Die Europäische Union (EU) ist mit ihren 27 Mitgliedstaaten eine potenzielle Weltmacht – das gilt jedenfalls dann, wenn sich der Blick auf ihre wirtschaftliche Leistungsfähigkeit, ihre Rolle im globalen Handel oder ihr Profil im internationalen Klimaschutz richtet.
Mit der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) hat die Union zwar einen institutionellen Rahmen geschaffen, der ihr auch in Fragen von Krieg und Frieden eine aktivere Rolle auf der weltpolitischen Bühne erlauben würde. In der Praxis hat sie aber immer wieder Schwierigkeiten, als einheitlicher und durchsetzungsfähiger Akteur aufzutreten. Das liegt zum einen daran, dass die EU kein Staat ist, sondern ein Staatenverbund. Die Union ist auf den Konsens ihrer Mitgliedstaaten angewiesen, die nicht selten unterschiedliche Interessen verfolgen. Zum anderen fehlen der Union wichtige Instrumente, die für eine gemeinsame Sicherheitspolitik notwendig sind.
Das betrifft nicht nur die Entwicklung von zivilen und militärischen Fähigkeiten. Für die EU ist es bereits eine große Herausforderung, für zentrale Probleme in ihrer südlichen und östlichen Nachbarschaft und darüber hinaus eine gemeinsame strategische Sichtweise zu entwickeln. Nicht erst die russischen Angriffskriege gegen die Ukraine haben deutlich gemacht, wie sehr die Union auf stabile internationale Rahmenbedingungen angewiesen ist. Wenn die Europäische Union eine Aussicht darauf haben möchte, die Regeln und die Werte der globalen Politik mitzugestalten, dann bedarf es dringend der Schärfung ihres sicherheitspolitischen Profils.
Die Entwicklung der EU-Sicherheitspolitik
Für die EU bzw. ihre Vorgängerorganisationen spielte die Sicherheitspolitik bis in die 1990er-Jahre hinein nur eine Nebenrolle. Die Versuche, seit den frühen 1970er-Jahren im Rahmen der Europäischen Politischen Zusammenarbeit (EPZ) zu einer engeren außenpolitischen Abstimmung zu gelangen, waren nur wenig erfolgreich. Während Westeuropa ein immer stärkeres Gewicht in der Weltwirtschaft erlangte, war es außen- und sicherheitspolitisch kaum handlungsfähig.
Mit dem Vertrag von Maastricht, der 1993 in Kraft trat, wurde als zweite Säule der EU die intergouvernementale (d.h. zwischenstaatliche, dem Einstimmigkeitsprinzip folgende) Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) geschaffen. Die sicherheitspolitische Praxis der Folgejahre erinnerte an ein Pendel, das beständig zwischen den beiden Polen "Krise" und "Reform" ausschlug. Die Kriege um Bosnien-Herzegowina (1995) und den Kosovo (1999) ließen deutlich werden, dass die Union bei der Krisenbewältigung auf dem eigenen Kontinent auf die militärischen Kapazitäten und das politische Gewicht der USA angewiesen war. Im Vorfeld des Irak-Krieges von 2003 kam es gar zu einem regelrechten Zerwürfnis, als sich viele Mitgliedstaaten der "Koalition der Willigen" um die USA anschlossen, während sich eine Gruppe um Deutschland und Frankreich den Kriegsplänen widersetzte. Um auf diese Erfahrungen zu reagieren, haben die mitgliedstaatlichen Regierungen im Amsterdamer Vertrag (1999) eine vorsichtige Annäherung der Verteidigungspolitik an die GASP vorgenommen. Die sogenannten Petersberg-Aufgaben im Rahmen der internationalen Friedenssicherung wurden in den Vertrag übernommen, um die möglichen Handlungsfelder präziser zu beschreiben. Dazu zählen:
gemeinsame Abrüstungsmaßnahmen
humanitäre Aufgaben und Rettungseinsätze
Aufgaben der militärischen Beratung und Unterstützung
Aufgaben der Konfliktverhütung und der Erhaltung des Friedens sowie
Kampfeinsätze im Rahmen der Krisenbewältigung einschließlich friedensschaffender Maßnahmen und Operationen zur Stabilisierung der Lage nach Konflikten.
Zudem wurde die Einrichtung des Amtes des "Hohen Vertreters der Union für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik" beschlossen.
Erst mit der Entscheidung des Europäischen Rates von Köln im Juni 1999, eine Europäische (heute: Gemeinsame) Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu schaffen, begann die EU, auch die zivilen und militärischen Fähigkeiten für das gesamte Spektrum der "Petersberg-Aufgaben" zu entwickeln. Der 2003 in Kraft getretene Vertrag von Nizza vollzog diesen Durchbruch auch vertragsrechtlich nach. Die meisten Regeln der gescheiterten Europäischen Verfassung finden sich im Vertrag von Lissabon, der 2009 in Kraft trat und die aktuelle Rechtsgrundlage der EU ist. GASP und GSVP sind intergouvernemental geblieben, sie hängen weiterhin vom Konsens der Mitgliedstaaten ab. Dennoch gab es auch wichtige Reformen, so etwa die Schaffung des Europäischen Auswärtigen Dienstes und insbesondere die Einführung der "Beistandsklausel". Die Mitgliedstaaten vereinbarten in Art. 42 (7) EUV, sich "im Falle eines bewaffneten Angriffs" wechselseitig "alle in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung" zu schulden.
Einen neuen Anstoß erfuhr die EU-Sicherheitspolitik in der zweiten Hälfte der 2010er-Jahre. Erstens trat mit dem Vereinigten Königreich ein sicherheitspolitisch profilierter Mitgliedstaat aus der EU aus. Zweitens führte die Trump-Administration Europa vor Augen, dass es sich nicht selbstverständlich auf die Unterstützung der USA verlassen kann. Drittens rückte der russische Einmarsch in ukrainisches Staatsgebiet 2014 die Frage der militärischen Verteidigung zurück auf die EU-Tagesordnung. An der 2017 begonnenen Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit (Permanent Structured Cooperation, PESCO) nehmen (mit Ausnahme Maltas) mittlerweile alle EU-Mitglieder teil. Diese Möglichkeit hatte der Lissabonner Vertrag geschaffen. PESCO soll dem Ziel einer "Verteidigungsunion" dienen. Geplant ist eine enge Zusammenarbeit bei der Entwicklung und der Beschaffung militärischer Instrumente. Die Schaffung einer gemeinsamen Armee ist damit aber nicht verbunden.
Die institutionelle Struktur von GASP und GSVP
Hinter der EU-Sicherheitspolitik verbirgt sich ein dichtes und komplexes Netz von Gremien, das von den Regierungen der Mitgliedstaaten dominiert wird. Die Leitlinien werden vom Europäischen Rat gesetzt, in dem die Staats- und Regierungschefs, der Präsident des Europäischen Rates und die Präsidentin der Europäischen Kommission mehrmals im Jahr zusammenkommen. Auf dieser Grundlage agiert der mindestens monatlich tagende Rat der Außenminister, der die förmlichen Entscheidungen in diesem Bereich trifft. Der Rat entscheidet in der GASP/GSVP grundsätzlich einstimmig. Seine Arbeit wird vom Politischen und Sicherheitspolitischen Komitee unterstützt, in dem hohe Beamte aus den nationalen Außenministerien mehrmals wöchentlich zusammenkommen. Hinzu kommen zahlreiche thematische Arbeitsgruppen. Sie gleichen die Positionen der Regierungen zur internationalen Lage ab und überwachen die Durchführung der Politik.
Den Vorsitz im Rat führt der Hohe Vertreter der Union für die Außen- und Sicherheitspolitik, der in seinem Handeln letztlich von den Vorgaben der Mitgliedstaaten abhängig ist. Er ist zugleich Vizepräsident der Kommission und soll dadurch für eine bessere Abstimmung der beiden Organe sorgen. Ihn unterstützt der Europäische Auswärtige Dienst, in dem thematische und regionale Generaldirektionen, Einheiten zur Planung und Durchführung ziviler und militärischer Operationen sowie gut 140 EU-Delegationen in Drittstaaten sowie bei internationalen Organisationen zusammengefasst sind. Seit dem 1. Dezember 2019 hat der Spanier Josep Borrell das Amt des Hohen Vertreters bis Ende 2024 inne.