Jüdische Siedlungen im mittelalterlichen Kaiserreich
Im Zentrum des Karolingerreiches und am Hofe Karls des Großen (Reg.: 768-814) tauchten Juden nach Angabe der Quellen nur sporadisch als Händler auf. Sie bildeten keine festen Gemeinden. Vereinzelt übernahmen sie diplomatische Dienste für den Kaiser, wie der in den Fränkischen Reichsannalen genannte "Jude Isaac", der 797 von Karl dem Großen mit einer dreiköpfigen Delegation zum Kalifen Harun al-Raschid nach Bagdad entsandt wurde. In der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts ließen sich Juden dann im Süden des Karolingerreiches, in der Kathedralstadt Lyon, nieder, wo sie 825 Kaiser Ludwig der Fromme unter seinen Schutz stellte. Wie im muslimischen Südspanien bevorzugten die Juden auch im Karolingerreich die Ansiedlung in den Städten.
Nach der Völkerwanderung hatten von den einst blühenden römischen Städten nördlich der Alpen nur die Kathedralstädte, also die Bischofssitze, einen (quasi) urbanen Charakter bewahrt. Hier entstanden auch die ersten Niederlassungen der Aschkenasim, wie die im deutschen Raum siedelnden Juden im Mittelalter auf Hebräisch genannt wurden. Nach der Aufteilung des Karolingerreiches und der Herausbildung des Ostfränkischen Reiches finden sich seit dem 10. Jahrhundert jüdische Kaufmannssiedlungen in den Kathedralstädten am Rhein. Ob die im Osten des Reiches in Magdeburg (965) und Halle (973) nachgewiesenen jüdischen Kaufleute bereits Gemeinden gebildet haben, bleibt fraglich. Im ausgehenden 10. Jahrhundert gab es nach vorsichtigen Schätzungen ca. 4000 bis 5000 jüdische Einwohner im mittelalterlichen Kaiserreich, die aus Frankreich und aus Italien eingewandert waren. Es handelte sich dabei um Sippenverbände, wie die Kalonymos-Sippe, welche der Chronist Thietmar von Merseburg (975-1018) erwähnt. Nach seiner Schilderung soll sie aus Lucca nach Mainz gekommen sein, nachdem sie angeblich 982 Kaiser Otto II. (Reg.: 973-983) in der Schlacht bei Cotrone gegen die Araber das Leben gerettet hatte. Einen Zuzug jüdischer Familien aus der Romana (Frankreich, Italien: Lucca) belegen für die Jahrtausendwende auch hebräische Quellen.
Die älteste jüdische Gemeinde siedelte in Mainz (erste Hälfte 10. Jahrhundert). Von dieser Zentralgemeinde aus bildeten sich weitere Gemeinden in Trier (1066), Worms (1084) und Speyer (1090). Ein weiteres jüdisches Zentrum war im frühen 11. Jahrhundert wiederum Köln. Auch in Regensburg, das für den Osthandel bedeutend war, sind bereits 981 Juden als Einwohner bezeugt. Könige und Bischöfe forcierten die jüdischen Niederlassungen und verliehen den dort ansässigen Juden Handelsprivilegien, um die wirtschaftliche Bedeutung ihrer Städte zu fördern. Die Juden erwiesen sich somit als Schrittmacher dieses frühen Urbanisierungsprozesses in Deutschland.
QuellentextPrivileg Bischof Rüdigers von Speyer für die Juden von Speyer vom 13. September 1084
Nach einem Brand im jüdischen Bezirk in Mainz bot der Bischof von Speyer den Geschädigten an, sich in Speyer niederzulassen.
Als ich, Rüdiger, auch Hutzmann genannt, Bischof von Speyer, den Weiler Speyer zu einer Stadt gemacht habe, habe ich geglaubt, die Ehre unseres Ortes um ein Vielfaches zu vergrößern, wenn ich hier auch Juden ansammelte.
Ich siedelte also die Versammelten außerhalb der Gemeinschaft und des Wohnbezirks der übrigen Bürger an, und damit sie nicht so leicht durch die Unverschämtheit des Pöbels beunruhigt würden, habe ich sie mit einer Mauer umgeben.
Ihren Wohnort aber [...] habe ich ihnen unter der Bedingung übergeben, dass sie jährlich dreieinhalb Pfund Speyerer Geldes zum gemeinsamen Verbrauch der Klosterbrüder zahlen.
Innerhalb ihres Wohnbezirks und in der Gegend außerhalb des Hafens bis zum Schiffshafen und im Schiffshafen selbst habe ich ihnen das Recht zugestanden, Gold und Silber frei zu tauschen und alles zu kaufen und zu verkaufen, was sie wünschen. Dasselbe Recht habe ich ihnen auch in der gesamten Stadt zugestanden. Außerdem habe ich ihnen aus dem Kirchengut einen Begräbnisplatz unter einem Erbvertrag gegeben. Auch dies habe ich hinzugefügt, dass ein fremder Jude, der bei ihnen zu Gast ist, dort keinen Zoll zahlen muss.
Schließlich [...], dass wie der Stadtrichter unter den Bürgern, so auch ihr Synagogenvorsteher über alle Klagen, die sie untereinander erheben oder die gegen sie erhoben werden, entscheiden soll. Wenn er aber irgendeine Angelegenheit nicht entscheiden kann, so soll sie dem Bischof der Stadt oder seinem Kämmerer vorgelegt werden.
Wachen, Verteidigungen und Befestigungen müssen sie nur innerhalb ihres Wohnbezirks verrichten, die Verteidigungen jedoch gemeinsam mit den Bediensteten. Ammen und gemietete Knechte können sie von den Unsrigen haben. Geschlachtetes Fleisch, das sie nach ihrem Gesetz für sich als verboten betrachten, dürfen sie an Christen verkaufen, und diesen ist es erlaubt, es zu kaufen. Kurz, ich habe ihnen als Gipfel meines Wohlwollens ein Gesetz verliehen, das besser ist, als es das jüdische Volk in irgendeiner anderen Stadt des deutschen Reiches besitzt.
Julius Schoeps / Hiltrud Wallenborn (Hg.), Juden in Europa - Ihre Geschichte in Quellen, Band 1, Darmstadt 2001, S. 120 f.
Nach 1100 weiteten sich die jüdischen Siedlungen entlang des Rhein-Flussnetzes aus und entstanden nun auch in Orten, die sich allmählich zu Städten entwickelten wie Bingen, Boppard oder Bacharach. In den hebräischen Quellen werden diese Orte als Kfarim, als Dörfer, bezeichnet. Da die Juden aufgrund ihrer Speisegesetze ihren eigenen (koscheren) Wein produzieren mussten, gab es bereits im 12. Jahrhundert im Rheingebiet Dörfer mit jüdischen Einwohnern. Doch bildeten diese hier keine eigenen Gemeinden, sondern gehörten zu den Stadtgemeinden. Entlang des Mains entstanden im 12. Jahrhundert jüdische Gemeinden in Frankfurt, Aschaffenburg, in den Kathedralstädten Würzburg und Bamberg sowie südlich davon in den königlichen Städten Nürnberg und Rothenburg ob der Tauber. Die jüdischen Siedlungen im 11. und 12. Jahrhundert entstanden ausschließlich in bischöflichen bzw. königlichen Besitzungen und in Besitzungen der so genannten Ministerialen, der kaiserlichen Beamten, die die unterste Gruppe in der Adelshierarchie bildeten.
War bis zum 10. Jahrhundert der Fernhandel für jüdische Kaufleute typisch, so wurden sie im 11. Jahrhundert zu ortsansässigen Kaufleuten und trieben ab jetzt vorwiegend Handel mit der in den frühen Städten lebenden Bevölkerung. Zu den Handelsprodukten zählten Waren des täglichen Gebrauchs: Wein, Getreide, gesalzene Fische, Metallwaren, Viehzeug, Felle und Textilien. Ein wichtiger Erwerbszweig für jüdische Kaufleute bildete auch der Geldwechsel fremder Währungen sowie die Beschaffung von Edelmetall. Die Pfandleihe spielte für Juden zu dieser Zeit noch keine Rolle, wie den Rechtsauskünften der Rabbiner, den so genannten Responsen, zu entnehmen ist.
Gemeindeleben, Sitten und Gesetze
In Mainz, Worms und Speyer (nach den hebräischen Anfangsbuchstaben wurden die drei Städte auch unter dem Begriff ShUM zusammengefasst) entstanden im 11. Jahrhundert bedeutende Gelehrtenschulen, so genannte Jeschiwen. Neben den großen jüdischen Zentren im Orient und in Spanien entwickelten sie ein eigenes geistliches und geistiges Profil und erreichten im ausgehenden 11. Jahrhundert ihre Blütezeit.
In Mainz lehrte der große Gelehrte Rabbi Gerschom ben Jehuda, das "Licht des Exils" (um 960 - 1028), der das jüdische Recht mit dem allgemein gültigen Recht in Einklang zu bringen versuchte. Nach dem Talmud, der Sammlung und Auslegung gesetzlicher Vorschriften, galt beispielsweise der Satz: Gesetze des Staates sind für Juden verbindlich. In Anpassung an das allgemeine Recht verzichteten die Juden deshalb auf Verordnung Gershom ben Jehudas hin auf die ihnen nach ihrem traditionellen Recht eigentlich zugestandene, wenn auch nicht übliche Polygamie. Da die jüdischen Zentren in Deutschland ohne Tradition waren, spielte die Festigung eigener Sitten (Minhagin) eine wichtige Rolle.
Die jüdische Gemeinde verstand sich als "heilige Gemeinde", was einen hohen moralischen Anspruch bedeutete. Da das mittelalterliche Stammesrecht, so das der Franken, die so genannte Lex Salica, sowohl für Einzelpersonen als auch für Gruppen gelten konnte, waren bei internen Rechtsfällen die jüdischen Gemeinden in ihrer Rechtsprechung autonom. Diese oblag den Rabbinern, die, im Unterschied zu den christlichen Geistlichen, als Rechtslehrer, nicht aber im liturgischen Dienst tätig waren, wenngleich sie gelegentlich als Verfasser liturgischer Dichtungen hervortraten. Die Rabbiner saßen den lokalen Gerichtshöfen vor und bestimmten in Eheangelegenheiten, über Sanktionen bei Regelverletzungen und internen Streitigkeiten, was Geld- und Körperstrafen und sogar die Konfiszierung des Eigentums beinhalten konnte. Sie bestimmten ferner über den Cherem, den Bann, also den Ausschluss von Einzelnen aus der Gemeinschaft. Mit dem Bann konnten auch Zuzügler ausgeschlossen werden, die der jüdischen Gemeinde bzw. ihrer Führungsschicht unerwünscht waren.
Die Gelehrten kamen im 10. und 11. Jahrhundert aus der Oberschicht der Großhändler, die miteinander eng versippt waren. Diese Oberschicht stellte in dieser Zeit auch die Parnassim, die Gemeindevorsteher, und deren Vertrauensmänner. Doch kam es mit Anwachsen der Gemeinden zu einer sozialen Differenzierung, infolge derer die aristokratische Gemeindeführung gegen Ende des 11. Jahrhunderts problematisch wurde.
Das Kreuzzugspogrom von 1096
Die Blütezeit jüdischen Lebens am Rhein, das durch die Kaiser und Bischöfe gefördert und geschützt worden war, wurde erstmals durch ein Pogrom gefährdet, das so genannte Kreuzzugspogrom von 1096. Im Jahr zuvor hatte Papst Urban II. (Amtszeit: 1088 - 1099) im französischen Clermont die Christenheit zu einem Kreuzzug aufgerufen, der die Stadt Jerusalem von den muslimischen Seldschuken befreien sollte. Sein Aufruf löste eine große Begeisterung auch unter dem einfachen Volk, den städtischen und ländlichen Unterschichten, aus, die in Fanatismus umschlug. Im Vorgriff auf die erwartete Auseinandersetzung mit den muslimischen Andersgläubigen richtete sich ihre Aggression gegen die Juden als Andersgläubige im eigenen Land. Wirtschaftliche Motive spielten dabei eine Rolle. Christliche Chronisten begründeten die bald einsetzenden Pogrome mit dem Satz: "Gott hat die Juden reich werden lassen, damit die Armen sich ihren Reichtum aneignen können." Trotz der Warnschreiben französischer jüdischer Gemeinden, die bereits unter den Kreuzfahrerheeren gelitten hatten, vertrauten die jüdischen Gemeinden am Rhein auf den Schutz, den sie bisher durch die Kaiser und Bischöfe erfahren hatten. Doch Kaiser Heinrich IV. (Reg.: 1056 - 1106), der den Juden noch 1090 ausdrücklich seinen Schutz zugesichert hatte, befand sich auf Italienfahrt, und auch die Bischöfe, die vielfach selbst bedroht wurden, weil sie die Juden zu schützen versuchten, vermochten trotz vorausgegangener Garantien und Geldgeschenke weitgehend keinen Schutz zu leisten. Der Ermordung durch die Kreuzfahrer bzw. der Zwangstaufe zogen zahlreiche Juden den Freitod vor. Viele von ihnen, die sich der Taufe verweigerten, wurden erschlagen.
Obwohl die menschlichen Verluste sehr hoch waren, konnten sich die Gemeinden bald nach 1100 wieder bilden. In Köln bestätigen die so genannten Schreinsurkunden, die die Besitzverhältnisse festhielten, für das zweite Viertel des 12. Jahrhunderts vielfach den Erwerb von Haus- und Grundbesitz durch jüdische Zuwanderer. Es handelte sich dabei teils um Neuzuzüge, teils um Juden, die mangels Alternativen in ihre alten Gemeinden zurückkehren mussten. Kaiser Heinrich IV. gestattete nach seiner Rückkehr aus Italien gegen die Entscheidung des Papstes den Zwangsgetauften die Rückkehr zum Judentum.
Mystische Deutung der religiösen Gewalt
Die Erinnerung an das Pogrom von 1096 wirkte in den Gemeinden nach. In Memorbüchern und geistlichen Gesängen wurde der Ermordeten gedacht. Mit den "Frommen von Aschkenas" (Chassidej Aschkenas) entwickelte sich eine mystische Bewegung, die Elemente volkstümlicher Religiosität aufnahm, welche dem gelehrten Judentum der rheinischen Jeschiwen fremd gewesen waren. Zu diesen Elementen gehörte auch die Vorstellung, die Bewahrung der jüdischen Religion, auch durch den Freitod mitsamt der Kinder, geschähe zur Heiligung des Namens Gottes (Kiddusch-Ha-Schem). Diese Auslegung gab dem Martyrium der Ermordeten und derjenigen, die sich selbst getötet hatten, einen tieferen Sinn und fand einen biblischen Bezug in der Bereitschaft des Patriarchen Abraham, auf Aufforderung Gottes hin seinen Sohn Isaac zu töten. Nach dem jüdischen Moralgesetz der Halacha war der Freitod allerdings verboten. Während das sefardische, also das spanische, Judentum, eine "Erlösung durch Konversion" (Übertritt in eine andere Glaubensgemeinschaft) als möglich ansah, da sich nach seiner Vorstellung am Ende der Tage alle Menschen zum Judentum bekehren würden, entwickelte die aschkenasische synagogale Liturgie die Vorstellung von der "Erlösung durch Rache" für das Blut der Märtyrer. Gemäß dieser Auffassung wird Gott am Ende der Tage "Edom", also das mittelalterliche Christenreich, vernichten. Die Verinnerlichung dieser Deutung bestimmte noch 250 Jahre später bei den so genannten Pestpogromen von 1350 das Verhalten zum Beispiel der Mindener Juden, als diese in den Tod getrieben wurden. So berichtet der Chronist Heinrich von Herford, ein Dominikaner: "Zum Tode eilten sie jedoch fröhlich und Tänze aufführend, wobei sie zuerst die Kinder, dann die Frauen, hernach sich selbst den Flammen übergaben, damit nicht durch menschliche Schwachheit etwas gegen das Judentum vorgebracht werden könnte."
Strukturwandel in den Gemeinden
In den wieder neu erstehenden jüdischen Gemeinden des 12. Jahrhunderts vollzog sich ein Strukturwandel, der unter anderem auch eine Folge der vom Kloster Cluny angestoßenen innerkirchlichen Reformbestrebungen war. Neben das christliche Armutsideal und die Befreiung der Kirche von weltlicher Abhängigkeit trat 1179 das allgemeine Verbot für Christen, gegen Zinsen Geld zu verleihen. Für jüdische Händler, die diesem Verbot nicht unterlagen, bot sich dadurch eine neue Chance, ihren Lebensunterhalt zu verdienen, denn sonstige städtische Berufe durften nur Mitglieder christlicher Handwerkszünfte oder Kaufmannsgilden ausüben, und der Aufstieg in den niederen Ministerialadel blieb Juden verwehrt, weil ihnen das Tragen von Waffen verboten war. Auch die Nutzung von ländlichem Grundbesitz war für Juden sehr eingeschränkt, da sie keine Arbeitskräfte beschäftigen durften, und beschränkte sich deshalb weitgehend auf die Eigenproduktion von koscherem Wein.
QuellentextJüdische Handwerker im Spätmittelalter
Aus einer Reihe von Quellen [geht] hervor, dass etwa ein jüdischer Handwerker auch im spätmittelalterlichen Deutschland keineswegs eine exotische Erscheinung war. Nicht alle Handwerker waren im übrigen in Zünften organisiert. Sei es nun am Mittelrhein, in Niedersachsen oder in Österreich: Aus allen Regionen gibt es Beispiele jüdischer Handwerker, die vielfach gesuchte Spezialisten ihres Faches waren; die etwa in Worms als Schwertfeger, Schwarzfärber und Kartenmacher oder in Hildesheim und Duderstadt als Schneider arbeiteten und sogar christliche Angestellte ausbildeten; Juden, die als Buchbinder die städtischen Urkunden von Nördlingen einbanden, die als Schiffer auf Rhein und Main Waren beförderten oder die dem Mainzer Erzbischof Dietrich von Erbach ein schönes Letterfutteral für dessen wertvollsten Kelch anfertigten. In Hagenau im Elsaß scheint es ferner eine jüdische Ziegelei gegeben zu haben. Daneben begegnen gesuchte Techniker wie etwa Mühlenbauer oder Stundenglockenmacher, natürlich aber auch Gold- und Silberschmiede. Besonders gerühmt wurden im Mittelalter in ganz Europa die jüdischen Ärzte und Ärztinnen. Manche Juden hatten sich auf dem Gebiet der Medizin zum Beispiel auf die Augen- oder Tierheilkunde spezialisiert.
Gert Mentgen, Zur Lage der Judengemeinden am Mittelrhein im ausgehenden Mittelalter, in: Informationen für den Geschichts- und Gemeinschaftskundelehrer, Heft 68/2004, S. 12f.
Die Geldleihe ermöglichte bei geringem Arbeitseinsatz Gewinne, die zur Existenz ausreichten. Diese materiellen Voraussetzungen hatten Einfluss auf die Gestaltung des Familienlebens und die Beziehung der Geschlechter. Obgleich Frauen in der jüdischen Kultusgemeinde einen nachrangigen Platz hatten - zur Bildung einer Gemeinde und für den Gottesdienst waren ausschließlich (zehn) Männer vonnöten - kam ihnen im Familien- und Geschäftsleben ein hoher Rang zu. Zwar bestimmten die Brautwahl in der Regel die Eltern, zumal das Brautpaar in sehr jungen Jahren verheiratet wurde. Doch die Geldleihgeschäfte erforderten eine Konzentration des Familienbesitzes in einer Hand, was beim Todesfall des Mannes den Witwen zugute kam, die das Geschäft weiterführen mussten. In den zeitgenössischen Quellen treten häufig jüdische Frauen als Gläubigerinnen auf. So befanden sich 1338 in der Stadt Oberwesel unter den 29 jüdischen Kreditgebern zehn Frauen.
Mit dem Übergang des Geldhandels auf die Juden bildete sich in den Gemeinden eine neue Mittelschicht heraus, die den Führungsanspruch der alten Sippen in Frage stellte und durch Häusererwerb in zentraler Lage der Städte auch in der Öffentlichkeit stärker in Erscheinung trat. Sie forderte nachdrücklich ein Mitspracherecht in den Gemeinden, so dass nun die Wahl der Rabbiner und der "Judenbischöfe" nicht mehr nur bei den alten Familien lag. Während die Rabbiner als Lehrer, Prediger und Fachleute für religiöse Fragen die Gemeinden leiteten, fungierte der Judenbischof als Vorsteher und Sprecher seiner Gemeinde gegenüber der weltlichen, christlichen Obrigkeit. Er musste deshalb von den Bischöfen oder Kaisern im Amt bestätigt werden und war für die regelmäßige Zahlung der Gemeindesteuern an den Stadtherren verantwortlich. Dabei konnte der Beitrag der einzelnen Gemeindemitglieder zur gemeinschaftlichen Steuerleistung bis ins 18. Jahrhundert entweder durch eidlich beschworene Selbsteinschätzung oder durch einen gewählten Schätzer bestimmt werden.
QuellentextDas aschkenasische Ideal der Lebensführung
Sei nicht zanksüchtig, halte dich fern von Schwüren und Gelöbnissen, von Gelächter und Ausbrüchen des Zornes; sie verwirren des Menschen Sinn. Vermeide lügenhafte Handlungen, sprich den Namen Gottes nicht unnützerweise aus und nicht an schmutzigen Orten. Tu ab die Stützen, auf welche die Menschen vertrauen, mache Gold nicht zu deiner Lebenshoffnung; das ist zum Götzendienste der erste Schritt. Vielmehr wandle in Demut vor deinem Schöpfer und gib, wo es sein Wille ist, dein Geld fort; er kann dir Ersatz gewähren. Gib leichter Geld als Worte von dir; das böse Wort lege auf die Waage des Verstandes, bevor du es aussprichst. [...]
Nicht wie der Faule sollst du schlafen, stehe auf mit der Sonne und mit dem Gesang der Vögel. Sei kein Schlemmer und kein Säufer, du möchtest deines Schöpfers vergessen. Sieh nicht auf den, der im Reichtum über dich emporgestiegen, sondern auf die hinter dir Zurückgebliebenen. Aber in dem Dienste und der Furcht Gottes sieh auf den größeren, nie auf den geringeren. Freue dich mit Zurechtweisungen, nimm willig Rat und Belehrung an; erhebe dich nicht stolz über die Menschen. [...]
Hebe die Hand nicht auf gegen deinen Nächsten, auch wenn er vor dir deine Eltern lästert; rede von niemand Böses, verspotte und verleumde keinen Menschen! Hat jemand Unschickliches gesprochen, so gib ihm keine freche Antwort. Auf der Straße soll man dich nie hören, schreie nicht einem Vieh gleich, sondern sprich anständig! Beschäme keinen öffentlich, missbrauche deine Gewalt gegen niemand. [...] Nie unterlasse, dir Freunde zu erwerben! [...]
Strebe nicht nach dem eitlen Ruhm, Recht zu haben im Streite mit einem Weisen; du wirst nicht weiser davon. [...] Bohre nicht nach fremden Geheimnissen; verweigere nichts aus Eigensinn deinen Mitbürgern, ordne vielmehr ihrem Willen den deinigen unter. Mit schlechten Menschen, mit Jähzornigen, mit Narren lass dich nicht ein; du kaufst dabei nichts als Schande. [...] Bleibe jedem dankbar, der dir zu deinem Brote verholfen hat; sei aufrichtig und wahr gegen jedermann, gegen Juden wie gegen Nichtjuden; grüße jeden zuerst, ohne Unterschied des Glaubens; erzürne keinen Andersgläubigen.
Aus dem Testament Ascher Ben Jechiels (1250-1327), geboren im Rheinland und Rabbiner in Toledo.
Julius Höxter, Quellentexte zur jüdischen Geschichte und Literatur, hg. u. erg. von Michael Tilly, Wiesbaden 2009, S. 218 f.
Das Gemeindeleben erforderte zahlreiche Einrichtungen, die entweder ehrenamtlich oder durch besoldete Funktionsträger verwaltet wurden. So musste eine Synagoge ebenso zur Verfügung stehen wie die so genannte Mikwe, ein Bad für kultische Reinigungen, dazu eine Schlachterei und eine Bäckerei, Brunnen und Backöfen, die koscher waren, also die jüdischen Speisevorschriften beachteten. Erforderlich waren außerdem ein Hospital für die Armen sowie ein Haus für Gemeindeversammlungen und für Feiern. Besonders wichtig war ein eigener Friedhof, wo den Toten nach jüdischem Recht ein Begräbnisplatz für "ewige Zeiten" garantiert wurde. Gemeinden, die so einen Friedhof besaßen, hatten eine Vorrangstellung inne, Zu ihnen wurden die Verstorbenen teils aus weiten Entfernungen gebracht.
QuellentextEinrichtungen städtischen jüdischen Lebens
Das mittelalterliche Judentum ist ein städtisches Judentum. Sowohl in Spanien als auch am Rhein bewohnten Juden eigene Straßenzüge oder Stadtviertel, in denen durchaus auch nichtjüdische Bevölkerung anzutreffen war, während Juden auch außerhalb dieser Judenviertel inmitten nichtjüdischer Bevölkerung wohnten. Die Einrichtung abgeschlossener jüdischer Wohnbereiche ist, abgesehen von dem gescheiterten Versuch Bischof Rüdigers von Speyer im Jahr 1084, eine Erscheinung, die erst im Spätmittelalter aufkommt, in Spanien am Beginn des 15. Jahrhunderts, in Mitteleuropa zuerst 1462 in Frankfurt, dann wenige Jahre später in Worms. Ihre heute übliche Bezeichnung erhielten diese jüdischen Wohnstätten von dem 1516 den Juden Venedigs zugewiesenen Stadtviertel Ghetto. [...]
Zu den wichtigsten Einrichtungen in einer jüdischen Gemeinde gehören Synagoge, Ritualbad und Friedhof. Die Grundzüge der Synagogenarchitektur wurden bereits in der Zeit der griechisch-römischen Antike formuliert und angewandt. Wesentlich ist die Ausrichtung des Synagogenbaus auf Jerusalem, das heißt in Europa sind die Synagogen alle geostet. Wichtigste Bestandteile der Ausstattung sind der Aron haKodesch und das Bima. Der Aron haKodesch ist der Schrein zur Aufbewahrung der Torarollen, der vor der Ostwand oder in einer Nische der Ostwand aufgestellt oder eingebaut ist. [...] Das Bima ist das in der Mitte des Synagogenraums stehende Lesepult, von dem aus die Texte aus der Tora und den anderen Büchern der hebräischen Bibel vorgelesen werden. Das Wort Bima stammt aus dem Griechischen und bedeutet "Stufe". [...]
[D]ie erhaltenen monumentalen Mikwen [sind] ausschließlich dem Hohen Mittelalter zuzuordnen. Verbreiteter war wohl die Nutzung von Ritualbädern, die von einzelnen jüdischen Familien in den Kellern ihrer Häuser eingerichtet wurden und auch der Nachbarschaft zur Verfügung standen. Neben den Gemeindebauten ist auch das jüdische Haus als Wohnort der Familie ein Ort des Gebetes und religiöser Riten. [...] Zu erinnern sei hier etwa an die Sederzeremonie, mit der die Familie in Erinnerung an die Befreiung aus der Knechtschaft Ägyptens die Feier des Pessachfestes einleitet oder die Zeremonien am Anfang und Ende des Schabbat. Das Haus ist die Domäne der jüdischen Frau. Ihr obliegt die Ausübung bestimmter häuslicher Zeremonien, die Vorbereitung der Feste, die Beachtung der rituellen Reinheitsgebote bei der Zubereitung der Speisen und die Vermittlung derselben an ihre Töchter. [...]
Jüdische Friedhöfe sind ewige Orte der Erinnerung an die Verstorbenen und damit dem jüdischen Menschen als Bezugspunkt zu seinen persönlichen Wurzeln von großer Bedeutung. [...]
Synagoge, Ritualbad, Haus und Friedhof sind die örtlichen Bezugspunkte jüdischen Lebens. Ihr Vorhandensein schafft für den jüdischen Menschen das, was man Heimat nennt.
Werner Transier, Europas Juden im Mittelalter, in: Informationen für den Geschichts- und Gemeinschaftskundelehrer, Heft 68/2004, S.19 ff.
Vor 1350 gab es im Reich nur circa 30 Gemeinden mit derart umfassender Infrastruktur. Sie erstreckten sich im Osten bis nach Breslau, wo ein Grabstein von 1203 beweist, dass um 1200 dort schon eine Gemeinde mit Synagoge und Friedhof existiert haben muss, und im Norden bis nach Dortmund und Magdeburg. Im Süden reichten sie bis Basel und Villach, im Westen bis Brüssel und Mecheln. Das geografische Zentrum jüdischen Lebens im Reich bildete jedoch nach wie vor das Gebiet des Rheins und seiner Nebenflüsse, die wichtige Verkehrs- und Handelsstraßen waren.
Seit dem 13. Jahrhundert stieg die Zahl der jüdischen Niederlassungen im Reichsgebiet an, um Mitte des 14. Jahrhunderts einen Höchststand zu erreichen. Gefördert wurden die Ansiedlungen nun auch durch die Landesherren, die zur Stärkung ihrer Territorien vermehrt Städte gründeten und dazu die Juden als Kapitalgeber benötigten. Zum Anstieg der Niederlassungen trug wohl auch bei, dass die Juden 1290 aus England und 1306 aus den französischen Kronlanden vertrieben wurden. Hinter diesen Maßnahmen stand eine Vermischung religiöser und wirtschaftlicher Motive (Bereicherung, Entschuldung). Das Vertreibungsedikt des englischen Königs Edward I. begründet sie mit dem Verstoß der Juden gegen das Zinsverbot. Im Reichsgebiet waren Judenverfolgungen und -vertreibungen zu diesem Zeitpunkt noch relativ selten. Doch ließ sich aus den Vorgängen in den Nachbarländern schließen, dass der Erwerbszweig der Geldleihe für die Juden neben Chancen auch Risiken bot.
Die wirtschaftliche Bedeutung der Juden in den neu entstehenden Städten des ausgehenden 12. und des 13. Jahrhunderts, sei es als Händler, Geldleiher oder Verwalter von Münzstätten, dokumentiert sich in der marktnahen Lage des Judenviertels. So lag zum Beispiel das Judenviertel in Münster/Westfalen in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts hinter dem Rathaus, ebenso in Köln und Nürnberg, wogegen der Friedhof sich, anders als die christlichen Friedhöfe, die um die Kirche herum angelegt wurden, vor der Stadtmauer befand.
Bis zum Basler Konzil (1431-1449) gab es keine Verpflichtung zur Ghettobildung. Die Infrastruktur der jüdischen Gemeinde erforderte allerdings ein enges Zusammenwohnen, und so schlossen sich schon im 11. Jahrhundert die Juden häufig in eigenen Vierteln zusammen und umgaben sie vielfach mit einer Mauer, um ihre Waren und ihr Kapital zu schützen.
Verhältnis zur christlichen Obrigkeit
Im 13. und beginnenden 14. Jahrhundert besaßen die Juden in der städtischen Bürgerschaft eine "weitreichende rechtliche Gleichstellung" - so der Historiker Alfred Haverkamp -, auch wenn sie keine ausgesprochen hoheitlichen Ämter ausüben durften. Doch sind Juden auch als Leiter von Münzstätten oder Zolleinnehmer bezeugt.
Seit den ersten jüdischen Niederlassungen in Deutschland standen die Juden unter dem Schutz des Kaisers bzw. der Bischöfe. Die "Königsnähe" spielte im Hochmittelalter eine wichtige Rolle. Kaiser Friedrich Barbarossa (Reg.: 1152 - 1190) bezeichnete in mehreren Urkunden die Juden als "der kaiserlichen Kammer zugehörig", womit er an alte römische Vorstellungen anknüpfte. Sein Enkel, Kaiser Friedrich II. (Reg.: 1212 - 1250), bezeichnete sie als "servi camere nostre", als Kammerknechte, was unter anderem ihre Verpflichtung zur Steuerzahlung an den kaiserlichen Fiskus beschrieb. Diese Formulierung diente auch dazu, Ansprüche des mit dem Kaiser um die Vormachtstellung konkurrierenden Papstes abzuwenden.
Die Auseinandersetzungen zwischen Papsttum und Kaisertum beeinträchtigten jedoch im laufenden 13. Jahrhundert die kaiserliche Schutzgewalt. Bischöfe und weltliche Fürsten beanspruchten mit Erfolg das "Judenregal" (Regal = mittelalterliches königliches Hoheitsrecht) für sich und erließen in der Folgezeit eigene Judenverordnungen. Den Kaisern verblieb nur noch das Verfügungsrecht über die Juden in den Reichsstädten, wobei sie zunehmend von ihrem Steuerrecht gegenüber den Juden Gebrauch machten, während sie ihre Schutzverpflichtung immer mehr aufgaben. Schon 1241 wurden erste Steuerlisten für Juden angelegt, in den Reichsstädten brachten diese 13 Prozent der königlichen Einnahmen auf. In der Folgezeit wurden die Hebesätze immer stärker heraufgesetzt, so dass zum Beispiel in Rothenburg o. T. die Juden im 14. Jahrhundert achtmal mehr Steuern abführen mussten als die übrigen Bürger.
Ab 1342 musste zudem jeder Jude, egal ob Mann oder Frau, ab dem zwölften Lebensjahr jährlich den "goldenen Opferpfennig" zahlen. Dies betraf alle Juden, auch wenn sie inzwischen den Landesfürsten unterstellt waren. Die Juden gerieten so in eine "Schwammfunktion". Sie mussten durch möglichst hohe Zinsen hohe Einnahmen erzielen, die dann an den Fiskus des Kaisers bzw. des Landesherren wanderten. Beliebt machte sie das nicht. Mit kaiserlichem Schutz konnten sie dagegen kaum noch rechnen, eher mit dem der meist vom städtischen Patriziat dominierten Stadtobrigkeiten. Dies bedeutete neue Verpflichtungen, so einen Beitrag zu den Verteidigungsanlagen der Stadt, auch zum Wach- und so genannten Kriegsdienst, obgleich Juden nach dem Gesetz keine Waffen tragen durften. In den Städten bildete sich an der Wende vom 13. zum 14. Jahrhundert ein so genanntes Judenbürgerrecht heraus, das offiziell "verbrieft", also den Juden urkundlich zugesprochen wurde. Wenn diese auch von den offiziellen Versammlungen der Stadtbürger oder der Zünfte ausgeschlossen blieben, so durften sie doch an den allgemeinen Festen - außer den religiösen - teilnehmen. Trotz vieler positiver Entwicklungen mehrten sich jedoch im Laufe des 13. Jahrhunderts Anzeichen für eine Verschlechterung des Verhältnisses zwischen den Juden und den übrigen Stadtbürgern.
Christliche Judenfeindschaft
Diese Verschlechterung war auch eine Folgewirkung offizieller Verlautbarungen und Beschlüsse der Kirche. Papst Innozenz III. hatte bereits 1205 die "ewige Knechtschaft" der Juden erklärt, die sie den Christen sozial und rechtlich unterstellte. Auch die Beschlüsse der römischen Laterankonzile von 1179 und 1215 zielten darauf ab, die Lebensbedingungen der Juden zu verschärfen. So sollte ihnen der Zugang zu öffentlichen Ämtern verwehrt, und sie sollten durch ihre Kleidung als Juden erkennbar sein. Sie durften keine "unangemessen hohen Zinsen" verlangen und mussten sie den Kreuzfahrern erlassen. Diese Bestimmungen wurden in Deutschland jedoch lange Zeit nicht streng beachtet.
Daneben sorgten auch theologische Entwicklungen in der Kirche für eine wachsende Judenfeindschaft. Die drastischen Darstellungen des Gekreuzigten, die in der Gotik aufkamen, erinnerten die einfachen Menschen an die "Schuld" der Juden, die mit der Verurteilung Jesu sein Blut auf sich und ihre Kinder herabgerufen hätten (Mt. 27,25). Sie galten deshalb als die Mörder Christi. 1215 erhob das IV. Laterankonzil die so genannte Transsubstantiationslehre zum Dogma, also zu einem festen Glaubenssatz. Sie besagt, dass durch die Wandlung in der Messe Brot und Wein real in Christi Leib und Blut verwandelt werde.
In diesem Zusammenhang konnte der Vorwurf des so genannten Hostienfrevels Exzesse und Pogrome auslösen. Danach besorgten sich die Juden geweihte Hostien, um sie zu schänden. Die Juden würden - so der Vorwurf - durch fünf Nadelstiche in die geweihte Hostie - analog zu den fünf Wunden Christi - den Martertod Christi wiederholen. Möglicherweise diente hierbei den Christen ein jüdischer Brauch als Vorwand: In manchen jüdischen Gemeinden wurde zur Bestimmung des Eruv, des Bezirks, in dem sich ein Jude am Sabbat frei bewegen durfte, eine Mazza, ein ungesäuertes Brot, an die Wand der Synagoge genagelt.
QuellentextKonzilsbeschlüsse zum Umgang von Christen und Juden
Je mehr die Christenheit im Zinsnehmen beschränkt wird, desto stärker wächst die Treulosigkeit der Juden ihnen über den Kopf, so dass in kurzer Zeit das Vermögen der Christen erschöpft wird. Wir wollen also in diesem Stück für die Christen sorgen, damit sie nicht maßlos durch die Juden beschwert werden. Wir bestimmen demnach durch Synodaldekret, dass, wenn unter irgendeinem Vorwand die Juden von Christen unmäßige Zinsen erpressen, ihnen der Verkehr mit den Christen entzogen werde, bis sie ihnen wegen der unmäßigen Belastung eine angemessene Genugtuung gegeben haben. Auch die Christen sollen, wenn nötig, durch Kirchenstrafen, zunächst unter Ausschluss des Berufungsweges, angehalten werden, sich des Handels mit ihnen zu enthalten. Den Fürsten aber legen wir auf, dass sie deswegen den Christen nicht feind sein sollen, sondern sich vielmehr bemühen, die Juden von solcher Beschwerung der Christen abzuhalten. Mit derselben Strafe haben wir beschlossen, die Juden anzuhalten, dass sie den Kirchen Genugtuung bezüglich der schuldigen Zehnten und Opferpfennige geben, welche die Kirchen von den Christen für Häuser und andere Besitztümer zu bekommen pflegten, bevor Letztere an die Juden unter irgendeinem Rechtstitel gekommen sind, damit auf diese Weise die Kirchen schadlos gehalten werden.
In einigen Provinzen unterscheidet Juden oder Sarazenen von den Christen die Kleidung, aber in anderen ist eine solche Regellosigkeit eingerissen, dass sie durch keine Unterscheidung kenntlich sind. Es kommt daher manchmal vor, dass irrtümlich Christen mit jüdischen oder sarazenischen und Juden oder Sarazenen mit christlichen Frauen sich vermischen. Damit also den Ausschweifungen einer so abscheulichen Vermischung in Zukunft die Ausflucht des Irrtums abgeschnitten werde, bestimmen wir, dass Juden und Sarazenen beiderlei Geschlechts in jedem christlichen Land und zu jeder Zeit durch ihre Kleidung öffentlich sich von den anderen Leuten unterscheiden sollen [...]. An den letzten drei Tagen vor Ostern aber und am ersten Passionssonntag (Judica) sollen sie sich überhaupt nicht öffentlich zeigen und zwar deswegen, weil einige von ihnen [...] sich nicht scheuen, an solchen Tagen erst recht geschmückt einherzugehen und die Christen [...] zu verspotten. Dies aber verbieten wir aufs strengste, damit sie sich nicht herausnehmen, zur Schmach des Erlösers ihre Freude zu zeigen.
Beschlüsse des 4. Laterankonzils gegen die Juden
Julius Höxter, Quellentexte zur jüdischen Geschichte und Literatur, hg. u. erg. von Michael Tilly, Wiesbaden 2009, S. 260f.
Noch gravierender war die Anschuldigung des Ritualmordes. Sie unterstellte den Juden, Christen ermordet zu haben, um deren Blut für rituelle Zwecke zu nutzen. Dieser Vorwurf tauchte erstmals 1144 im englischen Norwich auf; in Deutschland dann verstärkt im 13. Jahrhundert. Nachdem 1234/35 im fränkischen Lauda und Tauberbischofsheim sowie in Fulda angeblich dergleichen Morde vorgekommen sein sollten, setzte Kaiser Friedrich II. 1236 eine Untersuchungskommission ein, welche die Juden von diesen Vorwürfen freisprach. Auch Papst Innozenz IV. (Amtszeit: 1243-1254) erließ 1247 auf Bitten der Juden eine Bulle, die diesen Irrglauben verurteilte. In seinem Schreiben an die deutschen Bischöfe legt er ihm vielmehr unter anderem wirtschaftliche Motive zugrunde: "[...] um ungerechterweise ihre Güter zu plündern und sich anzueignen". Auch setzte sich Papst Innozenz IV. 1246 in einer Urkunde zugunsten der Kölner Juden für den Schutz des jüdischen Kultus ein. Demnach durften den Juden die Synagogen nicht weggenommen, ihre Feste nicht gestört und ihre Friedhöfe nicht geschändet werden.
Mochte Papst Innozenz IV. in diesem Fall die Juden in Schutz nehmen, so war die generelle Politik der Päpste allerdings eher auf eine starke Eingrenzung des Judentums bedacht. So befahl der Vorgänger Papst Innozenz' IV. Gregor IX. (Amtszeit: 1227-41) 1239 in einem Brief an die Könige von Aragon, England, Frankreich, Kastilien und Portugal die Talmudtexte einzuziehen. Vorausgegangen war eine Denunziation des jüdischen Konvertiten Nikolaus Donin, der Talmud und die damit verbundene Legendensammlung Haggada enthielten Lästerungen Christi. Gegen die Herabsetzung der jüdischen Religion durch christliche Theologen sowie deren Missionierungsversuche wehrten sich jüdische Gelehrte mit polemischen Schriften wie dem Toldot Jeshu (Leben Jesu), einer Evangelienparodie, die nach dem Kreuzzugspogrom entstanden war.
Auf anderen Gebieten grenzte sich das Judentum jedoch keineswegs von seiner Umwelt ab. So hatten christliche Vorstellungen und Praktiken durchaus Einfluss auf die jüdische Religion bis in die Sprache hinein, wie im Sefer Chassidim, dem Buch der Frommen. Dass sich die Juden in ihre soziale und kulturelle Umwelt integrierten, beweist auch der jüdische Minnesänger Süßkind von Trimberg in der staufischen Epoche. Juden verpflichteten christliche Künstler zur Illustrierung ihrer Handschriften und christliche Handwerker zum Bau der Synagogen, die im 13. Jahrhundert zum Beispiel in Worms und Regensburg entstanden. Auch in ihrer Sprache grenzten sich die Juden zunächst nicht von den Christen ab. Erst im 14. Jahrhundert bildete sich im fränkisch-schwäbischen Raum eine spezifisch deutsch-jüdische Sprache heraus, die sich zum Jiddischen weiter entwickelte und auch von den Juden gesprochen wurde, die infolge der Pestpogrome nach Polen auswanderten. Unter dem Einfluss ihrer slawischen Nachbarn erhielt in Polen und Litauen das Ostjiddische eine eigene Prägung.
1242 kam es in Frankreich auf Befehl König Ludwigs des Heiligen, der unter dem Einfluss der judenfeindlichen Bettelmönche stand, zur Einziehung aller talmudischen Schriften, die nach einer Disputation zwischen christlichen und jüdischen Gelehrten öffentlich verbrannt wurden. Die Juden in Deutschland blieben vor dergleichen Autodafés verschont, obgleich auch hier Bettelmönche, Minoriten wie Dominikaner, gegen den Talmud polemisierten. Da die Bettelmönche ihre Seelsorge vor allem in den Städten betrieben, war ihr dortiger Einfluss groß. Auch in den Rechtsbüchern, die in Deutschland im 13. Jahrhundert entstanden, sind die judenfeindlichen Vorstellungen der Bettelmönche nachzuweisen, so im Schwabenspiegel von 1275, der auf einen Minoriten zurückgeht und die Trennungsbestimmungen zwischen Juden und Christen betont. Die von den Bettelmönchen geförderten Kulte des leidenden Christus wiesen den Juden eine negative Rolle im christlichen Heilsgeschehen zu. Die Synagoga, das Symbol für das Judentum, hatte nach Auffassung der christlichen Theologen ihre Heilsträgerschaft verloren. Die Erlösung, die Gott einst seinem auserwählten Volk verheißen hatte, war auf die Christen übergegangen. Dies wurde nun auch den einfachen, nicht lesekundigen Menschen durch die Bilddarstellungen der neu entstehenden Kathedralen vermittelt. Die Figur der Ecclesia, Symbol der christlichen Kirche, blickt siegreich in die Welt, wogegen der Figur der Synagoga die Augen verbunden sind und ihr Stab zerbrochen ist. Ihren Händen entgleiten die Gesetzestafeln.
Während es im Rhônetal bereits in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts anlässlich der Vorbereitung eines neuen Kreuzzuges zur Beschlagnahme jüdischen Besitzes und zu Zwangstaufen kam, sind für Deutschland in der Zeit von 1251 bis 1280 nur lokale Pogrome bezeugt. Trotz des Verbots Kaiser Friedrichs II., die Juden des Ritualmords zu bezichtigen, kam es 1267 in Pforzheim zu einem entsprechenden Prozess, in dessen Folge vermutlich alle Juden des Ortes ermordet wurden. 1270 ereignete sich ein ähnlicher Exzess in Weißenburg/Elsass.
Pogromwellen im Reichsgebiet
Im Reichsgebiet setzten die ersten regionsübergreifenden Pogrome seit 200 Jahren 1281 im Mittelrheingebiet ein. Auslöser war ein Ritualmordvorwurf im mittelrheinischen Oberwesel. Angeblich sollte hier ein Junge, Werner von Womrath, von einem Juden und seinen Glaubensgenossen gemartert worden sein. Dem Opfer wurde in christlichen Kreisen anschließend kultische Verehrung zuteil. Die Pogromwelle verlief den Mittelrhein hinauf bis zur Ruhr und erfasste circa 20 jüdische Gemeinden.
Den Pogromen im Reich an der Wende zum 14. Jahrhundert lagen vor allem wirtschaftliche Motive zugrunde: Sie ereigneten sich weitgehend in Weinbaugebieten (Rhein, Mosel, Main, Tauber), wo Missernten zu existenzgefährdenden Verschuldungen bei jüdischen Geldverleihern führen konnten. Mit ihrer physischen Vernichtung, die als gottgefällige Rache für die Untaten der Juden ausgegeben wurde, entledigte man sich gleichzeitig auch der Gläubiger.
Mit angeblichem Hostienfrevel, der die ökonomischen Motive verarmter Handwerker verdeckte, wurden auch die so genannten Rintfleisch-Pogrome begründet, die im Frühjahr 1298 in dem fränkischen Ort Röttingen ihren Ausgang nahmen und in fast allen Städten Frankens über 1500 jüdische Opfer forderten; darunter allein in Nürnberg 628 und in Würzburg 900 Ermordete. Die Pogrome reichten bis nach Schwaben, Hessen und in die Oberpfalz. Beteiligt waren daran ländliche und städtische Unter- und Mittelschichten, aber auch Adlige, wenngleich der Anführer Rintfleisch, ein Metzger aus Röttingen, nicht - wie häufig angegeben - zu deren Gruppe zählte. Erst der neugewählte König Albrecht von Habsburg machte im Herbst des Jahres mit seinen Truppen dem Schrecken ein Ende, wobei er allerdings nicht vergaß, die Hinterlassenschaft seiner ermordeten "Kammerknechte" für sich zu reklamieren.
Unter der antijüdischen Stimmung des ausgehenden 13. Jahrhunderts litt vor allem das blühende geistige Leben der jüdischen Gemeinden. Vom Mittelrhein aus, wo im 11. und 12. Jahrhundert die bedeutendsten Schulen existierten, hatte es sich inzwischen stärker nach Osten verlagert. In Regensburg, Würzburg und Wien gab es vielbesuchte jüdische Lehrhäuser. Der bedeutendste Rabbiner der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts war Meir ben Baruch in Rothenburg (um 1215 - 1293), der, wie seine mehr als 1000 geistlichen Auskünfte (die so genannten Responsen) beweisen, von allen jüdischen Gemeinden im Reich als Autorität anerkannt wurde. Sein Schicksal dokumentiert aufschlussreich die kritische Situation der Juden im Deutschland und Westeuropa des ausgehenden 13. Jahrhunderts: Meir beschloss Mitte der 1280er Jahre Europa zu verlassen und nach Palästina auszuwandern. Doch zuvor hatte der Kaiser ein Auswanderungsverbot für Juden erlassen. Meir wurde ergriffen und eingekerkert. Da er seiner Gemeinde verbot, für seine Freilassung ein hohes Lösegeld zu zahlen, musste er bis zu seinem Tod 1293 in Kerkerhaft bleiben. Erst 1307 wurde sein Leichnam gegen eine hohe Geldzahlung freigegeben und konnte auf dem Wormser Judenfriedhof beigesetzt werden.
1336 kam es zu einer erneuten Pogromwelle, die ihren Ausgang wiederum in Franken nahm und bis ins Elsass 65 jüdische Gemeinden traf. Dass sich diesmal - so in Kitzingen und Würzburg - die städtischen Oberschichten dem so genannten König Armleder und seinen Horden entgegenstellten, ist wohl dem Umstand zu verdanken, dass die Oberschichten ihre eigene Herrschaft gefährdet sahen. Denn König Armleder, der Desperado Arnold von Uissigheim, ein verarmter fränkischer Adliger, destabilisierte mit seinen Anhängern, in der Mehrzahl aufrührerischen Bauern, das gewohnte gesellschaftliche Kräfteverhältnis. Auch dieses Pogrom berief sich auf einen angeblichen Hostienfrevel und ereignete sich in den Weinanbaugebieten. Der Würzburger Bischof Otto von Wolfskehl ließ Arnold von Uissigheim in Kitzingen hinrichten. Sein Grabstein zeigt das Schwert an seiner Kehle. Die ehrlose Art seines Todes hinderte die Bewohner von Uissigheim jedoch nicht, dem Hingerichteten in der Kirche ein Hochgrab zu errichten und ihn als "beatus Arnoldus", als seligen Arnoldus zu verehren. Die Schwertspitze an seinem Hals verlieh ihm die Gloriole eines Märtyrers.
Die Pogrome des ausgehenden 13. und beginnenden 14. Jahrhunderts gipfelten in den so genannten Pestpogromen von 1348 bis 1350, die ganz West- und Mitteleuropa erfassten und zwei Drittel der jüdischen Gemeinden und ihre Bewohner vernichteten.
Die Pestpogrome
Seit der Antike war Europa von der Pest verschont geblieben. 1348 wurden die Menschen daher mit einer Seuche konfrontiert, für die sie keine Erklärung hatten. Von der Hafenstadt Marseille aus hatte sie um die Jahreswende 1347/48 die Provence und Katalonien befallen, wo sich von der Karwoche 1348 an bis in den Juni die ersten Pogrome ereigneten. Die Seuche breitete sich schnell nach Norden aus. Parallel dazu setzte sich im Herbst 1348 die Welle der Ausschreitungen gegen die Juden über Burgund fort. Hier gelang es den Territorialgewalten allerdings noch, durch Prozesse und Ausweisungen der Juden die Verfolgungen einzudämmen. In einer weiteren Welle erreichten diese von November 1348 bis März 1349 über Savoyen, die Schweiz und das Elsass Deutschland, wo es in Schwaben, aber auch in Thüringen und Sachsen sowie im Rheingebiet zu Ausschreitungen kam. Neu und typisch für diese Pogrome war das Zusammengehen breiter, gewaltbereiter Bevölkerungskreise mit den weltlichen Territorial- oder Stadtherrschaften, die die Juden vor Gericht zu erpressen und sich ihrer anschließend zu entledigen versuchten. So wurden die meisten thüringischen Judenschaften auf Veranlassung des Markgrafen von Meißen im Februar 1349 verfolgt und vernichtet. Nach einem vorübergehenden Abflauen gingen die Verfolgungen von Juni bis Dezember 1349 an Rhein und Mosel, in den Niederlanden, Lothringen und Franken weiter.
Für die Morde führen die zeitgenössischen Quellen unterschiedliche Motive an. Im Zentrum stand der Vorwurf der Brunnenvergiftung als Auslöser der Seuche. Religiöse Motive, so der Vorwurf der Schuld der Juden am Tod Jesu, wurden den Ausschreitungen während der Karwoche zugeschrieben, während die Beteiligung der Stadtherrschaften an den Pogromen vielfach mit Herrschaftssicherung und materiellem Gewinnstreben begründet wird. Auch auf der Ebene der Reichspolitik fand sich ein Motiv. In der Auseinandersetzung zwischen König Karl IV. (Reg.: 1347-1378) und seinem Konkurrenten Günther von Schwarzburg, die bis zum April 1349 dauerte, versuchten beide Seiten sich Parteigänger zu verschaffen, indem sie Anhänger mit Gütern der verfolgten Juden bedachten. Die Quellenzeugnisse dokumentieren trotz der Angst vor der Seuche eine immense Gier nach materiellen Gütern, die sich vor allem auf den Besitz der wohlhabenden Juden richtete, denn die Mehrheit von ihnen lebte relativ bescheiden. Die Stadtobrigkeiten gingen dabei sehr durchdacht vor. Auf der einen Seite sorgten sie dafür, dass die "sammelinge", die Pöbelexzesse, ihre Herrschaft nicht gefährdeten, um auf der anderen Seite aber von der Einziehung der Güter zu profitieren. In zahlreichen Städten wie in Basel, Straßburg, Schlettstadt und Konstanz kam es bereits zu Exzessen, bevor die Pest auftrat, in Nürnberg sogar unabhängig von ihr. Hier hatte Karl IV. die städtische Obrigkeit ausdrücklich zu Übergriffen ermächtigt. Nachdenkliche Chronisten wie der Mindener Dominikaner Heinrich von Herford hielten die Behauptung, die Juden hätten "überall auf Erden" verbrecherisch und bösartig die Brunnen vergiftet, daher eher für unglaubwürdig. Als eigentliches Motiv sieht er die Gier nach dem Besitz der Juden und vergleicht ihre Vernichtung mit der der Templer, die 1291 in Frankreich der Ketzerei beschuldigt und vielfach hingerichtet worden waren, wonach ihr Besitz an die französische Krone fiel. Auch Papst Klemens VI. (Amtszeit: 1342-1352) wandte sich von seinen Amtssitz Avignon aus gegen den Vorwurf der Brunnenvergiftung und des Ritualmords und verwies sie ins Reich der Legende.
An die 300 Gemeinden im Reich wurden während der Pestpogrome vernichtet, lediglich 58 Orte blieben verschont. Diese lagen nicht im Zentrum, sondern an der Peripherie des Reichs, so in Böhmen, Mähren und Österreich. Viele der Überlebenden wanderten nach Norditalien oder nach Polen aus. Die Pestpogrome bedeuteten eine wichtige Zäsur in der Geschichte der Juden in Deutschland, sie waren - wie Alfred Haverkamp zu Recht feststellt - der "tiefgreifendste Einschnitt in der Geschichte des deutschen Judentums von den Anfängen der Ansiedlung bis zur nationalsozialistischen "Endlösung"."
QuellentextEuropäische Vergleiche
Aber nicht nur im deutschen Reichsgebiet wurden die Juden Opfer eines christlichen Verfolgungswahns. 1290 wurden sie aus England vertrieben, bereits 1289 aus den französischen Grafschaften Maine und Anjou. In Süditalien, dem Königreich Neapel, wurden unter maßgeblicher Beteiligung der Dominikaner nach 1290 mehrere Pogrome verübt, bevor die Juden ganz vertrieben wurden bzw. zum Christentum konvertieren mussten. In Folge dessen kam es hier zu einer der größten Massenkonversionen in der jüdischen Geschichte. Im päpstlichen Kirchenstaat Mittelitaliens durften sie jedoch als Juden leben.
Eine Ausnahme im Hinblick auf die sich in den europäischen Staaten verdichtende Judenfeindschaft bilden im 12. und 13. Jahrhundert die christlichen Königreiche auf der iberischen Halbinsel. Infolge der Reconquista, des Kampfes der christlichen spanischen Königreiche gegen die islamischen Reiche in Andalusien und Granada, waren im 12. Jahrhundert die fanatischen muslimischen Almoraviden von Nordafrika nach Spanien gekommen, wo sie - wie in Nordafrika - die Juden unterdrückten. Nach der Rückeroberung Toledos durch den kastilischen König Alfons VI. 1085 waren sie von den spanischen Muslimen zu Hilfe gerufen worden. Die Almoraviden brachten daraufhin die Herrschaft in Al-Andalus an sich. Vor ihnen flohen zahlreiche Juden in die christlichen Königreiche, wo sie willkommen waren und bald im Wirtschafts- und Kulturleben eine bedeutende Rolle spielten. Da sie mit der arabischen Kultur vertraut waren, erhielten sie in den wiedergewonnenen Städten Werkstätten, Gelder und Gärten zugeteilt, auf denen sie die hoch stehende arabische Agrarkultur fortführten. In den Städten errichteten sie befestigte Judenviertel. Als Ärzte, Kapitalvermittler und Verwaltungsleute gelangten sie an den Fürsten- und Königshöfen in leitende Positionen. Die starke soziale Differenzierung in den spanischen Gemeinden führte jedoch auch zu internen sozialen Spannungen. Die Führung der Gemeinden durch die aristokratischen Familien wurde von den Mittel- und Unterschichten in Frage gestellt. Dies führte 1386 zur Einführung eines gewählten Rates der Dreißig, der die Kassen und jüdischen Gerichtshöfe überwachte. Ihm zur Seite standen drei Treuhänder, die aus der Ober-, der Mittel- und Unterschicht kamen. Ein reges geistiges Leben, sowohl was Mystik, Rationalismus und die Kabbala betraf, entstand in den Gemeinden, verbunden mit dem Respekt vor der christlichen Kultur. Im ausgehenden 14. Jahrhundert verstärkte sich jedoch der Druck von christlicher Seite. Die Kirche verlangte die Einführung von Unterscheidungskennzeichen, und die jüdischen Gerichte verloren ihre Selbstständigkeit. Christliche Hetzprediger stachelten zu Pogromen auf, was 1391 - zum ersten Mal im christlichen Spanien - zu einem Pogrom führte. Auch hier standen die Juden vor der Entscheidung Tod oder Taufe, so dass circa 20000 Juden die Taufe wählten. Die so genannten Neuchristen aber wurden nur sehr bedingt in die christliche Mehrheitsgesellschaft integriert.
Arno Herzig