Als weltweit aktive Wirtschaftsnation ist Deutschland grundlegend an institutionalisierten multilateralen Kooperationsformaten auf der europäischen wie der globalen Ebene interessiert. Tatsächlich hat die Bundesrepublik jahrzehntelang von einer solchen internationalen Ordnung profitiert, ohne allzu viel zu deren Ausgestaltung und Aufrechterhaltung beitragen zu müssen. Es herrschte die Überzeugung vor, dass die Globalisierung ein Internationales System hervorgebracht hat, dessen Akteure in vielfältigen gegenseitigen Abhängigkeitsverhältnissen zueinanderstehen, die Kooperation mit wachsendem Nutzen belohnen und deren Aussetzung oder Verweigerung mit Nachteilen bestrafen. Die deutsche Politik vertraute auf die Bereitschaft der übrigen Akteure, dieser Rationalität ebenfalls zu folgen – und auf die Stärke und Innovationskraft der Wirtschaft des Landes. Konflikte konnten so durch Regeln, Institutionen, Interessenausgleich und Kompromisse verhindert oder beigelegt werden, harte Machtmittel wie insbesondere das Militär wurden dagegen skeptisch bis ablehnend betrachtet. Die Bundesrepublik Deutschland konnte sich so als Zivilmacht mit sehr begrenzten machtpolitischen Ambitionen und Fähigkeiten erfolgreich in der Spitzengruppe der großen Volkswirtschaften etablieren.
Schattenseiten der Globalisierung
Diese oft blauäugige Wahrnehmung der Welt verdrängte indes, dass sich Mächte wie China oder Russland, aber auch Schwellenländer wie Indien oder Brasilien nicht als gleichberechtigte Mitglieder einer im Wesentlichen vom politischen Westen geschaffenen Ordnung betrachteten und ihre Gestaltungsansprüche auch zunehmend machtpolitisch untermauerten. China setzte dabei vor allem auf seine wirtschaftliche Kraft, Russland auf die fortschreitende Militarisierung seiner Außenbeziehungen und schließlich den Einsatz von Gewalt.
Während der Coronavirus-Pandemie, die sich seit 2020 global verbreitet, und schließlich mit Russlands zweiter Aggression nach 2014 in der Ukraine am 24. Februar 2022 wurden die Schattenseiten eines zu großen Vertrauens in die stabilisierenden Effekte der Globalisierung überdeutlich: Verletzlichkeit und Abhängigkeit von Partnern, die anderen Rationalitäten folgen. Mit Blick auf China waren es zu Beginn der Coronavirus-Pandemie vor allem fehlende medizinische Bedarfsartikel wie Masken oder Spritzen, später dann Lieferkettenprobleme etwa im Bereich von Speicherchips, die das Maß der Angewiesenheit auf einen zunehmend schwierigeren Partner aufzeigten. Viel drastischer fällt dieser Zusammenhang am Beispiel Russlands ins Auge, das mit seinem Überfall auf die Ukraine das Ende der Energiepartnerschaft mit Europa bewusst einkalkulierte. In ganz Europa und insbesondere in Deutschland zeigt sich jetzt aber auch, welche ökonomischen, politischen und sozialen Kosten mit der Beendigung eines solchen Abhängigkeitsverhältnisses verbunden sind.
Zudem verdeutlichte die russische Aggression die weitgehende Abhängigkeit Deutschlands wie Europas von den USA, wenn es um Fragen der Sicherheit und Verteidigung geht. Hier muss es als Glücksfall für Europa gelten, dass während dieser weltpolitischen Krise mit Joe Biden eine Persönlichkeit das Amt des US-Präsidenten bekleidet, die den Wert der transatlantischen Partnerschaft hoch schätzt und der Ukraine sowie bedrängten NATO-Partnern erhebliche Unterstützung zukommen lässt. Dies entbindet Deutschland und Europa jedoch nicht von der Aufgabe, erheblich größere Anstrengungen im Verteidigungsbereich zu unternehmen, um sich auch selbst gegen wieder wachsende militärische Bedrohungen abzusichern.
Bundeskanzler Olaf Scholz hat in seiner Rede vor dem Deutschen Bundestag am 27. Februar 2022, kurz nach dem Beginn der neuerlich russischen Aggression gegen die Ukraine, von einer "Zeitenwende in der Geschichte unseres Kontinents" gesprochen, nach der die Welt nicht mehr dieselbe sei wie zuvor. Scholz stellte sich ausdrücklich an die Seite der Ukraine und sagte erhebliche Steigerungen in den Verteidigungsanstrengungen Deutschlands zu – unter anderem ein "Sondervermögen Bundeswehr" in Höhe von 100 Milliarden Euro. Der Begriff der Zeitenwende erscheint daher auch passend für die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik, die zwar nicht vor einer völligen Neuausrichtung, sehr wohl aber vor wichtigen Anpassungen an eine Weltordnung steht, die nicht mehr nur den lange für Deutschland so günstigen Regeln folgt.
Herausforderungen und Interessen
Die verschiedenen Herausforderungen und die mit diesen verbundenen Akteure der internationalen Sicherheitspolitik wirken sich auch auf Deutschland und seine Bemühungen um Freiheit, Sicherheit und Wohlstand seiner Gesellschaft aus. Als Ausgangspunkt für die Erörterung der möglichen Ansätze einer neuen Außen- und Sicherheitspolitik Deutschlands sollen hier zusammenfassend drei Bündel von Herausforderungen bzw. handlungsleitenden Interessen vorgestellt werden:
Zuerst geht es um die Bewahrung der Sicherheit und Handlungsfähigkeit des Landes und seiner Institutionen sowie um den Zusammenhalt der Gesellschaft auf der Grundlage der freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Dabei stehen Ansätze zur nationalen Resilienzbildung gegen externe Bedrohungen im Vordergrund.
Zum Zweiten werden Wege zur Selbstbehauptung Deutschlands als Teil eines freien und demokratischen Europas in einer sich herausbildenden Weltordnung betrachtet. Den dort entstehenden Machtzentren und -dynamiken kann nur eine in ihrer internationalen Handlungsfähigkeit gestärkte Europäische Union gegenübertreten. Daran entscheidend mitzuwirken, wird eine wesentliche Aufgabe der deutschen Politik bleiben.
Drittens schließlich wird zu betrachten sein, wie eine multilaterale internationale Ordnung aufrechterhalten oder wiederhergestellt werden kann. Dies ist ein für Deutschland wie die EU gleichermaßen wichtiges politisches und wirtschaftliches Ziel, welches wiederum nur gemeinsam erreicht werden kann.
Die Bewältigung dieser Herausforderungen wird Land und Gesellschaft aber auch deutliche Anpassungen seiner strategischen Kultur abverlangen – also jenes dauerhaften, fest im kollektiven Bewusstsein einer Nation verwurzelten Sets an Normen, Werten und Handlungsmaximen, welche ihre Selbstwahrnehmung und ihr internationales Verhalten prägen. Deutschlands traditionelle Zurückhaltung in klassischen machtpolitisch-militärischen Fragen wird in vielen Hauptstädten bereits seit längerem als den politischen und wirtschaftlichen Möglichkeiten des Landes nicht angemessen betrachtet – gerade mit Blick auf die Lasten der gemeinsamen Verteidigung. Bundeskanzler und Parlament haben im Februar 2022 hohe Erwartungen in EU und NATO hinsichtlich einer neuen sicherheits- und verteidigungspolitischen Rolle Deutschlands geweckt. Deutschland muss nun aber auch liefern, wenn es nicht weiteren Schaden an seiner Verlässlichkeit und Reputation nehmen will.
Resilienzbildung als Aufgabe der Außen- und Sicherheitspolitik
Zu den wichtigen Trends in der internationalen Sicherheitspolitik gehört, dass folgenreiche Bedrohungen und Risiken sich immer mehr überlagern und in ihren Ursachen und Folgen immer schwerer abzuschätzen sind. Die Verantwortung für gefahrvolle Ereignisse und Entwicklungen kann angesichts oft verdeckt agierender, aber wirkmächtiger nicht staatlicher Akteure nicht immer eindeutig zugeschrieben werden, insgesamt verschwimmen die Grenzen zwischen inner- und zwischenstaatlicher Sicherheit immer mehr.
Neben den Bemühungen um die Kontrolle bekannter Herausforderungen geht es in der Sicherheitspolitik vermehrt darum, auch das Eintreten unerwarteter und unbekannter Risiken jeglicher Art als Teil der Realität einer komplexen Welt anzuerkennen (all-hazard approach) – und das politische Augenmerk verstärkt auf die Aufrechterhaltung staatlicher Handlungsfähigkeit, Früherkennung und Prävention, schließlich aber auch auf Schadensmanagement und die Befähigung zu Reaktion und Anpassung an neue Gegebenheiten zu legen. Ziel ist es dabei, die Überlebensfähigkeit staatlicher und gesellschaftlicher Strukturen und deren Funktionsweisen so abzusichern, dass diese nach einem nicht abwendbaren Schadensereignis so rasch wie möglich zu einem größtmöglichen Maß an Normalität zurückkehren können. Für diese Art von Überlebensfähigkeit hat sich auch in der Außen- und Sicherheitspolitik der aus der Psychologie übernommene Begriff der Resilienz etabliert – hinter dem sich ein komplexes Konzept gesamtstaatlicher und -gesellschaftlicher Sicherheitsvorsorge (whole-of-society approach) verbirgt.
Damit ist gemeint, dass die Funktionsfähigkeit eines Gemeinwesens nicht nur von staatlichen Stellen abhängt, sondern von der aktiven und verantwortungsbewussten Mitwirkung aller Mitglieder der Gesellschaft. Der Umgang mit der Coronavirus-Pandemie seit 2020 in Deutschland kann als eine solche gesamtgesellschaftliche Anstrengung gegen ein plötzlich eintretendes und massives Risiko betrachtet werden, aber auch der Schutz kritischer Infrastruktur oder die Abwehr hybrider Bedrohungen im Cyber- und Informationsraum gehören zu diesen gesamtgesellschaftlichen Herausforderungen.
Resilienzbildung ist zunächst eine innerstaatliche Aufgabe, deren Bezug zur auswärtigen Politik indes offenkundig ist: Es geht um die Reduzierung strategischer Abhängigkeiten etwa von Russland im Energie- und Ressourcenbereich oder die Kontrolle des Zugangs zu Kommunikationsnetzwerken oder Hochtechnologiefirmen durch China. Des Weiteren kann ein auf seine innere Stabilität vertrauendes Gemeinwesen signalisieren, dass etwa Versuche, hybride Formen der Kriegsführung anzuwenden, wenig erfolgversprechend sind. Tatsächlich gelingt es der Bundesrepublik Deutschland bislang recht gut, von außen herangetragene Desinformationskampagnen oder Versuche gesellschaftlicher Spaltung abzuwehren und abzuschwächen.
Stärkung des euro-atlantischen Handlungsrahmens
Im Umgang mit der russischen Aggression in der Ukraine hat sich die NATO wieder als entscheidender Sicherheitsanker für Deutschland und Europa erwiesen. Eine enge Beziehung zu den USA bleibt für die deutsche Sicherheitspolitik daher von überragender Bedeutung. Allerdings ist Deutschland und Europa in den disruptiven Jahren der Präsidentschaft Donald Trumps die Gewissheit abhandengekommen, dauerhaft eine natürliche Schutzmacht an ihrer Seite zu haben. Es ist keinesfalls ausgeschlossen, dass nach der wieder mehr partnerschaftlichen Biden-Administration Trump selbst oder einer seiner Wiedergänger die transatlantischen Beziehungen wieder in Turbulenzen bringt. Europa wird daher um die Fortentwicklung seiner actorness als ernstzunehmende Macht auf der weltpolitischen Bühne nicht umhinkommen – im günstigen Falle zusammen mit den USA, im weniger günstigen Fall aber auch als ein eigenständigerer Akteur. Die EU bleibt damit der wichtigste Handlungsrahmen Deutschlands.
Im sicherheitspolitischen Bereich bedeutet dies für Deutschland, dass in der Krisen- und Konfliktbewältigung politisch-diplomatische Ansätze zwar weiterhin eindeutigen Vorrang haben, die militärische Dimension aber an Gewicht gewinnen wird. Russlands Ukraine-Krieg zeigt, dass Demokratien auch wehrhaft sein müssen. Der rasche Wiederaufbau einer durch jahrzehntelange Einsparungen und ineffiziente Strukturen nur beschränkt einsatzbereiten Bundeswehr wäre ein entscheidender Beitrag zur Selbstbehauptung Europas und damit auch Deutschlands in einer multipolaren Welt. Dies setzt auch erhebliche Reformen innerhalb der Großbürokratie voraus, zu der sich die Bundeswehr in weiten Teilen entwickelt hat.
Im Kern läuft die Stärkung der europäischen Handlungsfähigkeit auf eine weitergehende Vergemeinschaftung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) sowie der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) der EU hinaus. Im 2020 unterzeichneten "Vertrag von Aachen" präsentieren sich Deutschland und Frankreich als eine Avantgarde von Staaten, die zu vertiefter Zusammenarbeit bereit sind. Die Zahl dieser Staaten, vor allem aber deren Gesellschaften, deren Bürgerinnen und Bürger, durch überzeugende Argumente und ein gutes eigenes Beispiel zu vergrößern, ohne dabei neue Risse zwischen den EU-Mitgliedern entstehen zu lassen, wird eine zentrale Herausforderung der deutschen Europapolitik der nächsten Jahre sein.
Multilaterale Kooperation bewahren
Die Aufrechterhaltung und weitere Stärkung multilateraler Kooperation auf der regionalen wie der globalen Ebene bleibt ein wichtiges Anliegen deutscher Außen- und Sicherheitspolitik – allerdings auch eines, welches dem Land weiterhin Anstrengungen abverlangen wird. Innerhalb von EU und NATO kann Deutschland dazu beitragen, dass diese Organisationen auf der internationalen Bühne weiterhin und verstärkt als ein Beispiel für effektiven Multilateralismus wahrgenommen wird. Hier kann die Bundesrepublik Rollen, Aufgaben und Lasten übernehmen, die seiner Leistungsfähigkeit entsprechen und die ein breites Spektrum von solidarischen Finanzierungsmechanismen in der EU, Hilfen bei der Aufnahme von geflüchteten Menschen bis hin zu Verteidigungsaufgaben und der Unterstützung angegriffener Partner wie der Ukraine abdecken können. Durch die EU können Ländern und Regionen Kooperationsangebote gemacht werden, welche fairer und überzeugender sind als diejenigen aus China oder Russland.
Auf der globalen Ebene sind es vor allem die Vereinten Nationen (VN) und ihr Institutionengeflecht, denen Deutschland stets hohe Wertschätzung entgegenbringt, dann aber im konkreten Handeln oft hinter der freundlichen Rhetorik zurückbleibt. Hier könnte bei der Entsendung qualifizierten Zivil- und Militärpersonals in die komplexen VN-Friedensmissionen oder im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit entsprechende Zeichen zur Stärkung multilateraler Kooperationsformate gesetzt werden.
Mit all diesen Ansätzen sind nicht unerhebliche Kosten verbunden – finanzielle, aber auch politische wie etwa hinsichtlich der in Deutschland wenig populären militärischen Beiträge zur regionalen und globalen Sicherheit. Diese Kosten dürften sich aber gering ausnehmen im Vergleich zu denen, die entstehen, wenn die Regeln einer neuen Weltordnung von Autokratien geschrieben werden.
Perspektive: Deutschland als europäische Führungsmacht?
In seiner "Zeitenwende" hat Bundeskanzler Scholz mit Unterstützung der größten Oppositionsfraktion den Aufbau neuer militärischer Fähigkeiten für die gemeinsame Sicherheit im euro-atlantischen Raum versprochen. Das "Sondervermögen Bundeswehr" wurde seither parlamentarisch auf den Weg gebracht, erste Beschaffungsmaßnahmen wie der Kauf US-amerikanischer F35-Flugzeuge zur Aufrechterhaltung der "nuklearen Teilhabe" Deutschlands wurden beschlossen. Die Bundesrepublik wird aber auch die Bedingungen und Grundsätze für den möglichen Einsatz dieser neuen Kapazitäten klären müssen. Dies gilt umso mehr als mit diesen auch klare Erwartungen insbesondere der kleineren Verbündeten und Partner nach Leistungsbereitschaft und vor allem Führung durch Deutschland einhergehen.
Diese Erwartungen sind nicht neu, sie lassen sich in einem Zitat des damaligen polnischen Außenministers Radoslaw Sikorski aus dem Jahr 2011 auf den Punkt bringen: "Deutsche Macht fürchte ich heute weniger als deutsche Untätigkeit." Demgegenüber trat Deutschland – seiner strategischen Kultur machtpolitischer Zurückhaltung folgend – in Situationen, in denen es wie in der Währungs- und Schuldenkrise 2010 oder bei der Reaktion auf die russische Aggression in der Ukraine 2014 plötzlich in eine europäische Führungsrolle geriet, eher integrierend und moderierend und nicht als Gefolgschaft einfordernd auf.
An diesem Stil soll und muss sich auch nichts Grundlegendes ändern. Niemand will ein auftrumpfendes Deutschland an der Spitze Europas – am wenigsten die Deutschen selbst. Internationale politische Führung bedeutet vielmehr, in kritischen Situationen mit überzeugenden und mit den größeren wie kleineren Partnern abgestimmten Lösungsansätzen aufzutreten und dann auch die Fähigkeit und den Willen zu deren Umsetzung zu haben – in der Euro-Krise, bei der Unterstützung der Ukraine oder im Umgang mit Russland. Dies erfordert Initiative und Mut, nach außen gegenüber der internationalen Öffentlichkeit, vor allem aber auch nach innen, gegenüber der eigenen Gesellschaft.
Die Chancen, aber auch die Herausforderungen außen- und sicherheitspolitischer Schritte gegenüber dem eigenen Souverän offen und transparent zu kommunizieren, ist in Demokratien wie der deutschen eigentlich eine Selbstverständlichkeit. In Deutschland gehört Sicherheitspolitik nicht zu den traditionell interessantesten Diskursthemen. Auch dies scheint sich unter dem Eindruck der russischen Aggression in der Ukraine zu ändern. Außenministerin Annalena Baerbock und Wirtschaftsminister Robert Habeck jedenfalls verdeutlichen in ihrer politischen Kommunikation die Inkonsistenzen und Dilemmata, vor denen auswärtige Politik in existenziellen Entscheidungssituationen immer wieder steht, wenn es wie in der Frage der Unabhängigkeit von russischer Energie keinen einzig richtigen Weg, sondern nur die Wahl zwischen unterschiedlich problematischen Ansätzen gibt.
In Demokratien hängt der außenpolitische Kurs eines Landes entscheidend vom Rückhalt in der eigenen Bevölkerung ab. Diesen immer wieder neu zu gewinnen und zu erhalten ist ebenfalls die Aufgabe, aber auch die Kunst politischer Führung. Ein mögliches Instrument hierzu ist die erste Nationale Sicherheitsstrategie Deutschlands, die unter Federführung des Auswärtigen Amtes ausgearbeitet wird und wohl Anfang 2023 vorliegen wird. Die wichtigste Aufgabe einer solchen Strategie ist es, eine Einschätzung wichtiger Entwicklungen in der internationalen Politik sowie deren Auswirkungen auf die Interessen Deutschlands und seiner Partner vorzunehmen und gegenüber der eigenen Gesellschaft wie auch dem internationalen Umfeld darzulegen, wie sich Deutschland eine angemessene (Führungs-)Rolle im Verbund mit Frankreich und möglichst vielen weiteren europäischen Ländern bei der Bewältigung der komplexen Herausforderungen vorstellt.
Der Wert einer solchen Strategie besteht idealerweise darin, dass sie einen klaren Maßstab formuliert, anhand dessen die praktische Politik des Landes beurteilt werden kann. Für die oft zaudernde und mit wenig Mut zur Positionierung ausgestattete deutsche Außen- und Sicherheitspolitik ist dies zweifellos ein Wagnis. Angesichts der drängenden Probleme, zu deren Lösung sie entscheidende Beiträge wird leisten müssen, kann eine solche Selbstverpflichtung aber auch zum Katalysator für eine entschlossene Politik in, mit und für Europa werden.