Das Nordatlantische Bündnis als zentrales Element der kollektiven Verteidigung Europas
"Our world is contested and unpredictable", so heißt es in der Einleitung zum neuen Strategischen Konzept der NATO, dass auf dem Gipfel von Madrid am 29. Juni 2022 verabschiedet wurde. Damit zog die Nordatlantische Allianz (NATO) einige radikale Konsequenzen aus dem sich seit längerem abzeichnenden fundamentalen Wandel ihres sicherheitspolitischen Umfeldes. Erneut musste die NATO damit die Flexibilität und Anpassungsfähigkeit unter Beweis stellen, die sie seit über 70 Jahren zum ältesten und wohl erfolgreichsten militärpolitischen Bündnis der Welt hat werden lassen.
Kernfunktionen
Lord Ismay, dem ersten Generalsekretär der NATO (1952–1957), wird die Aussage zugeschrieben, dass das Bündnis drei zentrale Aufgaben habe: "to keep the Russians out, the Americans in, and the Germans down". Diese Formulierung traf 1950, fünf Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges die Stimmung der Zeit, aber noch heute beschreibt sie plakativ den Kern der Allianzaufgaben:
kollektive Verteidigung nach außen,
Kooperation und transatlantische Bindung nach innen und
ein Mindestmaß an kollektiver Sicherheit in- und außerhalb der Allianzgrenzen.
Formal gesehen handelt es sich bei der NATO um ein Solidaritätsversprechen souveräner Nationen für den Fall sicherheitspolitischer Bedrohungen von außen, jedoch ohne militärischen Automatismus. Dieser politische Anspruch wurde Schritt für Schritt in institutionelle Formen gegossen und den jeweiligen Erfordernissen der Zeit angepasst. Vor dem Hintergrund der Konfrontation zweier hochgerüsteter Machtblöcke repräsentierte die Allianz in den ersten vierzig Jahren zwischen ihrer Gründung 1949 und dem Ende des Kalten Krieges 1989 primär eine Institution zur Bewahrung des politischen Status quo in Europa. Basierend auf der "Gleichgewicht des Schreckens" genannten Erkenntnis, dass beide Seiten dazu in der Lage wären, sich unabhängig von der Möglichkeit eines nuklearen Überraschungsschlages gegenseitig und endgültig zu vernichten, wurde die Kriegsvermeidung durch Abschreckung und Dialog zur "Überlebenshoffnung" aller europäischen Staaten.
Kollektive Sicherheit
Nach dem Ende des Kalten Krieges gelang es der NATO, ihre Bedeutung für die Sicherheitspolitik ihrer Mitgliedstaaten zu bewahren, sich sogar in Mitgliedschaft und Aufgabenvielfalt weiter auszudehnen. Mit dem Wegfall einer existenziellen Bedrohung für alle Mitgliedstaaten traten dabei die beiden anderen Aspekte der Allianzaufgaben stärker in den Vordergrund: die transatlantische Kooperation und die kollektive Sicherheit. Von Beginn an machte die Präsenz der übermächtigen USA als "external balancer" das jahrhundertalte Ringen um innereuropäische Dominanz weitgehend unnötig. Dies erleichterte nicht nur der Bundesrepublik Deutschland die westliche Integration und später sogar die friedliche Wiedervereinigung, sondern half auch, bilaterale Spannungen wie die Konflikte zwischen Griechenland und der Türkei abzuschwächen und damit größeren Schaden zu vermeiden.
Auch die schrittweise Annäherung der neuen souveränen Staaten Mittel- und Osteuropas an EU und NATO war ein Element dieser kooperativen Form der kollektiven Sicherheit. Erstaunlich flexibel konnte die Allianz dabei ihren Aufgabenkatalog den jeweiligen Sicherheitsbedürfnissen der Zeit anpassen. So wurde schon 1991 mit der Anerkennung der Risiken vermehrter Instabilität an der Bündnisgrenze ein erster Schritt in Richtung Krisenmanagement gemacht, einer Aufgabe, die zwischen dem Beginn des Einsatzes der NATO im Bosnien-Konflikt 1995 (IFOR) und dem Rückzug aus Afghanistan 2021 die militärischen Beiträge der Allianz ein Vierteljahrhundert lang dominieren sollte. Dazu kamen weitere Aspekte wie die Folgen der globalen Klimaveränderung. Aber auch Energie- und Ressourcensicherheit oder Cyberbedrohungen wurden zu Themen des transatlantischen Sicherheitsdialoges. Terrorismusabwehr und zuletzt der zunehmend als bedrohlich empfundene Aufstieg Chinas als Militärmacht im Indo-Pazifik fanden ebenfalls Eingang in die unterschiedlichen Minister- und Gipfelbeschlüsse der Allianz.
Transatlantische Kooperation
In dieser Phase wurde die Aufgabe der transatlantischen Kooperation zu einem wesentlichen Element der Bündnispolitik, galt es doch trotz des geografisch, wirtschaftlich oder politisch bedingten Auseinanderdriftens von Einzelinteressen der Mitgliedstaaten, stets Wege zum Erhalt des Grundkonsenses einer kooperativen Sicherheit in und für Europa zu finden. Die Führungsrolle der USA war immer wieder entscheidend dafür, die unterschiedlichen Interessen der europäischen Mitglieder konstruktiv zusammenzuführen, sei es bei der Frage der Osterweiterung oder bei der Terrorismusabwehr. Umgekehrt gelang es den europäischen Mitgliedern wiederholt, durch das eigene sicherheitspolitische Engagement die USA von der anhaltenden Bedeutung und Nützlichkeit der Allianzstrukturen bei der Verteidigung ihrer eigenen Interessen zu überzeugen.
Die institutionalisierten Dialoggremien und die stetig eingeübte politische wie militärische Kooperationsfähigkeit boten hierbei dauerhaft einzigartige Vorteile für alle Mitgliedstaaten. Hier gilt der längste und mit zeitweise über 50 mitwirkenden Partnernationen größte Einsatz der NATO-Geschichte in Afghanistan von 2003 bis 2021 als herausragendes Beispiel. Das westliche Engagement am Hindukusch begann als Reaktion auf die erste Aktivierung von Artikel 5 des NATO-Vertrages (kollektive Verteidigung), entwickelte sich dann jedoch schnell zum umfassenden Krisenmanagement. Der ehrgeizige Ansatz des "Nation Building" scheiterte am Ende mit der Machtübernahme der Taliban in Kabul und einem schmählich improvisierten Abzug der Alliierten.
Die Gründe dafür sind vielschichtig und eine Aufarbeitung steht noch aus. Rückblickend muss jedoch festgestellt werden, dass die Schwerpunktsetzung auf das Krisenmanagement zwar einerseits die Modernisierung westlicher Streitkräfte hin zu leichten und flexiblen Einsatzkräften massiv vorangetrieben hatte, dass dies aber andererseits nur auf Kosten einer weitergehenden Fähigkeit zur Landes- und Bündnisverteidigung möglich war. So steht spätestens nach der Invasion Russlands in der Ukraine nun wieder eine aufwendige Umrüstung der NATO-Streitkräfte an.
Neue Mitglieder
Anfang der 1990er-Jahre drängten mehrere Staaten Osteuropas, allen voran Polen und Ungarn, mit der Unterstützung der USA und später auch der Bundesrepublik Deutschland auf eine baldige Aufnahme in NATO und EU. Ihre Ziele dabei waren einerseits ein Platz innerhalb der westlichen liberalen Marktwirtschaft, andererseits ein Maximum an äußerer Sicherheit für ihre noch jungen Demokratien. Parallel zum Öffnungsprozess der NATO, der zwischen 1994 und 2022 die Mitgliedschaft der Allianz von 19 auf bald 32 Staaten erhöhte, gehörte zum Stabilitätstransfer der NATO nach Osteuropa auch die Bemühung um eine sicherheitspolitische Kooperation mit Russland.
QuellentextWar die NATO-Osterweiterung abgesprochen?
Rechtlich verbindliche Sicherheitsgarantien fordert Russlands Präsident Wladimir Putin von den USA und deren Verbündeten. Sie sollten jedwedes weitere Vorrücken der NATO nach Osten und die Stationierung offensiver Waffensysteme in unmittelbarer Nähe zur Russischen Föderation ausschließen, sagte er am 30. November [2021] vor ausländischen Diplomaten in Moskau. Über frühere mündliche Versprechen, dass sich die NATO nicht nach Osten ausdehne, hätten die westlichen Partner sich hinweggesetzt.
Dies behauptet Putin seit Jahren. Auch in seiner Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Jahre 2007 sprach er von derartigen Zusicherungen der westlichen Partner nach dem Zerfall des Warschauer Vertrages. Dieser Pakt der mittel- und osteuropäischen Staaten, unter Kontrolle der Sowjetunion, existierte von 1955 bis 1991. Er war das Gegenstück zur NATO.
Wesentlich für die Behauptung einer Zusage an die Sowjetunion sind Gespräche im Februar 1990 zwischen dem damaligen US-Außenminister James Baker und Staatschef Michail Gorbatschow. Einem Memorandum zufolge sagte Baker damals: Die Amerikaner hätten verstanden, dass für die Sowjetunion und andere europäische Länder Garantien wichtig seien für den Fall, dass die USA ihre Präsenz in Deutschland im Rahmen der NATO beibehalten würden, "sich die gegenwärtige Militärhoheit der NATO nicht ein Zoll in östlicher Richtung ausdehnen wird". Gemeint war jedoch das Gebiet der DDR – an eine NATO-Mitgliedschaft von Staaten des 1990 noch bestehenden Warschauer Paktes war damals nicht zu denken.
Putin verwies in München auf eine Aussage des damaligen NATO-Generalsekretärs Manfred Wörner am 17. Mai 1990: "Schon die Tatsache, dass wir bereit sind, die NATO-Streitkräfte nicht hinter den Grenzen der Bundesrepublik Deutschland zu stationieren, gibt der Sowjetunion feste Sicherheitsgarantien." Auch hier war das Gebiet der DDR gemeint. Das wird an einem weiteren Satz Wörners deutlich, den er danach sagte: "Wir könnten uns eine Übergangszeit vorstellen, in der eine verringerte Anzahl von Sowjettruppen in der heutigen DDR stationiert bleiben." Die Wiedervereinigung fand Monate später, am 3. Oktober 1990, statt. Der Abzug der Westgruppe der sowjetischen Streitkräfte vom Gebiet der ehemaligen DDR zog sich bis 1994 hin. […]
Gorbatschow selbst zitierte mehrfach die Worte, wonach sich die NATO keinen Zentimeter nach Osten bewegen würde, so auch in einem Interview mit der "Bild" im Jahr 2009. Fünf Jahre später sagte er im ZDF jedoch, es sei 1990 um das Territorium der DDR gegangen. Eine NATO-Expansion sei damals nicht diskutiert worden: "Der Warschauer Pakt existierte doch noch. Die Frage stellte sich damals gar nicht." Es sei ein Mythos, dass er vom Westen betrogen worden sei.
Dass sich eine Erweiterung der NATO in Richtung Osten nicht zwangsläufig gegen Russland richten musste, war daran zu sehen, dass in den 1990er-Jahren über eine Mitgliedschaft Russlands in der westlichen Militärallianz diskutiert wurde. Doch die Differenzen zwischen den Militärs blieben zu groß. Stattdessen wurde im Mai 1997 die NATO-Russland-Akte unterzeichnet, mit der auch der NATO-Russland-Rat etabliert wurde. Damit bekamen russische Diplomaten Zugang zum NATO-Hauptquartier in Brüssel.
Erst danach begannen die Beitrittsgespräche mit den mitteleuropäischen Staaten. Die NATO sicherte zu, keine Atomwaffen, keine Kommandozentralen und keine Truppen mit einer Stärke von mehr als 10.000 Soldaten pro Land in den Beitrittsländern zu stationieren. 1999 traten Polen, Tschechien und Ungarn bei, 2004 unter anderem Estland, Lettland und Litauen.
Mit dem Kosovo-Krieg 1999 und nach dem Aufstieg Putins an die Macht verschlechterten sich die Beziehungen. Dazu trug damals US-Präsident George W. Bush bei, der unter anderem in Europa eine Raketenabwehr vorantreiben wollte und 2001 den Austritt der USA aus dem ABM-Vertrag zur Begrenzung von Abwehrraketensystemen erklärte.
Bush setzte sich beim NATO-Gipfel 2008 in Bukarest für die Aufnahme der Ukraine und Georgiens ein, erreichte jedoch nur eine generelle Zusage für deren Beitritt, ohne einen Fahrplan (Membership Action Plan – MAP) und einen zeitlichen Horizont.
Bundeskanzlerin Angela Merkel und andere sprachen sich angesichts massiver Kritik Russlands gegen einen Beitritt der beiden ehemaligen Sowjetrepubliken aus. Relevant ist bis heute die Frage, ob die NATO in der Lage wäre, ihrer Beistandsverpflichtung nach Artikel 5 nachzukommen. Das betrifft ihre militärischen Fähigkeiten angesichts der hochgerüsteten und sehr mobilen russischen Streitkräfte. Hinzu kommt die Frage, ob in den NATO-Staaten genug politischer Wille vorhanden wäre. Umfragen des US-Meinungsforschungsinstituts Pew Research Center zeigen seit Jahren, dass die Unterstützung der Bevölkerung in vielen NATO-Staaten schon für Einsätze in den baltischen NATO-Staaten nicht hoch ist.
[…] Bis heute verfolgt der Westen gegenüber Georgien und der Ukraine den Kurs, die Selbstverteidigungskräfte dieser Länder zu stärken und Russland ansonsten mit Wirtschaftssanktionen zu belegen. […]
Silvia Stöber, "Hat die NATO Versprechen gebrochen", in: tagesschau.de vom 3. Dezember 2021