Einleitung
Die japanische Gesellschaft wird von ihren Mitgliedern als sehr homogen empfunden. Mehr als 95 Prozent der japanischen Kinder gehen bis zum Alter von 17 oder 18 Jahren in die Schule - diese gemeinsame Erfahrung ist ein tatsächlich harmonisierender Faktor. In Japan leben nur ein bis zwei Prozent Ausländer, die keine japanische Schule besucht haben. Die Familie und die Schulklasse sind die ersten und wichtigsten Gruppen, in denen Kinder sich als Mitglieder der japanischen Gesellschaft erfahren. Für die Erwachsenen besteht die wichtigste Bezugsgruppe meist am Arbeitsplatz. Auf die individuelle Persönlichkeit wird weniger Wert gelegt als auf die zwischenmenschlichen Beziehungen. Für jede Beziehung - zu den Eltern, den Geschwistern, den Lehrkräften sowie den Mitschülern und Mitschülerinnen - gibt es jeweils feste Umgangsformen. Diese sollen den täglichen Umgang mit anderen erleichtern und bieten für die meisten Situationen eine vorgegebene Haltung, ein "Gesicht", an.
"Gesichtsverlust" würde vor diesem Hintergrund bedeuten, daß ein unerwartetes Verhalten eines Gesprächspartners eine spontane, persönliche Reaktion erfordert. Darin wird die Gefahr gesehen, daß Gefühle und Schwächen preisgegeben werden und die Begegnung keinen zufriedenstellenden Abschluß findet.
Die Zugehörigkeit zu einer Gruppe entscheidet über stabile Lebensumstände und Zukunftsaussichten, aber diese Mitgliedschaft muß erst erworben werden. Nur in der Familie wird selbstverständlich Geborgenheit gegeben, während die Kinder die Umgangsformen noch lernen. Jede Lern- und Arbeitsgruppe erwartet, daß sich ihre Mitglieder ihrer Stellung in der Gruppe gemäß verhalten und sich mit Mühe und Ausdauer für die gemeinsamen Ziele einsetzen. Gerade Gruppen, die ihren Mitgliedern ein besonders nützliches Unterstützungsnetzwerk bieten, haben oft auch sehr harte und willkürliche Kriterien, um andere auszugrenzen. Es ist nicht leicht, in eine erfolgsorientierte Gruppe aufzusteigen, um eine gute berufliche Position zu erreichen. Dies kann beispielsweise über die Schullaufbahn gelingen. Die Führungspositionen in Politik und Wirtschaft erreicht nur, wer durch jahrelanges, diszipliniertes Lernen die äußerst schwere Aufnahmeprüfung in eine Eliteuniversität besteht und dabei noch besondere Gewandtheit in der Pflege von sozialen Beziehungen zeigt.
Die im folgenden dargestellten Strukturen der japanischen Familie und des Bildungssystems sind heute noch fast allgemeingültige Modelle. Es gibt Abweichungen und Variationen, aber kaum gleichwertige, alternative Lebensentwürfe. Doch die Dynamik der modernen Industriegesellschaft wird auch in Japan in Zukunft soziale Veränderungen bewirken, welche die bisher gebotene Sicherheit des vorgezeichneten Lebenswegs gefährden und individuelle Entscheidungen notwendig machen.
Familie
Auch nach Abschaffung der Großfamilien, die das traditionelle Japan bestimmten, bleiben die Familien der soziale, materielle und psychische Rückhalt der Menschen. (© Japan Foto-Archiv)
Auch nach Abschaffung der Großfamilien, die das traditionelle Japan bestimmten, bleiben die Familien der soziale, materielle und psychische Rückhalt der Menschen. (© Japan Foto-Archiv)
In Japan wurden erst nach dem Zweiten Weltkrieg die Gesetze über die Institution der patriarchalen Großfamilie abgeschafft. In der Zeit des wirtschaftlichen Aufbaus bildeten die Familien aber weiterhin einen wichtigen sozialen und materiellen Rückhalt, der fehlende staatliche Fürsorge abfedern half. Etwa 1955 hatte sich das heute noch geltende Modell der Familie mit fünf Personen herausgebildet, zu der außer dem Elternpaar Kinder, Großeltern oder andere Verwandte gehören. Statistisch sind in den letzten Jahrzehnten neben den üblichen Fünfpersonenfamilien immer mehr Kleinfamilien mit einem Kind und Einpersonenhaushalte hinzugekommen.
Die Lebensphasen Schulbildung bis zum 18. Lebensjahr, Arbeitsaufnahme, Heirat und Elternschaft zu durchlaufen, ist für die japanischen Jugendlichen weiterhin eine selbstverständliche Perspektive. Es ist heute üblich, daß sich die jungen Leute ihre Ehepartner für eine "Liebesheirat" selbst aussuchen, statt die Dienste eines Heiratsvermittlers in Anspruch zu nehmen. Dennoch wird kaum eine Ehe ohne die Zustimmung der beiderseitigen Eltern geschlossen, denn die Schwiegertochter oder der Schwiegersohn und vor allem die zu erwartenden Enkelkinder werden dadurch in eine der wichtigsten Gruppen ihres Lebens, die Familie, aufgenommen.
Im durchschnittlichen Lebenslauf japanischer Frauen und Männer hat sich im Vergleich zum Jahr 1920 vor allem das für eine Lebensphase typische Eintrittsalter verändert. Das durchschnittliche Heiratsalter sowie das Alter der Eltern sind im Steigen begriffen. Immer mehr Familien wollen überhaupt nur noch ein Kind haben. Das hängt mit den hohen Kosten für den Unterhalt und die Ausbildung eines Kindes zusammen. Daher arbeiten viele verheiratete Paare einige Jahre länger, bis sie eine gewisse finanzielle Grundlage erwirtschaftet haben, bevor sie ihr erstes Kind bekommen. Die jüngeren Japaner und vor allem die Japanerinnen haben heute auch höhere Ansprüche hinsichtlich der Lebensgestaltung. Viele Frauen würden gern eine qualifizierte Berufstätigkeit ausüben, wenn sie eine entsprechende Stelle finden und die Betreuung der Kinder damit vereinbaren könnten. Doch diese Möglichkeit besteht selten. Obwohl mehr als 50 Prozent der verheirateten Frauen arbeiten müssen, um das Haushaltseinkommen zu ergänzen, belegen sie meistens Teilzeitstellen und bleiben trotzdem für die ganze Hauswirtschaft und die Kindererziehung verantwortlich.
Unterschiedliche Aufgabenbereiche
Die Vorstellungen über die Aufgabenteilung zwischen den Geschlechtern verändern sich nur langsam, denn sie sind eine wichtige Quelle von persönlicher Identität. Die Arbeitsverhältnisse sind außerdem so gestaltet, daß sich die Lebensbereiche von Männern und Frauen kaum überschneiden. Die meisten Japaner und hier vor allem die jüngeren bedauern allerdings die Trennung von Arbeit und Familie. Die Männer würden sehr gerne mehr Zeit mit ihren Familien verbringen, und die Frauen wünschen sich mehr Austausch mit ihren Ehemännern und einen größeren Anteil am öffentlichen Leben. Ehepaare gehen selten gemeinsam aus. Die Kinder leben in der Welt der Frauen, in der die Mütter es sich zur Aufgabe machen, einerseits mit den Schulkindern zu lernen und andererseits sie zu bekochen und zu verwöhnen. In den Haushalten leben oft auch Großeltern, die aber im Gegensatz zu früheren Zeiten mit dem Elternpaar gleichberechtigt sind und nicht wie in den Großfamilien die Vormundschaft über sie behalten. 1955 lebten 86 Prozent aller Menschen über 65 bei ihren Kindern, 1990 waren es noch 60 Prozent.
In der Familie lernen die Kinder wichtige Haltungen und Regeln, die sie für die Teilnahme an der japanischen Gesellschaft brauchen. Kleine Kinder leben sehr eng mit der Mutter zusammen und japanische Mütter legen auch schlafende Kinder nicht allein ins Bett. Die Kleinen nehmen durch viel Geduld und ständige Wiederholung alltägliche Abläufe auf. Die Mütter erklären nicht, sondern üben mit den Kindern bestimmte Verhaltensregeln ein: wie man zu wem spricht, daß man die Schuhe vor Betreten des Wohnraums auszieht, oder wie man einen Gefühlsausbruch reguliert. Die Mütter richten ihren Erziehungsstil nach den Nachbarsfamilien und orientieren sich an Expertenmeinungen aus Büchern und Zeitschriften. Wenn die Kinder in die Schule kommen, sollen sie sich nicht wegen ihres Elternhauses von anderen unterscheiden.
Die Schullaufbahn der Kinder ist heute die zentrale Aufgabe der Familien. Sie wenden im Vergleich zu Deutschland nicht nur viel Zeit, sondern auch sehr viel Geld für die Erziehung der Kinder auf. Nur über die Schule und eine gute Universität haben die Kinder die Chance eines gesellschaftlichen Aufstiegs. Im besten Fall kann ein Sohn in ein großes Unternehmen eintreten, das auch seiner Familie die Versorgung sichert. Töchter sollen ebenfalls eine möglichst gute Ausbildung bekommen, denn sie können dann entsprechend heiraten und den eigenen Kindern einen gewissen Bildungsvorsprung mitgeben. Dankbarkeit gegenüber den Eltern für ihren oft aufopferungsvollen Einsatz und die Hoffnung auf ein besseres Leben sind die wesentlichen Motive für den Lerneifer vieler japanischer Schülerinnen und Schüler.
Bildung
Zwischen den Prinzipien japanischer Pädagogik einerseits und dem harten Selektionsdruck durch die immer schwereren Prüfungen andererseits besteht ein deutlicher Gegensatz. Die Neugier und Lernfreude der Kinder soll von der Schule ebenso gefördert werden wie ihre körperliche Gesundheit und ihre kameradschaftliche Beteiligung an gemeinsamen Projekten und Spielen. Sie sollen außerdem Selbstdisziplin, Geduld und Fleiß erwerben, denn nur mit diesen Fähigkeiten - und nicht etwa durch eine individuelle Begabung - können sie nach japanischer Ansicht all das lernen, was für den beruflichen Erfolg in einem modernen Staat benötigt wird. Die japanischen Kinder erwerben auf diese Weise umfassende kulturelle und naturwissenschaftliche Kenntnisse. Japanische Schülerinnen und Schüler schneiden in internationalen Mathematikwettbewerben immer besser ab als ihre europäischen und US-amerikanischen Altersgenossen, sie haben Spaß an Textaufgaben, und die Noten der Mädchen sind auch in den Naturwissenschaften so gut wie die der Jungen.
Junge Leute verbringen einen erheblichenTeil ihrer Freizeit in Spielsalons. (© Japan Foto-Archiv)
Junge Leute verbringen einen erheblichenTeil ihrer Freizeit in Spielsalons. (© Japan Foto-Archiv)
Bis zur Mittelschule steigt jedoch der Druck der Auslese erheblich an, denn der Übergang in die Oberschule steht bevor. Für fast alle vierzehnjährigen Schülerinnen und Schüler bedeutet das Bestehen der Aufnahmeprüfung für eine Oberschule den entscheidenden Schritt, der die Gestalt ihres Lebens für immer festlegt. Da die Schulnoten als Rangordnung innerhalb der Klasse vergeben werden, weiß jeder, wo er im Vergleich zu den anderen steht. Die Klassenverbände zerbrechen in kleinere, gegeneinander konkurrierende Gruppen. Das tägliche Lernpensum beginnt, die Kräfte der Kinder zu überfordern. Sie können sich mit keinen Interessen und Projekten mehr beschäftigen, die nicht direkt als Prüfungsvorbereitung dienen. Gerade diejenigen, die Aussichten haben, an eine Elite-Oberschule und dann eine Elite-Universität zu kommen, müssen dafür auf Kreativität und eigenständiges Denken verzichten und reines Faktenwissen ansammeln.
Die Rangordnung der Universitäten ist ein Maßstab der japanischen Gesellschaftsordnung. An der Spitze ist die Universität Tokyo: Ihren Absolventen ist ein Arbeitsplatz als Regierungsbeamter oder in einem angesehenen Großunternehmen fast sicher. Durch den Besuch dieser Universität wird man Teil eines Jahrgangs, dessen Mitglieder sich ihre Verbundenheit auch später bewahren, wenn sie in Politik und Wirtschaft tätig sind. Ebenfalls sehr hoch angesehen sind andere staatliche Universitäten, etwa in Kyoto und Sendai, sowie einige Privatuniversitäten in Tokyo. Für diese Einrichtungen gibt es die härtesten Aufnahmeprüfungen, und daher auch schon für diejenigen Oberschulen, die wiederum besonders erfolgreich auf diese Prüfungen vorbereiten.
Pflichtschule
Viele Menschen in Japan betrachten die Kindheit und nicht die von Zukunftssorgen belastete Jugend als die schönste Zeit des Lebens. Auch in den ersten Schuljahren sind die meisten japanischen Kinder glücklich und geborgen. Im Kindergarten kommen die Kinder zum ersten Mal in großen Gruppen Gleichberechtigter unter der Leitung einer Lehrerin zusammen, die, anders als die Mutter, als Autorität auftritt. Sie sorgt für die Aufstellung eines regelmäßigen Tagesablaufs und stellt Aufgaben, doch sie läßt die Kinder selbst nach Lösungen suchen, und sie müssen ihre Angelegenheiten untereinander selbst regeln. Durch das gemeinsame Überwinden von Schwierigkeiten soll man besser lernen können als nur durch Unterweisung. Nur in Ausnahmefällen wird im Kindergarten schon Schulstoff angeboten. Wichtiger ist das, was die Kinder und ihre Familien über Verhalten, Gruppenaktivitäten, Ernährung usw. durch den Kindergartenalltag mitbekommen. Etwa 90 Prozent der Kinder haben bei ihrem Schuleintritt mit sechs Jahren mindestens ein Jahr Kindergarten erlebt.
In den sechs Jahren Grundschule lernen die Kinder weiterhin vieles durch eigene Aktivitäten und Experimente. Sie verbessern hier aber auch die Technik des Auswendiglernens durch Wiederholungen und Probeprüfungen. Die im Kindergarten begonnenen Disziplinübungen werden ebenfalls fortgesetzt. Die Schüler müssen pünktlich, ordentlich und respektvoll gegen die Lehrer sein, Verantwortung für gemeinsame Projekte übernehmen und die Schule selbst jede Woche putzen. Ein Schwerpunkt der Bildung in der Grundschule sind außerdem Kenntnisse der japanischen Kultur und Heimatkunde. Diese werden nicht nur durch Bücher vermittelt, sondern auch durch häufige Klassenausflüge in die Umgebung oder durch Gastvorträge etwa von Kunsthandwerkern oder Feuerwehrleuten.
Die Pflichtschulzeit umfaßt die Grundschule und drei Jahre Mittelschule. Man lernt nach landesweit geltenden Lehrplänen aus Lehrbüchern, die vom Kultusministerium überprüft - man könnte auch sagen, zensiert - werden. Wegen des steigenden Selektionsdrucks kommt es nun im ersten Teenageralter am häufigsten zu Problemen unter den Schülern und Schülerinnen. Die Cliquen innerhalb der Klassen werden nun wichtiger als der gesamte Klassenverband. Die Jugendlichen werden sich ihrer Individualität stärker bewußt, aber gleichzeitig bemühen sie sich sehr, in eine Gruppe aufgenommen zu werden. Fast jeder macht einmal die Erfahrung, von den Gruppenmitgliedern gehänselt zu werden. Manche übernehmen dauerhaft die Rolle des Außenseiters und werden von den anderen geächtet, andere verweigern den Schulbesuch oder bilden aggressive Banden. Doch die meisten lernen, sich bei Überforderung nach innen zurückzuziehen, in eine ausgleichende Welt der Bücher, Comics oder Videospiele.
Zunehmender Leistungsdruck
Nachdem die Aufnahmeprüfung einer Oberschule bestanden ist, steht für etwa ein Drittel der Jugendlichen die Berufslaufbahn schon fest. Sie beschäftigen sich an Fachoberschulen mit ihrer Berufsvorbereitung oder sie verbringen hier die Zeit, bis sie achtzehn werden. Die sozialen Konflikte an den Mittelschulen sind dadurch an den Oberschulen weitgehend entschärft. Manchmal gibt es noch Auseinandersetzungen mit den Lehrern oder es bilden sich Jugendbanden. Für die meisten jedoch beginnt an der Oberschule eine weitere entbehrungsreiche Zeit des Lernens, denn sie müssen sich nun intensiv auf die Aufnahmeprüfungen der Universitäten vorbereiten.
Nachmittags nach der Schule und an den Wochenenden besuchen viele außerdem private Nachhilfeschulen. Es geht ihnen dabei nicht nur um den individuelleren Nachhilfeunterricht und die Prüfungsvorbereitung. Sie erhalten dort auch die seltene Gelegenheit zum Umgang mit Freunden und Freundinnen außerhalb der eigenen Schulklasse. Andererseits unterliegen auch die Privatschulen einer Rangordnung entsprechend dem Status der Oberschulen und Hochschulen, auf die sie vorbereiten. Einige bekommen sogar von diesen Schulen ihre Lehrmaterialien. Entsprechend dieser Rangordnung sind auch die Gebühren der Nachhilfeschulen gestaffelt, so daß Kinder reicher Eltern über eine erfolgversprechende Privatschule einen Vorteil bei den Universitäts-Aufnahmeprüfungen erlangen.
Nur etwa fünf Prozent der Oberschulabsolventen eines Jahrgangs bestehen die Aufnahmeprüfung an der besten Universität, die sie anstreben, 15 Prozent bestehen die Prüfung einer zweijährigen Kurzzeithochschule. Weiteren zehn Prozent gelingt es - nach einem Jahr in einer privaten Nachhilfeschule - beim zweiten Versuch, eventuell auf einer Hochschule mit etwas geringeren Anforderungen aufgenommen zu werden. Das bedeutet, daß etwa ein Viertel eines Jahrgangs den angestrebten Hochschulstudienplatz nicht erreicht.
An den Universitäten findet sich die erste und vielleicht letzte Gelegenheit für die Studentinnen und Studenten, das Leben zu genießen. Hier werden in Sportclubs und Seminaren persönliche Kontakte geknüpft, aus denen Beziehungsnetzwerke für das gesamte Berufsleben hervorgehen. Nach dem vierjährigen Grundstudium finden die meisten Universitätsabsolventen einen Arbeitsplatz. Nur wenige setzen das Studium bis zum Diplom fort. Zumindest die großen Unternehmen sind bereit und in der Lage, den Absolventen erst nach ihrer Anstellung die berufliche Qualifikation für ihre spätere Tätigkeit zu vermitteln. Allerdings ist in den letzten Jahren die fast automatische Übernahme in einen großen Betrieb wegen Veränderungen in der Konjunktur und in der betrieblichen Arbeitsweise nicht mehr garantiert. Deshalb kommt es zunehmend vor, daß Absolventen, vor allem Frauen, ihre während der gesamten Schulzeit gehegten Erwartungen auf eine sichere Arbeitsstelle enttäuscht sehen.
Reformideen der staatlichen Politik für das japanische Schulsystem zielen vor allem auf die veränderten Anforderungen der Wirtschaft. Das Ministerium für Erziehung, Wissenschaft und Kultur sieht die Notwendigkeit, "größere Freiheit in das Schulsystem des Landes einzuführen, und sei es nur, um dem Interesse der Wirtschaft an mehr kreativen Individuen entgegenzukommen, die der Nation helfen werden, bei Software, Computerwissenschaften und anderen wissensintensiven Industrien wettbewerbsfähig zu werden." Mit dieser Absicht werden Änderungen des Lehrplans angestrebt, die aber nur durch eine veränderte Prüfungsordnung für die Aufnahme an Universitäten durchzusetzen sind. Weiter wird eine Stärkung der beruflichen Bildung angestrebt, um Alternativen zur akademischen Laufbahn attraktiv zu machen.
Einstellung zur Arbeit
In hierarchisch geordneten Großraumbüros wird fast täglich bis zu 12 Stunden gearbeitet. (© Japan aktuell - Jungkwan Chi)
In hierarchisch geordneten Großraumbüros wird fast täglich bis zu 12 Stunden gearbeitet. (© Japan aktuell - Jungkwan Chi)
Das Bild des arbeitswütigen Japaners ist eines der hartnäckigsten Japanklischees. Der scheinbar uneigennützige, grenzenlose Einsatz der japanischen Arbeitnehmer wird stets als einer der Erfolgsfaktoren Japans, aber auch als ein Beispiel für die Unverständlichkeit der Japaner genannt. Das Geheimnis läßt sich weitgehend auf rationale Weise entmystifizieren, wobei die Grundhaltung der japanischen Arbeitnehmer, die ihre jeweilige Aufgabe prinzipiell ernst nehmen und sie mit Stolz und Sorgfalt ausführen, unbestritten ist.
Wie aus der Darstellung des Bildungswesens deutlich wird, werden schon japanische Kinder von klein auf dazu erzogen, sich in erster Linie als Mitglied einer Gruppe zu sehen statt als Individuum, das sich zudem den Interessen der Gruppe prinzipiell unterzuordnen hat. Diese Einstellung gilt auch in der Firma, die großen Einfluß auf den sozialen Status hat: Die kaisha (Firma) ist die übergeordnete Gruppe, der gegenüber man sich loyal verhält und die einen im Gegenzug rundum versorgt und auch in Krisenzeiten nicht fallen läßt. Daneben übt die Abteilung mitunter großen Druck aus, um einzelne Kollegen daran zu hindern, auszuscheren und sich egoistisch zu verhalten. Aus diesem Grund verläßt man beispielsweise den Arbeitsplatz in der Regel nicht, bevor der Chef geht und nimmt keinen langen Urlaub, durch den man den Kollegen Mehrarbeit aufbürden würde. So erklären sich die langen Arbeitszeiten in japanischen Firmen.
Lange Arbeitszeiten sind deshalb nicht zwangsläufig mit hoher Leistung verbunden, denn als Beweis für die eigene Anstrengung wird oft schon die bloße Anwesenheit betrachtet. Die Arbeitsabläufe sind derartig zeitaufwendig organisiert und die Tage von so vielen Besprechungen und Teepausen unterbrochen, daß die Arbeitsproduktivität von japanischen Angestellten geringer ist als die ihrer deutschen Kollegen. Auch in Japan geht der Trend im übrigen zu kürzeren Arbeitszeiten, auch wenn der Weg bis zur deutschen 35-Stunden-Woche noch weit ist - erst seit 1994 ist die 40-Stunden-Woche gesetzlich festgeschrieben.
Die Übergänge zwischen Arbeits- und Freizeit sind fließend, die Angestellten sind so stark in ihre Firma bzw. Arbeitsgruppe eingebunden, daß es selbstverständlich ist, auch einen Teil der Freizeit am Abend im Kollegenkreis zu verbringen; auch hier hilft der Gruppendruck mitunter nach. Wer nicht mitgeht, grenzt sich bewußt aus der Gemeinschaft aus und verpaßt obendrein ein wichtiges Forum, auf dem Informationen über die Firma ausgetauscht werden und Meinungen offener als im Büro geäußert werden können. Firma und Familie sind hingegen sehr eindeutig voneinander abgetrennt, so daß Männer und Frauen in völlig verschiedenen Welten leben. In der Frauenwelt Familie ist zuweilen gar kein Platz für den Vater. Auch dies ist ein Grund für ihn, sein Nachhausekommen hinauszuschieben.
In jüngster Zeit steigt der Unmut über diese Trennung, denn die jüngere Generation von Vätern legt mehr Wert auf ein gemeinsames Familienleben und ist immer weniger bereit, dies für ihre Arbeitgeber so vollständig zu opfern. Sie pochen mehr auf ihre Rechte als es ihre Väter getan haben, zumal sie sich nicht mehr im gleichen Maß auf die Sicherheit ihres Arbeitsplatzes verlassen können. Langfristig wird sich hier ein weitgreifender Wertewandel anbahnen, bei dem wohl die Arbeit als Mittelpunkt des (Männer-)Lebens ihre dominierende Stellung verlieren wird.
QuellentextStreß am Arbeitsplatz
Angesichts einer im Weltvergleich beneidenswert niedrigen, doch für Japan beunruhigend hohen Arbeitslosigkeit von 3,4 Prozent ist in vielen Firmen ein rauher Ton eingekehrt. Wo lebenslange Arbeitsplatzgarantie und automatische Beförderung vorher ein Gefühl von Sicherheit vermittelten, prägt jetzt Angst die Atmosphäre. Es wird geschuftet - oft bis zum Umfallen.
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In Japan beginnt der Feierabend meist erst, wenn der Chef sich von seinem Fensterplatz im streng hierarchisch aufgeteilten Großraumbüro erhebt und das Jackett anzieht. Und dann geht es meist nicht nach Hause, sondern auf anstrengende Zechtour durch Kneipen oder Karaoke-Bars.
Im Interesse der betrieblichen Harmonie erwarten viele japanische Firmen vom Personal stillschweigend unbezahlte Gefälligkeitsüberstunden. Über die Mehrarbeit wird nirgends Buch geführt, und auch in der offiziellen Statistik des Arbeitsministeriums taucht sie nicht auf.
Laut Arbeitsministerium arbeiten die Japaner jährlich nur 1930 Stunden. In der Glanzbroschüre des japanischen Außenministeriums "Neues aus Japan" heißt es, damit hätten die Japaner mit einer Wochenarbeitszeit von 39 Stunden sogar mit dem auch in Asien berühmten "Freizeitpark Deutschland" gleichgezogen.
Doch die Rechnung täuscht: Dem japanischen Amt für Management und Koordination zufolge, dessen Statistik neben der bezahlten auch die tatsächlich getane Arbeit erfaßt, arbeiteten die Japaner im Fiskaljahr 1995/96 durchschnittlich 43,4 Wochenstunden. [ ]
Auch beim Urlaub spiegeln die offiziellen Angaben nicht die Realität: So hatte Junichi Watanabe zwar offiziell Anspruch auf 40 Tage bezahlten Jahresurlaub, inklusive der Feiertage. Tatsächlich erschien der pflichtbewußte Angestellte in den letzten sechs Monaten seines Lebens nur an zwei Tagen nicht in der Firma - es waren die gesetzlichen Feiertage.
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Doch bisher debattiert die Nation vor allem mit juristischen und medizinischen Argumenten über Streß am Arbeitsplatz. Die gesellschaftspolitische Diskussion hat gerade erst begonnen. Den braven Firmen-Gewerkschaften geht es noch immer vor allem um das Wohl der Firma. Am Ende von Konflikten im Betrieb siegt meist der Gruppenkonsens.
Auch die geschundenen Beschäftigten trauen sich nur selten, die Schufterei anzuprangern. Die oft nächtelange Maloche wird als heldenhafter Einsatz verklärt. Japans Firmenmenschen fehle zuweilen der nötige Respekt vor sich selbst und den Kollegen. [ ]
Der Spiegel 8/1997.
Frauen
Haushalt und Kindererziehung werden auch bei Berufstätigkeit den Frauen überlassen. (© Japan Photo-Archiv)
Haushalt und Kindererziehung werden auch bei Berufstätigkeit den Frauen überlassen. (© Japan Photo-Archiv)
Wenn die Arbeit der Mittelpunkt im Leben der japanischen Männer ist, so kann man ebenso klar die Familie als Mittelpunkt im Leben der Japanerinnen bezeichnen. Die Frauen sind praktisch allein verantwortlich für die Erziehung der Kinder, sie versorgen den Haushalt, wobei sie meistens selbständig über das Familienbudget entscheiden, und sind allein zuständig für die Betreuung und Pflege der Eltern bzw. Schwiegereltern. Die Männer sind somit jeglicher Aufgaben innerhalb der Familie enthoben und können sich ganz auf Beruf und Geldverdienen konzentrieren. Diese Aufgabenteilung ist eine wesentliche Voraussetzung dafür, daß die japanischen Männer ihre Energie so ausschließlich der Arbeit zuwenden können.
An dieser grundsätzlichen Rollenverteilung hat sich bis heute wenig verändert, so daß die Japanerinnen aus westlicher Sicht oft als nicht emanzipiert angesehen werden. Diese Einschätzung geht allerdings von westlichen Maßstäben aus, die dem japanischen Selbstverständnis nicht unbedingt entsprechen. So wird beispielsweise das Ansehen unterschätzt, daß japanische "Nur-Hausfrauen" genießen. Zum einen ist es Ausdruck einer gehobenen Position des Mannes, wenn die Frau nicht zu arbeiten braucht - und bestimmt damit auch den gesellschaftlichen Status der Frau. Zum anderen definiert sich der Status der Hausfrauen über den Erfolg der Kinder in der Schullaufbahn, der ihrer Verantwortung obliegt. Persönliche Erfüllung und Anerkennung können die Hausfrauen außerdem in sozialen Aktivitäten wie Verbraucherorganisationen oder dadurch, daß sie klassische Künste unterrichten (etwa Tanz oder Malerei) erlangen. Diese Frauen empfinden sich nicht als unterlegen, sondern als privilegiert aufgrund ihrer Freiräume. Und sie werden als Trägerinnen wichtiger gesellschaftlicher Aufgaben respektiert.
Teilzeitbeschäftigung
Allerdings werden Frauen grundsätzlich nicht von den familienbezogenen Aufgaben befreit, wenn sie berufstätig werden wollen. In diesem Fall wird erwartet, daß sie ihre Arbeit mit ihren Familienaufgaben verbinden und diese nicht vernachlässigen. Das ist ein Grund, warum sich viele verheiratete Frauen für eine Teilzeitbeschäftigung entscheiden. Immer mehr Japanerinnen sind berufstätig, seit 1990 ist es jede zweite Frau im erwerbsfähigen Alter. Die Erwerbstätigkeit von Frauen ist üblicherweise in zwei Abschnitte unterteilt: Nach dem Hochschulabschluß arbeiten fast alle jungen Frauen und nehmen in der Regel einfache Bürojobs in Großunternehmen an. Eine Karriere wird ihnen nicht angeboten und von den meisten auch nicht angestrebt, da die Mehrheit bei Heirat oder der Geburt eines Kindes ohnehin aus dem Beruf ausscheidet. Nach dieser Familienpause treten viele Frauen ab etwa 40 Jahren erneut ins Berufsleben ein, dann aber nehmen sie - wegen mangelnder Berufsqualifikation und -erfahrung und wegen der Familienpflichten - häufig eine Teilzeitbeschäftigung an, während Männer in der Regel Vollzeitbeschäftigungen ausüben; vier von fünf Teilzeitbeschäftigten sind daher Frauen. Dies entspricht der in Japan immer noch weitverbreiteten Vorstellung, daß der Mann der Hauptverdiener der Familie ist und die Frau bestenfalls "ein wenig dazuverdient".
Diejenigen Frauen, die eine berufliche Karriere anstreben, haben es insofern schwer, als sie in der männerdominierten Berufswelt nicht die gleichen Chancen wie die Männer haben. In Führungspositionen ist der Frauenanteil verschwindend gering. Seit 1986 ist zwar Chancengleichheit im Beruf für Männer und Frauen per Gesetz vorgeschrieben, das heißt Diskriminierung bei Grundausbildung oder Entlassung (etwa wegen Schwangerschaft) ist verboten, doch es gibt keine rechtlichen Sanktionen für Firmen, die dagegen verstoßen. Ansonsten "appelliert" das Gesetz lediglich an die Firmen, Frauen und Männern gleiche Chancen bei Einstellung, Beförderung etc. zu gewähren. Die Firmen rechtfertigen die real unterschiedliche Behandlung mit dem Argument, daß sich die Ausbildung weiblicher Beschäftigter nicht lohne, weil diese ohnehin nach kurzer Zeit ausscheiden - ein Argument, das von der Statistik unterstützt wird. Allerdings ist schwer zu sagen, ob diese Einstellung von den Frauen ausgeht oder eine Reaktion (oder Resignation) auf die Bedingungen in den Unternehmen ist.
In westlichen Feminismuskreisen wird häufig gefragt, warum die japanischen Frauen nicht für mehr Gleichberechtigung in Beruf und Gesellschaft kämpfen. Auch das Gesetz von 1986 zielt nicht auf eine Gleichstellung ab, sondern nur auf gleiche Chancen. Doch die japanische Frauenbewegung, die seit den siebziger Jahren durchaus aktiv ist, ist mehr an Selbstverwirklichung als an Gleichberechtigung interessiert. Wenn Gleichstellung bedeutet, ebenso ausschließlich für die Arbeit leben zu müssen wie die Männer, ist dieser Ansatz sogar verständlich. Zumal die Frauen auch als Mutter und Hausfrau durchaus eine angesehene Position in der Gesellschaft haben. Japanische Frauenrechtlerinnen betonen daher, daß es darum gehen müsse, die Lebens- und Arbeitsweise der Männer zu humanisieren, statt die der Frauen der männlichen gleichzustellen. Davon abgesehen wird aber auch eine Verschärfung des Chancengleichheitsgesetzes gefordert, um die Chancen der Frauen tatsächlich zu verbessern.
Die gesellschaftliche Position der japanischen Frauen ist nicht einfach zu beurteilen, und sicher nicht ausschließlich nach westlichen Maßstäben. Inzwischen ist ein Vordringen der Frauen in die "Männerwelt" Arbeit festzustellen, aber umgekehrt fast nirgends eine stärkere Beteiligung der Männer in der Welt der Frauen. Insofern sind die Frauen in der japanischen Gesellschaft von einer echten Wahlfreiheit bei ihrer persönlichen und beruflichen Lebensgestaltung noch weit entfernt.
Jugend
Aus Anlaß des Neujahrsfestes wird an einem Essensstand Nudelsuppe angeboten. (© Japan Foto-Archiv)
Aus Anlaß des Neujahrsfestes wird an einem Essensstand Nudelsuppe angeboten. (© Japan Foto-Archiv)
Da Jugendliche in Japan von der Schule sehr stark beansprucht werden, wird auch noch die Freizeit der Schülerinnen und Schüler von der Schule weitgehend gestaltet. Nachmittags gibt es an den Schulen zahlreiche, mehr oder weniger freiwillige Interessengruppen und Clubs sowie deren Veranstaltungen für die ganze Schule. Die wichtigste jährliche Veranstaltung ist das Sportfest. Dieses wird größtenteils von den Schülerinnen und Schülern selbst organisiert. Der Radioclub übernimmt die Berichterstattung, alle Klassen treten gegeneinander an, und die Eltern kommen als Zuschauer.
In der japanischen Kultur herrscht eigentlich eine liberale Einstellung gegenüber der Sexualität vor der Ehe. Aber trotz ihres Konsums von telefonbuchdicken Comics voller Romantik, Sex, Horror, Gewalt und Abenteuer können die Jugendlichen weder über Gefühle und Beziehungen noch über Empfängnisverhütung, Krankheiten oder eventuelle sexuelle Übergriffe offen sprechen oder Rat suchen. Die gleichaltrigen Freunde und Freundinnen haben selbst keine Erfahrung, und wer den Klassenkameraden gegenüber Schwächen zugibt, wird dafür von ihnen gehänselt. Eltern und Lehrkräfte erwarten, daß sich die jungen Leute ausschließlich auf das Lernen konzentrieren. Die gesellschaftlichen Institutionen sind darauf ausgerichtet, die Geschlechter getrennt zu halten und ihre Neugier zu unterdrücken. Innerhalb der Schulklassen bilden sich Mädchen- und Jungengruppen, die völlig verschiedenen Beschäftigungen nachgehen. In Japan haben Jugendliche kaum Gelegenheit zu unbefangener Kommunikation in gemischter Gesellschaft. Deshalb können falsche Vorstellungen und Phantasien kaum an der Wirklichkeit korrigiert werden. Auch sonst darf die spontane Verständigung und Auseinandersetzung mit Menschen außerhalb der eigenen Gruppe selten erprobt werden. Die Pubertät wird auch nicht als besonderer Lebensabschnitt aufgefaßt, in dem man etwa Nachsicht für besondere Sensibilität beanspruchen oder sich mit den Eltern und dem Selbstbild auseinandersetzen darf.
Die meisten Schulen, vor allem die höher eingestuften, fordern das Tragen einer Schuluniform: eine vom deutschen Kaiserreich inspirierte Kadettenuniform für die Jungen und ein Faltenrock mit Matrosenbluse für die Mädchen. Die Strenge der Kleidungsvorschriften ist verschieden, doch die modischen Möglichkeiten der Schülerinnen und Schüler beschränken sich höchstens auf Detailvariationen: Schlüsselanhänger-Maskottchen für die Schultasche, bunte oder gerollte Socken, T-Shirts unterm weißen Hemd. Die Schulen versuchen, ihre Schüler so einzuspannen, daß sie fast nie zivil in der Öffentlichkeit auftreten sollen. Auf dem Heimweg besuchen sie aber doch manchmal Automatencafés, amerikanische Fast-Food-Restaurants, Videospielarkaden oder gehen ins Kino. Dann werden die Uniformjacken ausgezogen, Rocklängen hochgekrempelt und Baseballmützen aufgesetzt.
Für weitere kulturelle Aktivitäten haben die Jugendlichen jedoch kaum Zeit. Abends, wenn gerade keine Schulveranstaltungen stattfinden, sitzen die meisten Schülerinnen und Schüler zu Hause mit ihrem Lernpensum. Viele haben deshalb als einziges Familienmitglied ein eigenes Zimmer. Nebenher wird im Durchschnitt noch drei Stunden pro Tag ferngesehen und eine Stunde mit Computerspielen verbracht. Außer den auch in Europa verbreiteten Nintendo-Actionspielen sind in Japan auch Rollenspiele beliebt, in denen eine "Beziehung" zu einem virtuellen Popstar simuliert wird.
Die achtzehnjährigen Schulabsolventen können dann endlich, wenn sie Geld haben, amerikanische Outfits und Pariser Mode nach dem Vorbild der Medienstars kaufen. Viele arbeiten dafür in Aushilfsjobs. Wer sich das nicht leisten kann, bleicht sich wenigstens die Haare teefarbig braun. Die bunte japanische Jugendszene in Tokyo besteht zum größten Teil aus Studentinnen und jungen Berufstätigen, die sonst bei der Arbeit auch konservative Kostüme und Anzüge tragen. Auch der Besuch von Konzerten, Diskotheken, Musikclubs und Restaurants oder Auslandsreisen und sportliche Aktivitäten sind hauptsächlich dieser kurzen Lebensphase vorbehalten. Wenn sie es können, unterstützen auch die Eltern den Konsum und die Reisen ihrer Kinder finanziell - als eine Art Ausgleich für die mit Lernen verbrachte Kindheit.
Medien und Kultur
In Japan ist der Medienkonsum höher als in jedem anderen Land. Fünf große Tageszeitungen haben Millionenauflagen (die beiden auflagenstärksten Zeitungen Yomiuri shimbun und Asahi shimbun erschienen 1996 in 14,2 bzw. 12,8 Mio. Exemplaren) und geben Morgen- und Abendausgaben heraus. Dies sind auch keine Boulevardzeitungen, sondern anspruchsvolle Nachrichten- und Wirtschaftsblätter, für die man eine gute Schulbildung braucht. Die Zeitungen unterscheiden sich allerdings mehr durch ihre Betonung von politischen oder wirtschaftlichen Themen als durch unterschiedliche Meinungen. Sie geben selten ein Forum kritischer Öffentlichkeit ab und versuchen eher, zwischen Lesern, Fachleuten und Politikern zu vermitteln. Noch größeren Einfluß hat das Fernsehen mit seinem ganztägigen Angebot an Information und Unterhaltung.
Auch Bücher zu aktuellen Themen und Literatur werden in Japan viel gelesen. In den letzten Jahren haben aber die Zeitschriftenumsätze der Verlage diejenigen für Bücher sogar übertroffen. Das Zeitschriftenangebot umfaßt Monats- und Wochenzeitschriften zu Politik und Gesellschaft, Frauenzeitschriften, Reise- und Gourmetblätter bis hin zu Sonderheften mit Bildreportagen. Durch die Verbindung von Wort und Bild sind die sehr verbreiteten Comichefte (manga) hingegen leicht verständlich und werden von Jung und Alt - oft unterwegs in der Bahn - gelesen. Zeitschriftenlesen, Fernsehen und sogar Videospiele werden in Japan nicht als niveaulose Zeitverschwendung angesehen, sondern als beinahe meditative Entspannung und Entlastung, und manchmal auch als unterhaltsames Lernen.
Die japanische Kultur bewegt sich im Spannungsfeld von Tradition und Moderne. Die Auseinandersetzung mit den Veränderungen der Alltagswelt durch die Modernisierung des 20. Jahrhunderts kann vom japanischen Standpunkt aus als Dialog mit dem Westen geführt werden. Mit Elementen aus der Tradition wird eine eigene kulturelle Identität gegenüber dem Westen gebildet, den man sich ebenfalls als eine einheitliche, dem technischen Fortschritt verpflichtete Kulturwelt vorstellt.
Architektur
Zum Beispiel ist die Einrichtung eines Hauses mit einer Couchgarnitur im Wohnzimmer und Haushaltsgeräten in der Küche auch in Japan der Maßstab modernen Wohnens. Dennoch wird dieser moderne Wohnstil als "westlich" empfunden, während das japanische Wohnen aus zwei gegensätzlichen Gründen ebenfalls weitergepflegt wird. Erstens aus praktischen Erwägungen: Wegen der hohen Grundstückspreise in den Städten sind die Wohnungen oft sehr klein. Daher ist es notwendig, dieselben Räume für verschiedene Zwecke zu nutzen. Deshalb werden solche Räume in japanischer Weise nicht fest eingerichtet, sondern man stattet sie nach Bedarf mit Sitzkissen, Tisch oder Bettzeug aus. Die traditionelle Einrichtung mit Betten (futon), die tagsüber weggeräumt werden, und geräumigen Einbauschränken statt sperriger Möbelstücke ist hierfür in besonderer Weise geeignet. Zweitens wird japanisches Wohnen aber gerade auch als Luxus und kultureller Genuß geschätzt. Wer es sich leisten kann, reserviert einen Raum als japanisches Zimmer, in dem Bilder und Blumengestecke der Jahreszeit ausgestellt und Gäste mit Tee bewirtet werden.
Ein ganzes Haus im japanischen Stil besteht fast nur aus Holz und anderen natürlichen Materialien. Es erfordert viele pflegende Handgriffe und muß von spezialisierten Kunsthandwerkern in Stand gehalten werden. Nur wenige Privatleute können sich heute noch ein solches Haus leisten. Die meisten werden als Gasthaus oder als Teil einer Tempelanlage genutzt. Der Einfluß des Buddhismus hat die Ästhetik der japanischen Häuser besonders geprägt. Die Räume sollen nach außen durchlässig sein und vor allem den Blick in den kunstvoll gestalteten Garten eröffnen. Einige größere Gebäude entstanden dadurch, daß immer neue Pavillons und Räume angebaut wurden, so daß sie eine organisch gewachsene Struktur anstelle einer berechneten Symmetrie vorweisen. Diese Idee einer offenen, naturnahen Bauweise hat die moderne westliche Architektur wesentlich beeinflußt.
Im Dialog mit den westlichen Architekturströmungen entwickelte sich eine eigene moderne Architektur in Japan, die auch heute immer wieder durch unkonventionelle Entwürfe beeindruckt. Japanische Architekten profitieren davon, daß japanische Häuser ständig erneuert werden. Während traditionelle Häuser nach und nach renoviert werden, ist es bei einfachen Stadthäusern sinnvoller, sie nach zwanzig oder dreißig Jahren abzureißen und neu zu bauen. Daher können auch junge Architekten Aufträge bekommen und spielerische Ideen verwirklichen, wie sie im buntgewürfelten Stadtbild von Tokyo überall zu sehen sind.
Religion
Das japanische Religionsverständnis unterscheidet sich von dem des Westens. Die japanischen Religionen haben keinen Anspruch auf Alleingültigkeit erhoben und wurden daher auch nicht zum Gegenstand von Kritik und Aufklärung. Sie blieben vielmehr offen für andere religiöse Einflüsse. Japan hat bewußt fremde Rituale, Gebräuche und Lehren in die eigene religiöse Tradition übernommen und sie zu verschiedenen historischen Zeitpunkten wechselnden politischen und sozialen Bedürfnissen angepaßt. Die meisten Japaner gehören keiner bestimmten Religionsgemeinschaft an. Sie fühlen sich zu mehreren Religionen hingezogen und befolgen deren Lehren und Rituale je nach ihren Bedürfnissen oder entsprechend eines bestimmten Anlasses.
Unterschiedliche Richtungen
Die wichtigsten japanischen Religionen sind die folgenden: Shinto ("der Weg der Götter") ist eine Bezeichnung für die sehr alten Religionen, die mit den japanischen Landschaften verbunden sind. Durch die Zusammenfassung der verschiedenen Schreinkulte und Volksreligionen mit den Ritualen des Kaisertums und durch Theologisierung ihrer reichhaltigen Mythologie wurde mehrmals, zuletzt während der Etablierung des Meiji-Kaiserreichs, der Versuch unternommen, eine einheitliche, original japanische Religion herauszubilden. Einige Shinto-Strömungen zeigen daher nationalistische Tendenzen.
Den Shinto-Religionen sind die folgenden Merkmale gemeinsam: Naturverbundenheit mit dem Jahreskreis und mit der Landschaft - bis hin zum Animismus (der Glaube, daß Bäume, Berge oder Flüsse beseelt sind); Ahnenverehrung, wobei die Ahnenreihe von einem Stammesgott abgeleitet wird; und Reinigungszeremonien durch Wasser und weiße Dinge wie Salz gegen Verunreinigung, vor allem durch Tod und Blut. Außerdem kam es vor, daß ein Mensch nach seinem Tod zum göttlichen Ahnen eines Shinto-Kultes erhoben wurde, indem man ihn mit einem bestehenden Gott identifizierte. Sehr umstritten ist dieses Vorgehen im Fall des Yasukuni-Schreins in Tokyo, wo im Zweiten Weltkrieg gefallene Soldaten sozusagen als nationale Ahnen verehrt werden.
Die Heiligtümer des Shinto sind Schreine in einer charakteristischen Holzarchitektur, in denen die Götter anwesend sind. Manchmal sind betretbare Gebäude und Anlagen um sie herum errichtet. Die heiligen Bereiche werden durch Seile mit Papierstreifen und vor allem durch das Wahrzeichen Japans, das Schreintor torii, von der Alltagswelt abgegrenzt. Im Lauf der Geschichte entwickelten manche Schreinkulte einen größeren Einflußbereich. So sind die Schreine des Gottes für Reis und Reichtum Inari, mit den kleinen Füchsen, die ihm als Boten dienen, im ganzen Land verbreitet. Während der japanischen Modernisierung wurde Inari auch zum Gott des Handels, und die Kaufhäuser beispielsweise haben auf dem Dach einen Inari-Schrein. Auch sonst begegnet man shintoistischen Details im Alltag: kleinen Küchenschreinen, Markierungen von alten Bäumen und Steinen oder Salz auf den Türschwellen.
Der Buddhismus wurde im 6. Jahrhundert über Korea in Japan verbreitet. Er wurde in der Begeisterung für chinesische Ideen der T´ang-Dynastie im 8. Jahrhundert eine Zeitlang Staatsreligion. Später konnte der Buddhismus dadurch weiter wirken, daß er Bestattungen und Totengebete übernahm. Die buddhistischen Lehren waren tröstlicher als die shintoistischen Reinigungszeremonien, da sie persönliche Heiligkeit und die Möglichkeit des Paradieses nach dem Tode kennen. Deshalb sind es heute in Japan meist buddhistische Hausaltäre, in denen das Gedenken an die Verstorbenen wachgehalten wird.
Buddhistische Schulen
Im 12. Jahrhundert entstanden typisch japanische Schulen des "Neuen Buddhismus":
Der Amida-Buddhismus "vom Reinen Land", der es den Mönchen schon damals erlaubte, Fleisch zu essen und ein normales Familienleben zu führen, ist bis heute wegen seiner Bejahung der menschlichen Bedürfnisse in Japan sehr populär. Auch ein einfacher Gläubiger, der nicht die Kraft zu einem asketischen Leben hat, kann erlöst werden. Wenn er den Beistand Amidas anruft, besonders in der Todesstunde, so wird dieser Buddha der Gnade kommen und die Seele in das Reine Land holen.
Den Zen-Buddhismus lernten seine japanischen Gründer Eisai und Honen in China kennen. Eigentlich wird Zen nur von den Mönchen praktiziert, die in einem Tempel leben, wo sie durch Arbeit, Askese und Meditation nach Erleuchtung suchen. Es gibt viele verschiedene Meditationsformen. Die wichtigste ist die bekannte Sitzhaltung, aber auch die tägliche Arbeit, das Betteln und vor allem die Ausübung einer Kunst wie Tuschmalerei, Flötenspiel oder die Teezeremonie sind Übungen auf dem Weg zur Erleuchtung. Besucher des Tempels können an Meditationen teilnehmen, Gebete abhalten lassen oder sogar Firmenlehrgänge und andere Dienstleistungen in Anspruch nehmen.
Der Gründer einer weiteren buddhistischen Richtung, Nichiren, war eine charismatische Persönlichkeit, die viele Anhänger für ein Leben nach asketischen Regeln und für die Meditation nach klassischen buddhistischen Texten gewann. Durch sie soll das Heilige in dieser Welt verwirklicht werden. Eine moderne Variante dieser Richtung ist die Soka-Gakkai ("Werteschaffende Gesellschaft"), die so viele Anhänger hat, daß sie eine der großen Parteien Japans tragen kann, die Komeito ("Partei für eine saubere Politik").
In der Nachfolge Nichirens sind durch andere Personen in Japan seither mehrere tausend "Neue Religionen" oder Sekten gegründet worden. Die japanische Religiosität hat keine Schwierigkeiten damit, Geld und Segen zu vereinbaren, und ein Tempel, der durch Spenden reich geworden ist, wird deswegen um so mehr geachtet. Unter dem Schutz der Gesetze über Religionsgemeinschaften konnten allerdings auch weniger seriöse Gruppierungen ihre Aktivitäten entfalten, Steuern hinterziehen oder Anhänger in seelischer oder finanzieller Abhängigkeit halten. 1995 wurden in der Folge eines Giftgasanschlags in der U-Bahn von Tokyo, bei dem viele Menschen getötet wurden, die Aktivitäten der Aum-Sekte des Gurus Shoko Asahara aufgedeckt. Die Haltung des Respekts gegenüber religiösen Vereinigungen ist dadurch in Frage gestellt worden, und sie werden in Zukunft - trotz berechtigter Einwände der etablierten Religionen - mit strengeren staatlichen Kontrollen rechnen müssen.
Nur etwa eineinhalb Millionen Japaner und Japanerinnen sind Mitglieder christlicher Kirchen, doch das Christentum hat in Japan weitreichenden Einfluß. Das von Missionaren eingeführte Christentum war während der Abgeschlossenheit Japans von 1600 bis 1862 vom Shogunat wegen seiner ausländischen Herkunft verboten, wenn auch eine kleine Widerstandsströmung im Geheimen weiterbestand.
Nach der Öffnung des Landes wollten die japanischen Politiker nicht nur die Technologien, sondern auch die ideologischen Grundlagen des Westens kennenlernen, unter denen das Christentum eine wichtige Rolle spielt. Einige Kirchen haben höhere Schulen und heute sehr angesehene Universitäten auch für Frauen gegründet sowie Kindergärten mit niedrigen Gebühren eingerichtet. Mit der amerikanischen Populärkultur kamen schließlich christliche Festgebräuche nach Japan, etwa ein weißes Brautkleid als Ergänzung einer shintoistischen Hochzeit oder ein Weihnachtsmann im Einkaufszentrum.