrieren. Alle jüdischen Personen, die hier auftreten, sind äußerst negativ gezeichnet; dennoch erfreute sich dieser Roman auch unter jüdischen Lesern großer Beliebtheit.

Der Übergang der antisemitischen Strömungen von der Gesellschaft in die Politik war fließend. Der Hofprediger Adolf Stoecker, der den Antisemitismus im protestantischen Milieu heimisch machte, versuchte, ihn auch politisch im Kampf gegen die Sozialdemokratie zu nutzen und gründete die "Christlich-Soziale Arbeiterpartei" mit judenfeindlicher und populistischer Stoßrichtung. Im Arbeitermilieu fand er zwar nicht viel Anklang, umso mehr dagegen im Kleinbürgertum. Von dieser politischen Bewegung profitierten auch andere Antisemiten in Deutschland und im angrenzenden Ausland. In Wien, wo der Bevölkerungsanteil der Juden circa zehn Prozent betrug, errang die Antisemitismuspartei im Stadtparlament eine starke Position und stellte mit Karl Lueger den Bürgermeister.

Im Gegensatz zum Judenhass früherer Jahre, der stark religiös geprägt war, basierte der Antisemitismus der Kaiserzeit auf einer rassistischen Anschauung und gab sich als neuartige, säkulare Ideologie, die angeblich wissenschaftlich begründet war. Als einer der Ersten vertrat Wilhelm Marr, der sich in Hamburg als politischer Journalist betätigte und auch den Begriff Antisemitismus prägte, 1879 die These, dass es sich bei der "Judenfrage" um eine "Rassenfrage" handele und der Unterschied der "Rassen" im "Blut" liege. Doch hat auch der rassistische Antisemitismus eine längere Vorgeschichte. Ausgrenzungen der Juden aufgrund ihres angeblich "anderen Blutes" und der dadurch vermeintlich bedingten jüdischen Eigenschaften, die sowohl positiv wie negativ gedeutet wurden, hatte es seit dem beginnenden 19. Jahrhundert gegeben. Eine der prägnantesten deutschen Persönlichkeiten vor der Revolution von 1848, der Dichter, Theologe und Schriftsteller Ernst Moritz Arndt, hatte eine "Blutvermischung" mit den Juden abgelehnt, weil er von ihr eine "Bastardisierung" des deutschen Volkes befürchtete. Immerhin hielt er - wie zahlreiche Konservative, darunter auch der Hofprediger Adolf Stoecker - eine Überwindung der negativen "jüdischen Eigenschaften" durch die Taufe im Lauf der Zeit für möglich. Doch finden sich schon bei den konservativen Volkstumsideologen fatale Metaphern, die die Juden mit Ungeziefer gleichsetzen und damit Vernichtungsvorstellungen nahelegen.

Einen Schritt weiter gingen die rassistischen Antisemiten, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ihre Theorien entwickelten. Sie fußten auf den Ausführungen des französischen Diplomaten Joseph Arthur Comte de Gobineau, der in seinem "Essai sur l'inégalité des races humaines" um 1850 die Menschheit in drei Rassen: Weiße, Schwarze, Gelbe unterteilte und nur den Weißen, den "Ariern", kulturschöpferische Fähigkeiten zusprach. Er warnte deshalb vor Vermischung der "Arier" mit anderen Rassen. Zur Begründung seiner Theorie behauptete er eine historische Gesetzmäßigkeit. Außer auf Gobineau bezogen sich die rassistischen Antisemiten auf Charles Darwins Theorie vom "Überleben der Tüchtigsten" - wenngleich Darwin selbst keine rassistischen oder antisemitischen Motive hegte. Was bei E.M. Arndt in Ansätzen anklang, führte der deutsch-österreichische Schriftsteller Johannes Nordmann unter dem Pseudonym D.H. Naudh 1861 in seiner Broschüre "Die Juden und der Deutsche Staat" weiter aus. Der jüdische Volkscharakter ergebe sich aus der Reinheit des jüdischen Blutes. Das Judentum sei deshalb nicht als Religion, sondern als "Raceneigentümlichkeit" aufzufassen. Ein Religionswechsel habe somit keine bessernden Konsequenzen. Ähnlich argumentierte 1881 der Berliner Privatdozent für Philosophie und Nationalökonomie Eugen Düring, der eine scharfe Trennung von christlichen Deutschen und Juden "auf demselben Boden" forderte. Er konnte sich auch vorstellen, an Landesverrat beteiligte "Judengruppen wegzuschaffen". Deutsch-völkische Ansichten wie bei Arndt vermischten sich mit rassistischen Vorstellungen von der Reinheit des Blutes und sozialdarwinistischen Ideen eines Kampfes zwischen höher- und minderwertigen "Rassen" zu einer antisemitischen "Weltanschauung", die das Judentum als "Weltproblem" identifizierte.

Auf weite Kreise des deutschen Bildungsbürgertums gewann der in Deutschland lebende Engländer Houston Stewart Chamberlain, der Schwiegersohn Richard Wagners, Einfluss, der in seinem zweibändigen Erfolgswerk "Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts" (1899) die gesamte abendländische Geschichte als ein gigantisches Ringen der "arischen Rasse" mit ihren Feinden interpretierte und vor allem die Gegenwart vom Schicksalskampf des Germanentums gegen das Judentum beherrscht sah. In diesem Kampf spielten Chamberlain zufolge vor allem "Mischehen" eine fatale Rolle, die zu einer "Verunreinigung der arischen Rasse" führten und von den Juden angeblich als Kampfmittel eingesetzt würden. Wenn auch von der Wissenschaft abgelehnt, gewannen Chamberlains Ausführungen doch Einfluss auf die Politik. Kaiser Wilhelm II. ordnete an, dass Chamberlains "Grundlagen" an den preußischen Lehrerseminaren als Pflichtlektüre gelesen werden mussten. Chamberlains manichäische Ideologie - es gab nur ein gutes und ein böses, übertragen: ein germanisches und ein jüdisches Prinzip - begründete alle Konflikte der Gegenwart mit der Existenz der Juden in der deutschen Gesellschaft. Verbunden mit dem ökonomischen Neid, der vor allem in den sich benachteiligt fühlenden Gruppen der Gesellschaft wie Handwerkern oder kaufmännischen Angestellten verbreitet war, erwuchs daraus eine fatale politische Programmatik.

Selbstbewusste Gegenwehr

Gegen den Antisemitismus im Europa des ausgehenden 19. Jahrhunderts regte sich jedoch auch Widerstand, der vor allem in Frankreich erfolgreich war. Auch hier gab es eine sehr starke antisemitische Strömung, die 1894 mit der so genannten Dreyfus-Affäre den wohl bedeutendsten antisemitischen Skandal dieser Zeit in Europa auslöste. Der jüdische Offizier Alfred Dreyfus war wegen angeblicher Spionage für Deutschland verdächtigt, aufgrund gefälschter Beweise verurteilt, degradiert und auf die Teufelsinseln verbannt worden. Gegen dieses offenkundige Unrecht protestierte 1898 der Schriftsteller Émile Zola in einem offenen Brief, den er unter dem Titel "J'accuse" in der Zeitung "L'Aurore" veröffentlichte. Dies führte letztlich zur Rehabilitierung von Dreyfus. Eine andere Folge des Prozesses gegen Dreyfus von 1894 war die Schrift des Wiener Journalisten Theodor Herzl "Der Judenstaat" von 1896, die, wie es im Untertitel lautete, den "Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage" anbot. Danach sollten sich die Juden als Nation konstituieren und einen eigenen Staat gründen. Der Vorschlag wurde von der Zionistenbewegung begeistert aufgenommen und 1948 mit der Gründung des Staates Israel realisiert.

Unter dem akkulturierten jüdischen Bürgertum in Deutschland fand der Zionismus nur wenige aktive Anhänger. Hier setzte man als Abwehrstrategie gegen den Antisemitismus eher auf die Aktivitäten des 1893 gegründeten "Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens" (CV). Er trug erheblich zu einem jüdischen Gruppenbewusstsein bei. Gegen die antisemitischen Strömungen setzte er eine breite Öffentlichkeitsarbeit, in der die antisemitischen Behauptungen widerlegt wurden. Gegen die antisemitischen Emotionen war allerdings eine rationale Aufklärung ziemlich wirkungslos, zumal die rassistischen Antisemiten mit ihrem geschlossenen Weltbild für gegenteilige Argumente kaum zugänglich waren. Auch Zivilprozesse halfen da wenig. Auf den unfeinen Bäderantisemitismus mancher Kurorte, wie etwa Borkum oder Zinnowitz, reagierten jüdische Zeitungen mit so genannten Warnlisten, in denen etwa 20 bis 30 Erholungsorte und die 80 Hotels aufgeführt wurden, in denen Juden "unerwünscht" waren. Gerade den Bäderantisemitismus empfanden die jüdischen Bürger als sehr kränkend und beantworteten ihn mit dem Boykott dieser Orte. Die Mehrheit der jüdischen Bürger sahen sich in ihrer Akkulturation an die bürgerliche Gesellschaft und in der Verteidigung von deren Werten als gute Patrioten. Vielfach unterschätzten sie deshalb auch die Brisanz des Antisemitismus.

Trotz aller schwierigen akkulturativen Bemühungen und antisemitischen Angriffe zeigte sich das Judentum in Deutschland am Vorabend des Ersten Weltkriegs als selbstbewusste Gemeinschaft, die sich trotz starker sozialer Differenzierung ihrer Identität und der eigenen Wurzeln bewusst war. Unterstützt wurde es hierin durch geistige Führungspersönlichkeiten wie den Philosophen Hermann Cohen und die Religionswissenschaftler Martin Buber, Franz Rosenzweig und Leo Baeck, die das Beste der deutschen Kultur mit dem Besten der jüdischen Tradition zu verbinden suchten.

Für alle Juden, die auf die deutsche Kultur und deutsche Nation setzten und sich als ein Teil von ihr verstanden, brachte der Erste Weltkrieg eine gewisse Desillusionierung mit sich. Die jüdischen Soldaten erfuhren in den Schützengräben den Antisemitismus ihrer nicht-jüdischen Kameraden. Der Antisemitismus in der Heimat führte 1916 zur so genannten Judenzählung an der Front. Der Vorwurf der Antisemiten, Juden würden sich vor dem Krieg drücken und seien als Soldaten allenfalls in der Etappe, nicht aber an der Front zu finden, wurde durch die Zählung widerlegt. Da die Zahlen dieses antisemitische Vorurteil bloßstellten, wurden sie nicht veröffentlicht. Jüdische Statistiker errechneten nach dem Krieg 12000 jüdische Gefallene. Berücksichtigt man die damalige Überalterung der jüdischen Minderheit, so entsprach der Prozentsatz jüdischer Kriegsopfer mit 12,5 Prozent in etwa dem allgemeinen Durchschnitt von 13,4 Prozent.

QuellentextDie Judenzählung

Am 11. Oktober 1916, fünf Tage nach Zeichnungsschluss für die fünfte Kriegsanleihe, ordnete das preußische Kriegsministerium eine statistische Erhebung über die Dienstverhältnisse der deutschen Juden während des Krieges an. Kriegsminister Weil von Hohenborn hielt es für angebracht, sich in seinem Erlass direkt auf die "Klagen" aus der Bevölkerung zu beziehen, nach welchen sich "eine unverhältnismäßig große Zahl wehrpflichtiger Angehöriger des israelitischen Glaubens" unter vielerlei Vorwänden dem Herresdienst entziehe. Die Erklärung des Ministeriums, es wolle mit dieser Zählung die jüdischen Soldaten in keiner Weise diskreditieren, sondern Material zur Widerlegung antisemitischer Angriffe sammeln, war kaum glaubwürdig. Bisher war das Kriegsministerium auf Beschwerden der Bevölkerung niemals so beflissen eingegangen. Wie sollten beispielsweise zu anderen Truppeneinheiten versetzte, abkommandierte, verwundete und gefangene jüdische Soldaten registriert werden? Wurde nach Alter, Gesundheitsbefund und Tauglichkeit gefragt? Wie konnte erfasst werden, ob jüdische Soldaten in Schreibstuben oder andere rückwärtige Dienste versetzt oder kommandiert worden waren, etwa weil sie als Spezialisten, Dolmetscher oder aus anderen Gründen dort gebraucht wurden?
Über diese und zahlreiche andere Fragen und Bedenken hat sich das Ministerium hinweggesetzt und es den Kommandobehörden und Truppenstäben überlassen, damit fertig zu werden. Dabei konnte in Berlin niemand daran zweifeln, dass die Mehrheit der Offiziere und Unteroffiziere weder bereit noch in der Lage war, diese Erhebung objektiv und gerecht durchzuführen. Die einzelnen Generalkommandos versandten völlig unzulängliche Fragebogen, so dass die Erhebung schon dadurch zu falschen Ergebnissen führen musste. Dort, wo Antisemiten für die Bearbeitung zuständig waren, wurden ohne Zögern Verwundete, Kriegsbeschädigte und Abkommandierte als Etappensoldaten gezählt. Zuweilen verfielen sie auch noch auf andere Unkorrektheiten, um zu "beweisen", dass die betreffenden Juden nicht an der Front waren.
Wie immer aber der wirkliche Sachverhalt war, diese Judenzählung trug zur entscheidenden Entfremdung zwischen Juden und ihren Kameraden bei. Zudem untergrub das Ministerium auch die Autorität der jüdischen Vorgesetzten, der Offiziere, Truppenärzte und Unteroffiziere, weil bereits in der Begründung für die Maßnahmen der Vorwurf der Drückebergerei und Feigheit anklang.

Werner Jochmann, Die Ausbreitung der Antisemitismus, in: Werner E. Mosse/Arnold Paucker (Hg.), Deutsches Judentum in Krieg und Revolution 1916 - 1923, Tübingen 1971, S. 425 f. Zitiert nach: Deutsch-Jüdische Geschichte. Quellen zur Geschichte und Politik, Stuttgart 2007, S. 76 f.

Die Zeit der Weimarer Republik

Die Zeit der Weimarer Republik ist für die Geschichte der Juden äußerst ambivalent. Auf der einen Seite waren alle Beschränkungen, die es zur Kaiserzeit noch gab, gefallen, und für Juden standen nun alle Positionen offen; auf der anderen Seite aber werden aus heutiger Sicht Zeichen eines Niedergangs und einer Krise deutlich. Dies belegen zum Beispiel demographische und soziale Veränderungen: Gab es 1925 noch 564 379 Menschen jüdischen Glaubens in Deutschland (0,9 Prozent der Gesamtbevölkerung), so waren es im Juni 1933 nur noch 499 682, nachdem angesichts der Terroraktionen der Nationalsozialisten an die 30000 Juden das Land verlassen hatten. Für den Rückgang der jüdischen Bevölkerung waren mehrere Faktoren verantwortlich: zum einem der Rückgang der Kinderzahl sowie eine stärkere Überalterung der jüdischen Gruppe im Vergleich zur Allgemeingesellschaft. Zum anderen war die steigende Zahl der jüdisch-christlichen "Mischehen", deren Kinder weitgehend christlich erzogen wurden, nicht ohne Einfluss. Zwar gab es eine verstärkte Zuwanderung so genannter Ostjuden, doch konnte diese die negative Bilanz nicht ausgleichen. Eine wissenschaftliche Diagnose des Arztes Felix Thalheimer hatte schon 1911 den "Untergang der deutschen Juden" - so der Buchtitel - prognostiziert; eine These, die innerhalb der jüdischen Gemeinschaft mit Vorschlägen zur Abhilfe heftig diskutiert wurde. Die jüdische Minderheit hatte sich schon recht früh der modernen urbanen Entwicklung der Gesellschaft angepasst und ihre Kinderzahl darauf eingestellt. 1933 lebten 70 Prozent der deutschen Juden in einer Großstadt, davon allein 170000 in Berlin, gefolgt von Frankfurt am Main mit 29000, Breslau mit 23000, Hamburg mit 20000, Köln mit 16000, Leipzig mit 13000 und schließlich München mit 10000 jüdischen Einwohnern. Die meisten zählten zum Mittelstand, wobei neben den Freiberuflern die Zahl der jüdischen Angestellten stark angestiegen war. Mit der Zuwanderung der "Ostjuden" hatte sich im Ruhrgebiet und in Berlin ein - wenn auch nicht starkes - jüdisches Proletariat entwickelt. Die akkulturierten, das heißt an die deutsche Kultur angepassten deutschen Juden registrierten diese Zuwanderung mit gemischten Gefühlen. Die Bildung neuer Staaten im Osten nach dem Ersten Weltkrieg war verbunden mit antisemitischen Ausschreitungen und hatte den Zuzug nach Westen verstärkt. So gab es solche Ausschreitungen 1919 mit Todesopfern im polnischen Wilna und Lublin sowie 1920 im lettischen Riga und im polnischen Lemberg. Etwa 60000 der geflüchteten "Ostjuden" blieben in Deutschland. Zur Zeit der Weimarer Republik waren circa 15 bis 17 Prozent (= etwa 85000) der Juden in Deutschland so genannte Ostjuden. Etwa 56000 von ihnen besaßen die polnische Staatsangehörigkeit. Im Berliner Scheunenviertel entstand ein typisches Schtetl mit eigener ostjüdischer Kultur. Einigen von ihnen gelang ein ökonomischer Aufstieg, sie akkulturierten sich und zogen in den Westen der Stadt.

Offene Judenfeindschaft und Gewalt

Wie schon zur Kaiserzeit, so bildeten vor allem in Krisenzeiten wie während der Inflation von 1923 die "Ostjuden" ein bevorzugtes Angriffsziel der Antisemiten. Im Berliner Scheunenviertel wurden jüdische Geschäfte geplündert und Juden misshandelt. Die Polizei schaute dem lange zu, ohne einzugreifen. Aus Bayern, in dem Hitler, Ludendorff und weitere Putschisten am 9. November 1923 versucht hatten, die Macht an sich zu reißen, waren die Ostjuden ausgewiesen worden. Viele akkulturierte jüdische Bürger sahen das Verhalten staatlicher Organe mit banger Skepsis. Am gleichen 9. November 1923 kommentierte die "Jüdische Rundschau" die Vorgänge im Scheunenviertel als "Schicksalsstunde des deutschen Judentums". An dem "Pogrom" seien "weite Kreise der Bevölkerung" mit "hasserfüllten Gesichtern" beteiligt gewesen, hieß es in dieser Zeitung. Der Judenhass wurde von über 100 deutschen völkischen Zirkeln propagiert, die sich nach dem Krieg gebildet hatten; am stärksten unter ihnen war der "Deutsche Schutz- und Trutzbund". Ihre Propaganda gab den Juden die Schuld an der deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg und den Forderungen des Versailler Vertrags. Dabei beriefen sich ihre Propagandisten auf eine angebliche "jüdische Weltverschwörung", die mit den "Protokollen der Weisen von Zion" bewiesen werden sollte. Dieses Pamphlet, das ins Deutsche übersetzt und in 100000 Exemplaren verbreitet wurde, war eine Fälschung des zaristischen russischen Geheimdienstes. Angeblich sollten nach dieser Schrift jüdische Weise die Ergreifung der Weltherrschaft durch die Juden geplant haben. Die Schrift heizte auch in Deutschland die antisemitische Stimmung an. Schon im Juni 1922 war der Außenminister Walther Rathenau, der von den antisemitischen Gruppen als "jüdischer Erfüllungsgehilfe" verunglimpft wurde, von der rechtsradikalen Organisation Consul ermordet worden. Das daraufhin erlassene Republikschutzgesetz ermöglichte 1922/23 das Verbot dieser Zirkel, woraufhin in der Stabilisierungsphase der Republik (1924-1929) die antisemitischen Aktionen nachließen, die antisemitischen Einstellungen unterschwellig aber erhalten blieben.

QuellentextWalther Rathenau

Der 1867 als erster von zwei Söhnen Emil Rathenaus, des Begründers der Deutschen Edison-Gesellschaft, die 1887 in die Allgemeine Elektricitäts-Gesellschaft (AEG) umgewandelt wurde, geborene Walther war als Kind eher musisch begabt. [...]Früh wurde er jedoch in das väterliche Unternehmen eingebunden und studierte neben Philosophie vor allem Physik und Chemie in Berlin und Straßburg, später noch Maschinenbau und Elektrotechnik in München. Mit 32 Jahren wurde er Vorstandsmitglied der AEG und leitete die Abteilung Kraftwerkbau. [...] Ab 1902 war Rathenau Aufsichtsratsvorsitzender der Firma und pflegte auch als Geschäftsinhaber der Berliner Handelsgesellschaft umfangreiche internationale Beziehungen. 1904 erfolgte die Wahl in den Aufsichtsrat der AEG und in den Verwaltungsrat der Brown Boveri in Baden. Im selben Jahr wurde Walther Rathenau auch in den Verwaltungsrat der Bank für elektrische Unternehmungen in Zürich gewählt (zunächst Elektrobank genannt, dann umfirmiert in Elektrowatt), einer Gründung unter der Führung der AEG. Er amtierte als Delegierter des Verwaltungsrates dieser Schweizer Gesellschaft in Berlin.
Als überaus luzider, vielgereister Weltbürger und preußischer Patriot verfasste Rathenau Essays und Analysen zu Themen der Zeit und führte eine ausgedehnte Korrespondenz mit zahlreichen wichtigen Zeitgenossen aus Wissenschaft, Politik und Kultur. Er besuchte literarische Zirkel und war Präsident des Automobil-Clubs am Pariser Platz, wo er sich mit Persönlichkeiten aus Wirtschaft und Geistesleben traf: Er wirkte auch als Mäzen und fertigte - in seinem Landsitz Freienwalde - selber Pastellbilder und Bleistiftstudien, schließlich war der Maler Max Liebermann sein Onkel. Der vielseitig Begabte bewegte sich, wie für das deutsche Großbürgertum üblich, im Kreis von Wirtschaftsführern und Intellektuellen, unter ihnen zahlreiche assimilierte und nicht selten seit mehr als einer Generation konvertierte Juden.
Für ihn selber kam die Taufe als Strategie gegen den Ausschluss aus bestimmten Funktionen der preußischen Gesellschaft nicht in Frage. [...]
Rathenau als im Großbürgertum integrierter und erfolgreicher Unternehmer hatte durchaus auch die Grenzen erfahren, die der preußische Staat den Juden setzte: Nachdem er 1890/91 als Freiwilliger Militärdienst geleistet hatte, blieb ihm der Aufstieg in die angestrebte Position des Reserveoffiziers im preußischen Heer verwehrt. [...]
1914, nach der Mobilmachung vom 1. August, wurde Rathenau mit dem Aufbau der Kriegsrohstoffabteilung im preußischen Kriegsministerium beauftragt. Nach dem Krieg entsandte Reichskanzler Joseph Wirth den sprachkundigen Sachverständigen zu heiklen außenpolitischen Verhandlungen. Er war der erste Deutsche, der nach der Niederlage des Kaiserreiches wieder angehört wurde, so in den Reparationsverhandlungen in Cannes im Januar 1922, wo er die verzweifelte Lage Deutschlands darstellen konnte und beteuerte, sein Land sei bereit, die Forderungen der Alliierten "bis zu den Grenzen seiner Leistungsfähigkeit zu erfüllen und (wolle) darüber hinaus mit den Westmächten und Russland zusammen Ost- und Zentraleuropa wieder aufbauen". Diese Willenserklärung Rathenaus wurde von seinen politischen Gegnern als gegen Deutschland gerichtet gedeutet, obwohl die Formulierung "bis zur Grenze der Leistungsfähigkeit" auf die Einsicht der Alliierten zielte, exzessive Forderungen seien mit der Zeit zu mäßigen.
Seit Ende Januar 1922 Außenminister, unterzeichnete Rathenau in Rapallo mit der sowjetischen Delegation am 16. April 1922 jenen Vertrag, laut dem gegenseitig auf Ersatz von Kriegskosten und Zivilschäden verzichtet werden sollte, Deutschland und seine Staatsbürger überdies die von Sowjetrussland nationalisierten Vermögenswerte nicht zurückfordern würden. Dafür wurde die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Moskau und Berlin beschlossen und im Handel die Meistbegünstigung eingeräumt.
Während die Reparationszahlungen an den jungen Sowjetstaat also entfielen, wurden sie umso energischer von Frankreich eingefordert. Auf Rathenau fokussierte sich fortan der Hass der deutschnationalen Kreise, die in ihm den "Erfüllungspolitiker" sahen und zudem einen "Rassenfremden" und "Vertreter des Weltjudentums", der Deutschland dem Bolschewismus ausliefern wolle.
Am 24. Juni 1922 wurde er im offenen Wagen, auf dem Weg zum Außenministerium, vor seiner Haustür in Grunewald von einem rechtsextremen Kommando junger Offiziere ermordet. [...]
Dass Walther Rathenau bei all seiner Vaterlandsliebe und seinen Verdiensten für die Heimat dennoch als Jude gehasst und schließlich ermordet wurde, zeugt von der Tragik der deutsch-jüdischen Symbiose, einer Tragik, deren ungeheuerliche Dimension ja erst noch bevorstand.

Regula Heusser-Markun, "Reminiszenzen einer tragischen Symbiose", in: aufbau Nr. 7/8 vom Juli/August 2008, S.19 ff.

Sinkende wirtschaftliche Bedeutung

Die von den Antisemiten immer wieder behauptete Beherrschung des Wirtschaftslebens durch die Juden war Propaganda. Zwar gab es noch einige bedeutende jüdische Privatbanken wie die Warburg-Bank in Hamburg oder die Hirschfeld-Bank in Essen, aber an den wichtigeren großen Aktienbanken lag der Anteil jüdischer Besitzer nur noch bei einem Prozent und entsprach damit dem jüdischen Bevölkerungsanteil. Einen dominierenden Anteil mit circa 40 Prozent hatten jüdische Bürger lediglich in der Textilindustrie. Hier waren auch die meisten jüdischen Arbeiter und Arbeiterinnen, etwa 22000, beschäftigt. Sonst aber gab es keine Industriebranche mehr, in der jüdische Unternehmer eine Rolle spielten - weder bei der AEG, wo die Familie Rathenau ausgeschieden war, noch in der HAPAG, nachdem Albert Ballin am 9. November 1918 durch Selbstmord sein Leben beendet hatte. Im Pressewesen hatten die Berliner Verlage Mosse und Ullstein eine bedeutende, aber nicht monopolartige Stellung. Den Einfluss, den jüdische Unternehmer in der Kaiserzeit hatten, haben sie zur Zeit der Weimarer Republik nicht halten können. Der jüdische Mittelstand, der kaum über Grundbesitz verfügte, hatte stark unter der Inflation gelitten: Viele seiner Mitglieder verarmten und mussten von der "Jüdischen Wohlfahrtspflege" unterstützt werden. Selbst im Konsolidierungsjahr 1926 heißt es im Protokoll der Hauptversammlung des Centralvereins: "Die Entwicklung auf wirtschaftlichem Gebiet [...] ist stellenweise als bedrohlich anzusehen." Auch die Weltwirtschaftskrise traf den jüdischen Mittelstand besonders hart: Bereits 1930 musste in Berlin ein Viertel der jüdischen Gemeindemitglieder durch die "Jüdische Wohlfahrtspflege" unterstützt werden, in Breslau war es sogar ein Drittel. Mit dem Niedergang des Liberalismus - der politischen Heimat der meisten Juden - am Ende der Weimarer Republik war auch der Antisemitismus wieder stärker geworden, der die Juden vor allem im Wirtschaftsleben durch Entlassungen hart traf.

Vielfalt und Blüte geistiger Strömungen

Im Gemeindeleben hatten sich die Juden der demokratischen Entwicklung - wenn auch mit Verzögerung - angepasst. Umstritten war zwischen Orthodoxen und Liberalen das passive, nicht aber das aktive Frauenwahlrecht bei den Gemeindewahlen. In Hamburg zum Beispiel wurde es erst 1930 eingeführt. Trotz der Erfahrungen des Ersten Weltkriegs und der dann folgenden antisemitischen Aktionen blieb der weltanschauliche Gegensatz zwischen dem Centralverein (CV) mit 300000 Mitgliedern und den Zionisten mit circa 33000 Mitgliedern bestehen. Der CV betonte nach wie vor, jüdisch und deutsch zu sein, während die Zionisten die Auswanderung nach Palästina propagierten, um dort ein eigenes, vor dem Antisemitismus schützendes jüdisches Staatswesen zu errichten. Davon unabhängig agierte der "Verband der Ostjuden", der eine eigene Subkultur entwickelte, die aber durchaus Einfluss auf die Kultur der deutschen Juden insgesamt ausübte. Gelehrte wie Martin Buber, Gershom Scholem und Franz Rosenzweig sahen im Ostjudentum eine Quelle religiöser und jüdisch-nationaler Erneuerung. Werke aus dem Jiddischen wurden ins Deutsche übersetzt, und Martin Buber pries den Chassidismus als lebendige Religion. Diese "jüdische Renaissance" fand ihren Ausdruck in der Errichtung des Freien Jüdischen Lehrhauses in Frankfurt am Main durch Franz Rosenzweig und Martin Buber sowie in einer neuen Übersetzung der hebräischen Bibel. Die deutschen jüdischen Leser, des Hebräischen nicht mehr mächtig, sollten hier die sprachliche Eigenart des Hebräischen nachempfinden können. Doch war dies weitgehend nur ein Angebot; die meisten Juden fühlten sich in ihrer säkularen jüdischen Kultur, die sie als Teil der allgemeinen Kultur in Deutschland verstanden, zu Hause. Solange sie in einem Rechtsstaat lebten, konnten sie trotz aller antisemitischen Angriffe die durch die Emanzipation erreichte Gleichberechtigung als gesichert ansehen. Die Hoffnung auf den deutschen Rechts- und Kulturstaat blieb bei vielen Juden deshalb auch nach 1933 wach, als die meisten Deutschen die Vernichtung dieses Rechtsstaats durch die beginnende Diktatur begrüßten.

QuellentextJuden im Erwerbs- und Geistesleben der Weimarer Republik

Das Grundmuster [der] Berufsverteilung hatte sich frühzeitig herausgebildet und im Verlauf des 19. Jahrhunderts stabilisiert. Seither war es mit der typischen Beharrungskraft kleiner Minderheiten, die den bewährten Zugang zu Erwerbschancen erfolgreich verteidigen, beibehalten worden. Nach dem Krieg übte die kommerzielle Tätigkeit allerdings eine spürbar geringere Anziehungskraft aus, wogegen das Studium und der Weg in die Freien Berufe oder aber die Entscheidung für eine Angestelltenexistenz zunahmen.[...]
Die jüdische Wirtschaftselite verstand es, ihre Stellung im Bankenwesen zu behaupten. Die Hälfte aller privaten Großbanken - darunter so renommierte Häuser wie Mendelssohn, Bleichröder, Warburg, Wassermann, Arnhold und Oppenheim - war trotz des Konzentrationsprozesses in ihrem Besitz geblieben. Darüber hinaus spielten jüdische Bankiers im Vorstand oder Aufsichtsrat anderer wichtiger Banken eine prominente Rolle. Außer ihrer traditionell starken Stellung im Großhandel dominierten jüdische Unternehmer auch in der Aufstiegsphase der großen Warenhäuser: Tietz, Wertheim und Schocken kontrollierten vor 1933 80 Prozent des deutschen Kaufhausumsatzes. In der industriellen Produktion war es dagegen bei der überkommenen Zurückhaltung geblieben; die Erfolgsgeschichte der Schuhwerke von Salamander und Leiser bildete eine Ausnahme.
Als Avantgarde der deutsch-jüdischen Symbiose können die aufgrund ihres Talents oder ihrer Produktivität herausragenden jüdischen Künstler und Wissenschaftler gelten [...]. Ein großes Publikum fanden Schriftsteller wie Max Brod, Alfred Döblin, Lion Feuchtwanger, Franz Kafka, Emil Ludwig, Joseph Roth, Arthur Schnitzler, Carl Sternheim, Ernst Toller, Kurt Tucholsky, Jakob Wassermann, Franz Werfel, Stefan Zweig. Jüdische Verleger wie Mosse, Ullstein, Fischer, Paul und Bruno Cassirer und Kurt Wolff förderten das Bewährte und die Moderne.
Am Theater wirkten unter großen Regisseuren wie Max Reinhardt, Leopold Jessner, Viktor Barnowsky prominente jüdische Schauspielerinnen und Schauspieler, zum Beispiel Elisabeth Bergner, Ernst Deutsch, Therese Giehse, Fritz Kortner, Peter Lorre, Lucie Mannheim, Fritzi Massary, Max Pallenberg [...].
Komponisten wie Arnold Schönberg, Kurt Weill, Hanns Eisler machten ganz so von sich reden wie Dirigenten, Otto Klemperer etwa und Bruno Walter. Architekten wie Erich Mendelsohn und Oskar Kaufmann verfochten die klassische Moderne.
In fast allen Wissenschaften standen jüdische Gelehrte in der vordersten Reihe. Von neun deutschen Nobelpreisträgern in der Zeit der Republik waren fünf jüdische Naturwissenschaftler: Albert Einstein, James Franck, Gustav Hertz, Otto Meyerhof und Otto Heinrich Warburg. Unter den Geisteswissenschaftlern ragten Ernst Cassirer, Edmund Husserl, Ernst Kantorowicz, Karl Löwith, Gustav Mayer, Erwin Panofsky, Eugen Rosenstock-Huessy (ein wahres Universalgenie), Veit Valentin und Aby Warburg hervor. Die frühe deutsche Soziologie ist ohne Theodor W. Adorno, Erich Fromm, Max Horkheimer, Siegfried Kracauer, Leo Löwenthal, Karl Mannheim, Herbert Marcuse, Franz Oppenheimer nicht zu denken. In der Rechtswissenschaft ragten Hermann Heller und Hans Kelsen, Hugo Preuß und Hugo Sinzheimer hervor. Die Psychoanalyse wurde völlig von jüdischen Schülern Freuds, von Karl Abraham, Siegfried Bernfeld, Helene Deutsch, Max Eitington, Wilhelm Reich beherrscht [...]. Und überall rückte die junge Garde jüdischer Intellektueller nach [...] und die anderthalbtausend geflüchteter Akademiker, die dann vor allem in Amerika ihre Karriere machen sollten. Wenn man sich diese Brillanz jüdischer Künstler und Intellektueller [...] und dann die absolute tabula rasa von 1945 vergegenwärtigt, wird einem der unersetzliche Verlust im geistigen Haushalt der Deutschen noch einmal bewusst.

Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte 1914 - 1949, München 2003, S. 500 f.

Fussnoten

lehrte am Historischen Seminar der Universität Hamburg Neuere Geschichte mit dem Schwerpunkt Frühe Neuzeit. Zahlreiche Forschungsprojekte und Veröffentlichungen, u. a. zur deutsch-jüdischen Geschichte, zur Reformationsgeschichte und zur Konfessionalisierung in der Frühen Neuzeit sowie zur Geschichte Schlesiens. Professor Herzig ist u. a. im Kuratorium der Freunde und Förderer des Leo Baeck Instituts und Mitglied der Historischen Komission für Schlesien. Kontakt: arno.herzig@uni-hamburg.de