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Jüdisch und demokratisch? Religion und Staat in Israel | Israel | bpb.de

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Jüdisch und demokratisch? Religion und Staat in Israel

Daniel Mahla

/ 14 Minuten zu lesen

Der religiöse Status quo reguliert die Präsenz der Religion im öffentlichen Raum. So müssen zum Beispiel Küchen in staatlichen Einrichtungen koscher geführt sein. Ein Inspekteur kontrolliert 2016 ein Cateringunternehmen. (© Reuters)

Seit den Anfängen des zionistischen Projekts war das Verhältnis der Nationalbewegung zu den religiösen Aspekten und Akteuren des Judentums spannungs- und konfliktreich. Dies liegt auch am Charakter jüdischer Gruppenzugehörigkeiten, die sowohl religiöse als auch ethnische Elemente aufweisen. Viele der frühen Zionisten hatten sich weit von der Religion entfernt und definierten ihr Judentum ausschließlich als ethnische oder nationale Zugehörigkeit. Diese nationale Identität lässt sich jedoch nicht vollkommen von religiösen Traditionen trennen, da sie sich immer auch auf religiöse Schriften und Konzepte – etwa aus der hebräischen Bibel – stützt.

Der Großteil traditioneller Juden stand der jungen Nationalbewegung höchst kritisch gegenüber. Während sich einige wenige orthodoxe Aktivisten in Europa bald in der 1902 im zaristischen Wilna gegründeten religiös-zionistischen Partei Misrachi ("Spirituelles Zentrum") organisierten, schufen deren Gegner 1912 im schlesischen Kattowitz die nicht zionistische Agudat Jisrael ("Union Israels").

Die Führer der Agudat Jisrael lehnten die Idee eines säkularen jüdischen Staatswesens rigoros ab. Zum einen behielten klassische jüdische Endzeitvorstellungen solch eine Staatsgründung dem Messias vor. Zum anderen fürchteten sie die Zurückdrängung religiöser Traditionen und Autoritäten in einem von säkularen Politikern gelenkten Staatswesen. Gleichzeitig aber sahen sie sich durch die Not der Juden in Europa und deren fortschreitende soziale Ausgrenzung in den 1920er- und 1930er-Jahren gezwungen, das jüdische Siedlungswesen in Palästina zu unterstützen. Dort vereinten sie sich politisch mit konservativen Kräften im sogenannten alten Jischuw, den traditionellen jüdischen Siedlungen, die über die Jahrtausende hin in der Region bestanden hatten, wie etwa in Jerusalem und Hebron.

Mit der Vernichtung des europäischen Judentums in der Schoah gaben schließlich die Vertreter der Aguda ihren Widerstand gegen die Errichtung eines jüdischen Staates auf. Im Zuge der Staatsgründung kam es zu einer (in vielen Teilen vagen) Übereinkunft über die Einhaltung grundlegender religiöser Prinzipien. Sie sind heute als religiöser Status quo bekannt, der umso bedeutender ist, als Israel keine endgültige Verfassung besitzt.

Der religiöse Status quo
Die Richtlinien des religiösen Status quo befassen sich mit grundlegenden Fragen der religiösen Repräsentanz im öffentlichen Raum. So sollten alle Küchen in staatlichen Einrichtungen nach den jüdischen Speisevorschriften betrieben und der Sabbat wie auch die jüdischen Feiertage als offizielle Ruhe- und Feiertage festgelegt werden. Daneben wurde der Fortbestand der religiösen Erziehung zugesagt. So gibt es bis heute, abgesehen vom arabischen Bildungssystem, neben dem staatlich-säkularen ein staatlich-religiöses sowie ein weitgehend autonomes ultraorthodoxes Bildungssystem.

Ein weiterer Punkt beschäftigte sich mit der Zuständigkeit religiöser Gerichtshöfe. Nach Gesetzen, die noch aus Zeiten des Osmanischen Reiches stammen, unterliegt muslimischen, christlichen und jüdischen Gerichtshöfen die Regelung des Personenstands- und Familienrechts. Diese Zuständigkeiten wurden beibehalten – und das mit weitreichenden Folgen: In Israel gibt es bis heute keine zivilen, sondern nur religiöse Eheschließungen. Damit aber bleibt Paaren unterschiedlicher religiöser Herkunft verwehrt, eine Ehe einzugehen. Da jedoch außerhalb Israels geschlossene Ehen vom Staat anerkannt werden, heiraten Paare, die in Israel keine Ehe schließen können, sowie viele säkulare Israelis, die sich dem Einfluss religiöser Gerichte entziehen wollen, zunehmend im Ausland. Eine weitere Möglichkeit ist die eingetragene Lebenspartnerschaft, die auch für gleichgeschlechtliche Paare gilt.

Die Oberhoheit religiöser Gerichtshöfe hat auch negative Folgen für die Stellung der Frau. Dies gilt insbesondere für jüdische und islamische Frauen, da sie keine Gleichstellung gegenüber dem Mann genießen. Eines der drastischsten Beispiele aus dem jüdisch-orthodoxen Bereich etwa ist die Tatsache, dass außer in wenigen Fällen lediglich der Mann den formalen Prozess der Ehescheidung einleiten kann. Dies macht Ehefrauen erpressbar oder bindet sie im Extremfall an eine Ehe, die sie selbst nicht mehr wollen.

Die Bedeutung des religiösen Status quo für die israelische Gesellschaft wird sehr unterschiedlich beurteilt. Während einige diesen als faulen Kompromiss ansehen, der keine Seite zufriedenstellt, erblicken andere darin eine Sozialcharta, die gerade durch ihre Zwiespältigkeit und Ungenauigkeit das Zusammenleben von Religiösen und Säkularen ermöglicht.

Insgesamt wird der Status quo seit den 1980er-Jahren zunehmend in Frage gestellt. Dazu haben die ökonomische Liberalisierung und die Individualisierung ebenso beigetragen wie die in großen Teilen nicht-religiöse Einwanderungswelle aus der ehemaligen Sowjetunion, aber auch der Umstand, dass andere jüdische Strömungen das orthodoxe Monopol auf religiöse Institution zunehmend hinterfragen.

Wer ist Jude?

Weitere Kontroversen, die den Staat Israel seit seiner Gründung begleiten, entzünden sich an der Frage, wie die Zugehörigkeit zum Judentum definiert wird. Besondere Dringlichkeit erhält diese Frage durch das 1950 verabschiedete "Rückkehrgesetz", das es jeder Person jüdischer Herkunft gestattet, nach Israel einzuwandern und die israelische Staatsbürgerschaft anzunehmen. Dieses Gesetz verdeutlicht außerdem die Schwierigkeit der Trennung von religiösen und ethnischen Komponenten im Judentum.
Scheinbar einfache "religiöse" Fragen können weitreichende Auswirkungen haben, wie etwa auf die Staatsbürgerschaft. Nach einer Erweiterung des Gesetzes von 1970 darf demnach einwandern, wer mindestens einen jüdischen Großelternteil hat oder mit einer Person verheiratet ist, die selbst unter das Rückkehrgesetz fällt. Außerdem können Personen von diesem Recht Gebrauch machen, die in einer vom Staat anerkannten Konversion zum Judentum übergetreten sind. Das waren lange Zeit nur solche nach orthodoxem Ritus durchgeführte Konversionen. Nach Abkommen mit den liberalen Strömungen des Judentums in den USA können mittlerweile aber auch über deren Institutionen konvertierte Personen einwandern.

Einzelfälle sorgten jedoch immer wieder für hitzige Diskussionen. 1962 etwa beantragte der als polnischer Jude geborene Daniel Rufeisen die israelische Staatsbürgerschaft. Rufeisen hatte sich während der Schoah in einem Kloster versteckt, war zum Christentum übergetreten und mittlerweile Mönch geworden. Der oberste Gerichtshof verwehrte es ihm, unter dem Rückkehrgesetz einzuwandern, mit der Begründung, dass er mittlerweile zu einer anderen Glaubensrichtung übergetreten sei. Die Knesset verabschiedete bald darauf einen Zusatz zum Rückkehrrecht, der eben solche Fälle ausschloss.

Im Unterschied zum Rückkehrgesetz ist nach den jüdischen Religionsgesetzen nur Jude, wer eine jüdische Mutter hat oder zum Judentum konvertiert ist. Demnach sind einige derer, die unter dem Rückkehrgesetz nach Israel einwandern, religionsgesetzlich nicht jüdisch. Dies führt zu vielen Problemen und Diskriminierung, etwa wenn solche Personen keine jüdischen Partner heiraten können, da sie von den religiösen Gerichtshöfen nicht akzeptiert werden. Seit den 1990er-Jahren wird darüber in Israel eine teils emotionale Diskussion geführt, denn im Zuge der Einwanderung aus der ehemaligen Sowjetunion kamen mehrere hunderttausend Menschen ins Land, die religionsrechtlich nicht als Juden anerkannt sind.

Für Reibungen sorgt auch immer wieder das Verhältnis Israels zu den liberalen religiösen Strömungen. Diese sind im Land selbst zwar schwach, genießen aber vor allem in den USA großen Einfluss. Da nur die Orthodoxie offiziell vom Staat anerkannt wird, erhalten liberale Institutionen wenig bis keine staatliche Unterstützung. Ein symbolträchtiges Beispiel für diese Spannungen ist der Streit um die Abhaltung von liberalen Gottesdiensten an der Klagemauer. Da in liberalen Gottesdiensten Männer und Frauen gemeinsam und gleichberechtigt beten, stoßen diese an der Klagemauer auf vehementen Widerstand orthodoxer Autoritäten. In diesen Konflikten geht es über die religiösen Aspekten hinaus auch um die Frage nach dem Verhältnis zwischen Israel und dem amerikanischen Judentum bzw. jüdischen Gemeinden weltweit.

Wie religiös sehen sich die erwachsenen jüdischen Isrealis? In Prozent.

Erstarken der Nationalreligiösen

Das Jahr 1967 stellt einen wichtigen Wendepunkt im Verhältnis der jüdischen Orthodoxie zum Staate Israel dar. Viele der frühen israelischen Staatsführer sahen in der Religion ein Relikt der Vergangenheit, das bald verschwinden würde. Religiöse Kräfte waren zunächst schwach. Doch die Eroberung der Jerusalemer Altstadt mit ihrer religiösen Bedeutung sowie die Einnahme der Kerngebiete antiker jüdischer Siedlung wirkten sich tiefgreifend auf die israelische Gesellschaft aus. Viele Israelis erfasste eine Art religiöser Euphorie und jüdischen Traditionen wurde fortan wieder ein höherer Stellenwert zugeschrieben. Hinzu trat in den 1970er-Jahren ein weltweites Wiederaufleben religiöser Bewegungen, die auch islamische Kräfte und Akteure in der Region erfasste.

Besonders im Lager religiöser Zionisten führte der Krieg von 1967 zu radikalen Umwälzungen. Das sogenannte nationalreligiöse Lager hatte bis dahin weitgehend moderate politische und gesellschaftliche Positionen vertreten. Die nationalreligiösen Parteien befanden sich seit den 1930er-Jahren in einer politischen Allianz mit der Arbeiterbewegung. Bereits in den 1950er-Jahren jedoch begannen Teile der jungen Generation, sich gegen die vermeintliche Passivität ihrer Eltern innerhalb der israelischen Gesellschaft aufzulehnen. Diese Aktivisten traten für eine aktivere Rolle der Orthodoxen in der israelischen Gesellschaft ein und rangen mit den säkularen Gegenkräften um die Legitimationshoheit, also darum, welche Gruppe den Charakter des jüdischen Staates bestimmen würde.

Bald nach Ende des Krieges fingen sie damit an, jüdische Siedlungen im Westjordanland zu gründen – welches in Israel unter Bezug auf die antike jüdische Siedlung in diesen Regionen auch als Judäa und Samaria bekannt ist. Zur Durchsetzung ihrer Ziele gründeten sie 1974 die Organisation Gush Emunim (Block der Getreuen). Unter dem Schock des Jom-Kippur-Krieges von 1973 und aus Angst vor einer Rückgabe der im Sechstagekrieg eroberten Gebiete, die durch Friedensverhandlungen mit Ägypten angestachelt wurde, verstärkte der Gush Emunim im Lauf der 1970er-Jahre seine Siedlungstätigkeiten.

Messianische Vorstellungen sind im Judentum eng mit der Wiedererrichtung eines jüdischen Staates auf den Gebieten antiker jüdischer Siedlung verknüpft. Vor diesem Hintergrund begriffen die Aktivisten des Gush Emunim den Krieg von 1967 als Beginn der messianischen Endzeit. Für sie ist die jüdische Besiedlung von Judäa und Samaria eine heilige religiöse Pflicht, durch die Juden aktiv den messianischen Prozess vorantreiben können. Jegliche Aufgabe dieser Gebiete wäre Verrat an dieser Verpflichtung und wird somit streng bekämpft. Hier stellt sich der im israelischen Staatswesen angelegte Konflikt zwischen theologischen Grundsätzen, wie etwa dem von Gott den Juden versprochenen Land Israel (Erez Israel), und politischen Konzepten eines modernen Staates (Medinat Israel) besonders drastisch dar. Was etwa passiert, wenn sich die Mehrheit der jüdischen Israelis in einem politischen Prozess für die Aufgabe von Teilen des Landes Israels entscheidet?

Die Vertreter der ideologischen Siedlerbewegung führt dies zu einem zwiespältigen Verhältnis gegenüber dem israelischen Staat. So hat sich der von ihnen eigentlich als heilig angesehene Staat mit der Rückgabe der Sinaihalbinsel an Ägypten Anfang der 1980er-Jahren und vor allem mit den Diskussionen in den 1990er-Jahren um die Aufgabe der Palästinensergebiete in den Augen einiger an den göttlichen Heilsversprechen versündigt. Diese Spannung führte bei Teilen der Siedlerbewegung zur Radikalisierung.

In den frühen 1980er-Jahren formte sich eine jüdische Terrorzelle, die Anschläge auf Bürgermeister arabischer Städte verübte und sogar plante, die Al-Aqsa-Moschee und den Felsendom in Jerusalem in die Luft zu sprengen. Hierdurch sollte Platz für den Wiederaufbau des zweiten jüdischen Tempels, der 70 n. u. Z. von den Römern zerstört worden war, geschaffen werden. Der Anschlag wurde letztlich vom israelischen Inlandsgeheimdienst verhindert. Der religiös motivierte jüdische Terrorismus war damit allerdings nicht beendet. So verübte etwa Baruch Goldstein im Jahr 1994 in Hebron ein Attentat auf muslimische Gläubige, bei dem 29 Menschen starben. Auch der ehemalige Ministerpräsident Jitzchak Rabin fiel einem im nationalreligiösen Lager sozialisierten Attentäter zum Opfer. Im November 1995 wurde er ermordet, weil er die Osloer Verträge unterzeichnet hatte.

Als die israelische Armee 2005 die Räumung jüdischer Siedlungen im Gazastreifen vorbereitete, riefen einige nationalreligiöse Rabbiner Soldaten dazu auf, sich entsprechenden Befehlen ihrer Vorgesetzten zu verweigern. Trotz heftiger Proteste der Räumungsgegner und angespannter Diskussionen um die Pläne blieben aber Konfrontationen zwischen der israelischen Armee und Siedlern begrenzt; nur wenige Soldaten verweigerten die Teilnahme an den Räumungen. Sollten weitere jüdische Siedlungen aufgegeben werden, kann mit dem Anstieg innerjüdischer Konflikte gerechnet werden.

Allerdings ist es in diesem Kontext wichtig zu betonen, dass der Großteil der ideologischen Siedlerbewegung nicht militant ist und sich im Falle eines israelischen Rückzuges aus diesen Gebieten diesem nicht gewaltsam widersetzen würde. Darüber hinaus sind bei weitem nicht alle Siedler ideologisch motiviert, sondern leben dort aus einer Vielzahl von Gründen, etwa weil sie es sich aufgrund der hohen Lebenshaltungskosten nicht leisten können, in Jerusalem zu wohnen.

Ultraorthodoxie

Das Lager der nicht zionistischen Orthodoxie, häufig als Ultraorthodoxie bezeichnet, durchlief seit der Staatsgründung gewichtige Veränderungen. Um sich gegen unliebsame Einflüsse zu schützen, versuchen die Ultraorthodoxen, ihre Gemeinden von der Umwelt abzugrenzen, etwa durch den Aufbau eigener Institutionen, die besonders strenge Auslegung religiöser Gesetze sowie einen eigenen Kleidungsstil. Das Gros der Ultraorthodoxen hat sich de facto damit abgefunden, in einem säkularen israelischen Staat zu leben. Im Gegensatz zu nationalreligiösen Auslegungen wird diesem allerdings jegliche messianische Bedeutung abgesprochen.

Im Laufe der Jahre haben die ultraorthodoxen Parteien durch gezielte Klientelpolitik staatliche Zuwendungen an ihre Institutionen stetig vergrößern können. Diese Zuwendungen ermöglichen dem Großteil ultraorthodoxer Männer, sich nicht um den Broterwerb zu kümmern, sondern ihr Leben dem Studium der heiligen Schriften zu widmen. Damit wurde das Vollzeitthorastudium, dem sich historisch nur eine kleine Elite hingeben konnte, zu einem allgemeinen Ideal erhoben und für die Mehrheit zur Realität. Während sich die Ultraorthodoxen in ihrer Selbstdarstellung häufig als reine Bewahrer antiker Traditionen sehen, wird ihre Lebensweise ironischerweise erst durch weitreichende finanzielle Unterstützungen des von ihnen abgelehnten zionistischen Staates ermöglicht. Außerhalb Israels gehen auch heute noch viele ultraorthodoxe Männer durchaus einer Lohnarbeit nach.

Aus den unterschiedlichsten Gründen kommt es regelmäßig zu Konflikten zwischen Ultraorthodoxen und anderen Teilen der Bevölkerung. In diesem Zusammenhang fordern einige säkulare Parteien immer nachdrücklicher die Abschaffung von Privilegien. So sollen ihrer Ansicht nach Studenten ultraorthodoxer Einrichtungen nicht länger von der allgemeinen Wehrpflicht befreit sein. Auch die Frage nach einer stärkeren Integration streng religiöser Männer in den israelischen Arbeitsmarkt ist von hoher Sprengkraft. Ultraorthodoxe Forderungen, Frauen aus dem öffentlichen Raum auszugrenzen und Männer und Frauen etwa in öffentlichen Verkehrsmitteln strikt zu trennen, führen ebenfalls immer wieder zu Spannungen und Konflikten.

Zur Siedlungspolitik Israels haben die Ultraorthodoxen ein zwiespältiges Verhältnis. Einerseits haben sich einige ihrer wichtigsten religiösen Autoritäten dagegen ausgesprochen. Andererseits gibt es mittlerweile ultraorthodoxe Siedlungen, deren Bewohner dort aber oftmals eher aus ökonomischen denn aus ideologischen Gründen wohnen. Nichtsdestotrotz unterstützen die ultraorthodoxen Parteien in aller Regel die politische Rechte und damit auch unnachgiebige Positionen gegenüber der palästinensischen Bevölkerung.
Neben der europäisch-stämmigen Orthodoxie hat sich in den 1980er-Jahren in Israel eine Partei etabliert, welche vor allem die Interessen von aus Nordafrika und dem Nahen Osten stammenden Juden vertritt. Schas ("Sephardische Thorawächter") gilt als ultraorthodoxe Partei, die aber durch den Aufbau eines weiten Netzes an sozialen Einrichtungen und Erziehungsinstitutionen einen Zuspruch in der Bevölkerung genießt, der weit über strengreligiöse Strömungen hinausgeht.

Auch politisch lässt sich die Partei nicht in einfache Kategorien einordnen. So bekennt sie sich vorbehaltlos zum jüdischen Staat. In ihren frühen Jahren unterstützte sie einen moderaten Kurs gegenüber den Palästinensern, nachdem ihre spirituelle Autorität Rabbiner Ovadia Joseph erklärt hatte, der Schutz von Leben stehe höher als der Erhalt von Territorien. Dann aber vollzogen ihre Wortführer einen Kurswechsel und lehnen mittlerweile jeglichen Baustopp in den jüdischen Siedlungen ab. Dieser Kurswechsel Ovadia Josephs lässt sich wohl auf die Tatsache zurückführen, dass ein wachsender Teil seiner Anhänger in diesen Gebieten lebt und deswegen von einer Aufgabe der Siedlungen negativ betroffen sein würde.

Anteil der israelischen Erwachsenen nach Religionszugehörigkeit in Prozent. (© Michael Lipka, "7 key findings about religion and politics in Israel", Pew Research Center, Fact Tank – Our Lives in Numbers, 8. März 2016)

Spielräume zwischen Religiösen und Säkularen

Allerdings lassen sich jüdische Israelis nicht trennscharf in Religiöse und Säkulare einordnen. Das liegt unter anderem an der anfangs benannten Spannung zwischen religiösen und ethnischen Aspekten des Judentums. Viele etwa, die sich als säkulare Juden verstehen, halten sich an bestimmte Aspekte jüdischer Traditionen – richten sich beispielsweise nach bestimmten jüdischen Speisevorschriften oder nach einigen der Ruhegebote des Sabbats. Andere dagegen, die sich als religiös einstufen, halten sich nicht unbedingt akribisch an alle jüdischen Gesetze. In den letzten Jahren engagieren sich außerdem steigende Zahlen progressiver religiöser wie auch säkularer Akteure im gemeinsamen Dialog und es kommt zur Gründung alternativer Institutionen und Zeremonien, wie etwa säkularen Sabbatfeiern in Jerusalem und Tel Aviv.

Vor allem aber sind solche Definitionen im westlich-europäischen Kontext entstanden und haben für Juden aus dem arabischen und nordafrikanischen Raum oftmals wenig Bedeutung. Ein Großteil dieser Juden bezeichnet sich selbst als traditionell und hält viele der religiösen Traditionen ein, ohne sich aber um die Details religiöser Gesetzgebung zu kümmern.
Meinungsumfragen der letzten Jahre zeigen auf, dass Israelis Spannungen zwischen Religiösen und Säkularen neben dem Konflikt mit den Palästinensern als besonders bedeutsam für die Entwicklung ihrer Gesellschaft ansehen. Die von verschiedenen Gruppen vertretenen Werte stehen sich teilweise diametral entgegen und die Frage von Religion im öffentlichen Raum führt mitunter zu heftigen Auseinandersetzungen.

Auswirkungen auf die arabisch-palästinensische Bevölkerung
Aus Sicht der arabisch-palästinensischen Bevölkerung Israels ist die Verquickung von Judentum und Staat in vielerlei Hinsicht nicht unproblematisch. Um die Staatsidentität nicht zu gefährden, erhalten arabische Israelis (die sich häufig als israelische Palästinenser verstehen) vor allem Individualrechte. Kollektivrechte werden als religiöse Rechte zugestanden, nicht aber als nationale. Des Weiteren genießen die einzelnen religiösen Gruppierungen oftmals unterschiedliche Rechte und Pflichten – so leisten etwa drusische Israelis und einige Beduinen Wehrdienst, sunnitische Muslime und arabische Christen dagegen nicht.

Dies aber trägt gleichzeitig dazu bei, die israelisch-palästinensische Bevölkerung vor allem als Cluster von religiösen Gruppierungen zu formieren. Die Stärkung solcher Teilidentitäten gegenüber der Formation eines einheitlichen arabischen Kollektivs liegt im Interesse des jüdischen Staates.

Neben solchen rechtlichen Fragen ist es gerade die politisch-symbolische Ebene sowie die Anbindung des Staates an jüdische Geschichte und Diaspora, die aus arabisch-palästinensischer Perspektive Probleme bereitet. Das jüdisch-zionistische Selbstverständnis schließt auch bei weitgehender rechtlicher Gleichstellung die arabische Bevölkerung von wichtigen politischen und gesellschaftlichen Bereichen aus. Obwohl diese etwa Parteien bilden und am politischen Prozess teilnehmen können, sind sie faktisch von der Regierungsbildung und Bereichen wie der israelischen Außenpolitik oder von Fragen der nationalen Sicherheit ausgeschlossen.

Daneben wirkt sich die sich aus dem jüdischen Selbstverständnis des Staates ergebende Migrationspolitik negativ aus: Sie ermöglicht Juden aus aller Welt die Einwanderung, handhabt aber die nicht-jüdische und insbesondere arabische Einwanderung restriktiv. Innerhalb der arabischen Bevölkerung gibt es daher Kräfte, die Israels jüdischen Charakter ablehnen und für eine in religiös-ethnischer Hinsicht neutrale Staatsform eintreten, also Israel von einem jüdisch-zionistischen Staat in einen "Staat all seiner Bürger" umwandeln wollen. Andere wehren sich zwar gegen Diskriminierungen, erkennen Israel aber trotzdem als jüdischen Staat an.

QuellentextMelech Zilbershlag erklärt auf YouTube die Welt der Haredim

Das Wort melech bedeutet auf Hebräisch König, doch Melech Zilbershlag, ein 20-jähriger, Kippa tragender Israeli, der schnell zu einer hebräisch sprechenden YouTube Berühmtheit wurde, hat nichts Hoheitliches oder Hochtrabendes an sich. Mit seinen schnell gesprochenen, doch vielsagenden Auftritten hilft er, die Verständniskluft zwischen ultraorthodoxen und säkularen Kulturen in seinem Land zu überbrücken.

Zilbershlags Videos, die meist etwa zwei Minuten dauern, werden von Kan 11, der jüngst eingerichteten israelischen Rundfunkgesellschaft, ausgestrahlt, die Zilbershlag als neues Talent rekrutierte. In diesen Videos spricht Zilbershlag über Selfies oder über Tinder, eine APP zur Partnerschaftssuche, die gerne mit erotischen Kurzabenteuern assoziiert wird, genauso unverkrampft wie über Pessach-geeignete Nahrungsmittel. Er spricht viele Themen an, die in der ultraorthodoxen Gesellschaft oft vermieden werden, wie etwa romantische Liebe (und in diesem Zusammenhang Tinder) oder das Feiern des Unabhängigkeitstages (ein säkularer Feiertag, mit dem sich viele Ultraorthodoxe nicht identifizieren). Auch schreckt er nicht vor Klischees oder Stereotypen über die ultraorthodoxe Gemeinschaft zurück, die er ebenso schnell wie charmant demontiert. Andere Themen beinhalten den ultraorthodoxen "dress code" oder die Frage, wie es gelingt, eine WhatsApp- oder Snapchat-Meldung ausnahmslos in Jiddisch zu erstellen. [...]

In einem Portrait, das die Zeitung Haaretz im Juni 2017 von ihm veröffentlichte, sagte Zilbershlag, er wolle die Welt(en) der israelischen Haredim weniger unnahbar und einschüchternd erscheinen lassen. Tatsächlich ist die klare und unbefangene Art, mit der Zilbershlag die scheinbar komplexen Traditionen und Nuancen ultraorthodoxen Judentums zur Sprache bringt, entwaffnend und gewinnend. Beispielsweise drehte er Videos darüber, wie man es anstellt, einen wirklich koscheren HanukkahDoughnut auszuwählen, die eigenen Schläfenlocken zu pflegen oder ein Selfie mit einem Mädchen zu machen und dabei einen gesitteten Eindruck zu wahren. [...]

Zilbershlag wuchs in Haifa auf, als Mitglied der Seret-Vizhnitz Hasidischen Gemeinschaft sowie als Sohn des Politikberaters und Werbefachmanns Dudi Zilbershlag und einer Mutter, die er als "sehr großzügig und aufgeschlossen" schildert. Er verbrachte ein paar Jahre in Jerusalem und besuchte im Alter zwischen 13 und 18 Jahren eine Bnei Brak Yeshiva [ultraorthodoxe jüdische Hochschule]. "Wir hatten zuhause kein Fernsehen, hatten aber keine Vorbehalte gegen Medien oder Zeitungslektüre." [...] Noch in seiner Schulzeit gelangte Zilbershlag schrittweise zu Internetruhm, nachdem er 2013 einen Twitter- und einen Facebook-Account eröffnet hatte [...].

Flora Tsapovsky, "Meet Melech Zilbershlag, the Israeli Millennial Who’s Becoming a YouTube Sensation", in: Tablet vom 23. Juni 2017 (aus dem Englischen übersetzt)

Kontroversen um den jüdischen Charakter des Staates

Das moderne Israel aber ist weit davon entfernt, von religiösen Akteuren oder Strukturen dominiert zu werden. Nichtsdestotrotz bringt die enge Bindung der Staatslegitimation an religiöse Vorstellungen und Traditionen Spannungen und Diskussionen hervor, die auch in Zukunft den jüdischen Staat weiter prägen werden.

Die meisten Juden sehen in Israel einen jüdischen Staat im Sinne eines Gemeinschaftswesens für Juden. Dazu gehören eine jüdische Bevölkerungsmehrheit und die Privilegierung von Juden gegenüber anderen ethnischen und religiösen Gruppen wie sie etwa über das Staatsbürgergesetz begründet wird. Ob und in welchem Ausmaß aber religiöse Traditionen das jüdische Staatswesen prägen sollen, ist höchst umstritten. Heftig debattiert wird in den letzten Jahren vor allem die Frage, wie der demokratische und der jüdische Charakter des Staates zu gewichten sind und ob demokratische oder religiös-gesetzliche Elemente den Vorrang haben, sollten diese miteinander in Konflikt geraten.

Solche Diskussionen werden durch die weiterhin offene Zukunft der Palästinensergebiete befeuert. Eine Annexion dieser Gebiete würde die jüdische Mehrheit im israelischen Staat in Frage stellen. Da dies aber aufgrund der zunehmenden Abkehr von der Zweistaatenlösung ein mögliches Szenario wäre, sind rechte und religiöse Kräfte dazu übergegangen, die ethnisch-religiösen Aspekte des Staates zu stärken – was wiederum demokratische Elemente wie etwa den Schutz von Minderheiten auszuhöhlen droht.

Wie diese Dynamiken aber auch verdeutlichen, geht es hier nicht um die Frage einer generellen Unvereinbarkeit von Judentum und Demokratie. Zum einen existiert ein weites Spektrum jüdischer Selbstdefinitionen und Zugehörigkeiten. Zum anderen sind auch orthodox-jüdische Formationen alles andere als eine starre Fortführung althergebrachter Traditionen, sondern äußerst dynamische Gruppen, die von ihrer Interaktion mit äußeren Einflüssen geprägt sind und sich auch weiterhin verändern und erneuern werden.

Dr. Daniel Mahla ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Jüdische Geschichte und Kultur der LMU München und Koordinator des Zentrums für Israel-Studien. Dr. Daniel Mahla hat die Koordination für dieses Heft übernommen.