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Abschreckung statt Abrüstung | bpb.de

Informationen zur politischen Bildung Nr. 353/2022

Abschreckung statt Abrüstung

Gerlinde Groitl

/ 9 Minuten zu lesen

Nach 1991 schien eine gemeinschaftliche Konfliktbewältigung greifbar. Dies rückt aber zurzeit in immer weitere Ferne: Blick auf die im Zuge des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine weitgehend zerstörte Stadt Welyka Olexandriwka in der Region Cherson (© picture-alliance, AA / Metin Aktas)

Nach dem Ende des Kalten Krieges gab es ab 1991 zunächst keinen prägenden Großmachtkonflikt in der Weltpolitik. Die USA waren als einzig verbliebene Supermacht politisch, ökonomisch, militärisch und in ihrer kulturellen Anziehungskraft (soft power) weit überlegen. Russland war nach dem Zerfall der Sowjetunion von Schwäche gezeichnet. Die Volksrepublik China profitierte von der Öffnung gegenüber dem Westen, lag aber als Entwicklungsland weit zurück. Die meisten Staaten eiferten, so die fehlerhafte westliche Wahrnehmung, vermeintlich dem liberalen Modell von Demokratie, Marktwirtschaft und Freiheit nach. Unter diesen Bedingungen schienen Abrüstung und gemeinschaftliche Konfliktbewältigung in greifbarer Nähe. Inzwischen ist dieser Traum jedoch geplatzt und Russlands Angriff auf die Ukraine stellt dabei nur die Spitze des Eisberges dar.

Russland und China, aber auch der Iran verstehen sich selbst als Großmächte mit dem Ziel, ihre jeweilige Nachbarschaft zu dominieren. Eine US-amerikanische Hegemonie sehen sie als Bedrohung für ihre Interessen. Beim Kampf um Macht, Einfluss und die Spielregeln der Weltpolitik spitzt sich der Konflikt mit dem Westen zu, während die Chancen für eine kooperative Sicherheitspolitik schwinden.

QuellentextTheorievergleich: Russlands Ukraine-Krieg

Wie in anderen Wissenschaften gibt es auch im Fachgebiet Internationale Beziehungen verschiedene Theorietraditionen, die man auch als Denkweisen oder Weltbilder bezeichnen kann. Diese Weltbilder setzen unterschiedliche Schwerpunkte und entwickeln ihre eigenen Deutungen der Wirklichkeit; sie stehen untereinander im Wettbewerb und ergänzen sich zugleich. Das wohl bekannteste dieser Weltbilder ist der "Realismus", für den Machtpolitik im Zentrum der internationalen Beziehungen steht; allerdings auch Sicherheit. Abstrakte Rechte wie Selbstbestimmung seien weitgehend ohne Bedeutung, wenn mächtige Staaten mit schwächeren in Konflikt gerieten […].

[…] Offensiver Macht begegnet man dem realistischen Weltbild zufolge mit Abschreckung und Gleichgewichtspolitik, zur Not und wenn man stark genug ist auch mit Gegengewalt. Eine Komplikation in dieser Programmatik ist dabei freilich das Sicherheitsdilemma: Selbst zwei defensiv orientierte Mächte, die militärische Vorsorge für ihre Sicherheit treffen, können in eine am Ende nicht mehr kontrollierbare Eskalationsspirale geraten. […]

So stehen sich schon im Realismus selbst zwei Argumentationslinien zu Russlands Krieg gegenüber. Die eine betont, der Westen hätte gewarnt sein können, habe sich aber leichtfertig in seiner Friedensdividende und in seinem mit russischen fossilen Brennstoffen abgesicherten Wohlstand eingerichtet. Die andere Position hält dagegen, die Nato habe seit der deutschen Wiedervereinigung ihre Macht immer weiter nach Osten verschoben und sich dabei fahrlässig über russische Sicherheitsbedenken hinweggesetzt.

Sorgen um die eigene Sicherheit gab es freilich auf beiden Seiten; vor allem bei den Völkern in Osteuropa, die aufgrund ihrer historischen Erfahrungen und wegen der russischen Probleme im Demokratisierungsprozess und der gewaltsamen Nationalitätenkonflikte Sicherheit eher vor als mit Russland suchten. […]

Das Weltbild des Liberalismus nimmt die inneren Verhältnisse in den staatlich verfassten Gesellschaften in den Blick. Hier liegen nach seiner Auffassung die entscheiden­den Beweggründe für Außenpolitik und damit auch für die internationalen Beziehungen. So hatte schon Immanuel Kant argumentiert, die Mitbestimmung der Bürger bei den Regierungsgeschäften werde zu mehr Frieden führen, weil diese im Gegensatz zu den Fürsten und Königen kein Interesse am Krieg hätten.

In der Tat hat die demokratische Friedenstheorie zeigen können, dass Demokratien so gut wie nie Krieg gegeneinander führen. Für ein demokratisches Russland hätte es also keinen Grund gegeben, sich von den Osterweiterungen der Nato oder von den Demokratiebewegungen in seinem "nahen Ausland" bedroht zu fühlen. […]

Zu den Gründen für die russische Aggression gehören zweifellos sicherheitspolitische Motive; aber sie werden do­miniert von Ängsten über eine Ansteckung durch den de­mo­kratischen "Virus" in Osteuropa, vor allem in den unmittelbar benachbarten neuen selbstständigen Republiken, und von wahnhaften Fantasien über alte und neue Feinde angetrieben. […]

Der Krieg Russlands gegen die Ukraine ist auch eine Her­ausforderung für den Institutionalismus, der sich von der wirtschaftlichen und kommunikativen Globalisierung, den wachsenden transnationalen Aktivitäten gesellschaftlicher Akteure und den damit verbundenen Verregelungen und Verrechtlichungen der internationalen Beziehungen frie­densfördernde Wirkungen verspricht. Die Staaten könnten es sich schließlich nicht mehr leisten, die positiven Effekte ihrer wechselseitigen Abhängigkeiten durch Krieg aufs Spiel zu setzen. Der aktuelle Einbruch in den West-Ost-Beziehun­gen stellt die institutionalistische Perspektive dramatisch infrage. Schon der Erste Weltkrieg hatte gezeigt, dass wirt­schaftlicher Austausch nicht ausreicht, um einen großen Krieg zu verhindern, aber diese Erfahrung wurde im Globali­sierungsprozess der letzten fünfzig Jahre verdrängt. […]

Hier war die institutionalistische Friedens- und Fortschrittstheorie also in zweifacher Hinsicht zu optimistisch. Nach wie vor ist richtig, dass Handelsbeziehungen tendenziell die Wahrscheinlichkeit gewaltsamer Auseinandersetzungen reduzieren; aber sie sind keine Garantie für Demokratisierung (China und Russland wollen beide Handel, aber keinen Wandel), und sie können zu heiklen Abhängigkeiten führen. Jetzt gibt es eine neue Debatte über die Risiken von Interdependenz […].

Eine postkolonialistische Standardkritik an den üblichen vom Westen dominierten politischen und politikwissenschaftlichen Weltbildern ist ihr Eurozentrismus. Den Krieg in Europa ächten, aber Kriege im Rest der Welt geschehen lassen. […] Blickt man auf den Konflikt zwischen Russland und der Ukraine selbst, dann kommt eine näherliegende "postkoloniale" Dimension in den Blick. So sprechen nicht nur ukrainische Expert:innen von einer Rekolonisierungsstrategie Putins, die sich zumindest auf den ehemaligen sowjetischen Raum erstrecke. In diesem Zusammenhang wären auch Defizite in der Aufarbeitung der deutschen Vergangenheit zu thematisieren, in der die Opfer und die Zerstörungen in der Ukraine während des Zweiten Weltkrieges nur wenig eigenes Gewicht hatten und auch der Hitler-Stalin-Pakt verdrängt wurde. Die ehemalige Imperialmacht Deutschland, so der Vorwurf von Timothy Snyder, einem der besten Kenner der Region zwischen Polen und Russland, habe viel zu lange die Klischees der russischen Imperialmacht über die Ukraine übernommen. […]

Der in vielerlei Hinsicht erfolgreiche Versuch, nach dem Ende des Ost-West-Konflikts eine neue europäische Friedens- und Fortschrittsordnung einzurichten, ist am Ende an einem entscheidenden Punkt gescheitert. Machtrivalitäten zwischen dem Westen und Russland haben den Auf- und Umbruch von Anfang an begleitet, aber die Wiederkehr des Systemkonflikts geht auf das Konto der gescheiterten Demokratisierung Russlands und auf das strukturelle Legitimationsdefizit des Putin-Regimes. […] Selbst bei einem Systemwechsel wäre die Aufarbeitung der eigenen Geschichte und die Übernahme von Verant­wor­tung nicht gesichert, vor allem wenn man die um­fassende Mili­tarisierung des Landes und die nachhaltige Zerstörung der russischen Zivilgesellschaft in Rechnung stellt. […]

Diese zugleich sowjetische und russische Erblast wird die Weltordnung noch viele Jahre beschäftigen. […]

Zum Autor: Gert Krell ist emeritierter Professor für Internationale Beziehungen im Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Goethe-Universität Frankfurt.

Gert Krell, "Weltbilder und Weltordnung", in: Frankfurter Rundschau vom 8. Juni 2022

Vom Abschreckungs- zum Verständigungsfrieden?

Zu Beginn des Kalten Krieges in den späten 1940er- und 1950er-Jahren rüsteten die USA und die Sowjetunion massiv auf, ohne dadurch an Sicherheit zu gewinnen. Die Existenz von Atomwaffen potenzierte die Gefahren. In der sogenannten Kuba-Krise von 1962 schrammten die beiden Supermächte an einer Eskalation zu einem heißen Konflikt vorbei. Dabei waren ihre Arsenale so groß, dass selbst ein verheerender nuklearer Angriff der einen Seite von der anderen Seite noch nuklear hätte beantwortet werden können. Diese gesicherte Zweitschlagfähigkeit hätte im Falle eines Nuklearkriegs die gegenseitige Vernichtung garantiert (mutually assured destruction).

In den 1960er-Jahren begannen unter diesen Bedingungen verschiedene Formate der Rüstungskontrolle, die dazu dienen sollten, Vertrauen zu bilden, Fehlkalkulationen zu vermeiden und Krieg zu verhindern. Washington und Moskau richteten 1963 eine direkte Kommunikationsverbindung ein. 1968 wurde der Atomwaffensperrvertrag ins Leben gerufen, der die Zahl der Atommächte einfrieren und langfristig einen Weg zur nukle­aren Abrüstung eröffnen sollte. Die USA und die Sowjetunion verhandelten ab 1969 außerdem die Begrenzung nuklearer Langstreckenarsenale (Strategic Arms Limitation Talks; SALT I und II), der sogenannte ABM-Vertrag (Anti-Ballistic Missile Treaty) von 1972 beschränkte Raketenabwehrsysteme. All das sollte die Abschreckung verlässlicher machen.

Die ab Mitte der 1980er-Jahre einsetzende Entspannung und Überwindung der Blockkonfrontation nährte die Hoffnung auf einen echten Verständigungsfrieden. Ein wichtiger Schritt für die europäische Sicherheit war die zwischen den USA und der Sowjetunion vereinbarte Abschaffung von landgestützten nuklearfähigen Mittelstreckensystemen mit Reichweiten zwischen 500 und 5500 Kilometer im Jahr 1987 (Intermediate-Range Nuclear Forces Treaty; INF-Vertrag). Die Charta von Paris vom November 1990 wies politisch den Weg zu einer gesamteuropäischen Friedensordnung. Die Unterzeichner – darunter auch Moskau – bekannten sich zu Demokratie, Marktwirtschaft, Rechtsstaatlichkeit, Freiheit, Menschenrechten, territorialer Unversehrtheit, Selbstbestimmung und Sicherheit, die nicht zu Lasten anderer gehen sollte. Die NATO und der Warschauer Pakt bekundeten in einer gemeinsamen Erklärung das Ende ihrer Gegnerschaft. Der Zusammenbruch der sozialistischen Diktatur, institutionalisierte Kooperation und die erhoffte Überwindung früherer Feindbilder stimmten nach Jahrzehnten eines "Gleichgewichts des Schreckens" optimistisch.

Rüstungsdynamiken und Krise der Rüstungskontrolle nach dem Kalten Krieg

Das Ende des Kalten Krieges war die Hochzeit der kooperativen Sicherheit. Eine zentrale Rolle spielte die Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE; ab 1994 Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa OSZE), die seit den 1970er-Jahren als Gesprächsforum zwischen Ost und West gedient hatte. Im Wiener Dokument von 1990 vereinbarten die KSZE-Mitglieder Mitteilungspflichten und Beobachtungsrechte für Manöver, um Transparenz zu schaffen. Die Mitgliedstaaten der NATO und des Warschauer Pakts definierten 1990 im Vertrag über Konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE-Vertrag) Grenzen für die Stationierung schwerer Waffen in Europa bis zum Ural. Daneben vereinbarten Russland und die USA in mehreren Verhandlungen die Reduzierung ihrer strategischen Atomarsenale (Strategic Arms Reduction Treaty, START I 1991 und START II 1993; Strategic Offensive Reductions Treaty SORT 2002) und bemühten sich gemeinsam, die Verbreitung von nuklearem Material zu verhindern. Ein Meilenstein war das Budapester Memorandum von 1994, in dem Belarus, die Ukraine und Kasachstan als nunmehr unabhängige Staaten Atomwaffen an Russland im Gegenzug für Sicherheitsversprechen rückführten. 1997 traten die USA und Russland der Chemiewaffenkonvention bei und verpflichteten sich zur Vernichtung ihrer Bestände. Die NATO-Russland-Grundakte von 1997 bekräftigte die Partnerschaft zwischen Moskau und der Atlantischen Allianz. Statt über Rüstung und Abschreckung wurde im Westen in den 1990er-Jahren über eine "Friedensdividende" diskutiert. Auch China gab sich zurückhaltend, trat internationalen Institutionen bei und versprach einen "friedlichen Aufstieg", den niemand zu fürchten hätte.

Allerdings zeichneten sich seit den 2000er-Jahren neue Spannungen und Aufrüstungstrends ab. Die Terroranschläge vom 11. September 2001 zeigten, dass militärische Überlegenheit keine Sicherheit garantierte. Der richtige Umgang mit neuen Risiken war schon länger diskutiert worden (z.B. nicht staatliche Gewaltakteure, Proliferation [Weiterverbreitung/Weitergabe – Anm. d. Red.] von Massenvernichtungswaffen) und bleibt bis heute ein wichtiges Thema (z.B. Autonomisierung von Waffensystemen). Die USA schlussfolgerten nach 9/11, dass Abschreckung allein nicht mehr reichte, führten Kriege in Afghanistan sowie im Irak und erhöhten ihre Verteidigungsausgaben substanziell. 2002 kündigten sie den ABM-Vertrag, um ihre Raketenabwehr vorantreiben zu können. Washington hatte Nordkorea und den Iran im Blick, doch Russland sorgte sich, ins Hintertreffen zu geraten. Sein Nuklearpotenzial war die einzige Machtkategorie, in der es noch auf Augenhöhe mit den USA stand.

Zugleich nahm mit Russlands Rückkehr zur Autokratie und seinem imperialen Selbstverständnis ein ordnungspolitischer Konflikt Gestalt an. Seine Nachbarn, allen voran Georgien und die Ukraine, orientierten sich in Richtung Westen, während Moskau um seinen Einfluss und die Ansteckungseffekte von Demokratiebewegungen in diesen Staaten fürchtete. Ab 2008 modernisierte Russland systematisch sein Militär. Zwar gelang 2010 die Aushandlung des New START-Vertrages zur weiteren Reduzierung strategischer Atomwaffen zwischen Washington und Moskau, zugleich setzte Russland aber auf (taktische) Nuklearwaffen als einsetzbare Gefechtsfeldwaffen, um seine konventionelle Schwäche auszugleichen. Neben dem Georgienkrieg von 2008 bewiesen die Annexion der Krim und der seit 2014 geführte Krieg in der Ostukraine die russische Bereitschaft, Interessen mit Gewalt durchzusetzen. Dazu kommen Desinformationskampagnen und Cyberattacken ebenso wie Verletzungen des NATO-Luftraums, nukleare Drohungen oder die Stationierung von nuklearfähigen Iskander-Kurzstreckenraketen in der Exklave Kaliningrad ab 2018. Mit der Entwicklung und Statio­nierung eines neuen bodengestützten Mittelstreckensystems brach Russland den INF-Vertrag, den die USA deshalb 2019 aufkündigten.

Auch bei der Chemiewaffenkonvention gibt es Probleme. Wiederholt wurden russische Regimegegner mit chemischen Kampfstoffen attackiert, während Moskau in Syrien das Assad-Regime stützte, das trotz internationaler Ächtung Chemiewaffen gegen die eigene Bevölkerung einsetzte. Der New-START Vertrag wurde 2021 kurz vor dem Auslaufen um fünf Jahre verlängert, doch wichtige Streitfragen sind ungelöst. Der Angriff auf die Ukraine im Februar 2022 ist der vorläufige Höhepunkt einer russischen Aggressionspolitik, die die NATO im Juni 2022 mit einer strategischen Neuausrichtung zur Abschreckung Russlands quittierte.

Der Blick nach Asien ernüchtert ebenfalls. China münzt seinen wirtschaftlichen Aufschwung systematisch in mili­tärische Stärke um. Der Verteidigungshaushalt stieg von weniger als 10 Milliarden US-Dollar 1990 auf über 250 Milliarden US-Dollar 2020. Heute besitzt China die weltweit größte Marine und rüstet konventionell sowie nuklear massiv auf. Nach Schätzungen des US-Verteidigungsministeriums wird eine Zunahme von aktuell 350 auf bis zu 1000 Nuklearsprengköpfe bis 2030 erwartet. Dazu kommt ein rasanter Ausbau ihres Raketenprogramms. Peking sieht sich in einer Aufholjagd und begreift vertragliche Schranken hier als nachteilig, was zur Erosion russisch-amerikanischer Formate der Rüstungskontrolle beiträgt. Schließlich verstehen sich die USA und China mittlerweile als Gegner. Da die Volksrepublik unter anderem Gebietsansprüche im Ost- und Südchinesischen Meer gewaltsam durchzusetzen versucht, rüstet die ganze Region auf. Die USA sind durch Bündnisse (z.B. Südkorea, Japan) präsent und wollen den Status quo erhalten. Doch die Eskalationsrisiken sind hoch. Taiwan gilt als der gefährlichste Konfliktherd: Peking droht dem demokratisch regierten Taiwan offen mit einer militärischen Eroberung, während die USA als dessen Schutzmacht fungieren.

Atomwaffensperrvertrag und das iranische Atomprogramm

Spannungen und Aufrüstung waren die Großtrends der letzten Jahre, auch im nuklearen Bereich. Dabei lautete die Hoffnung einst, die Weiterverbreitung von Nuklearwaffen zu verhindern und diese irgendwann komplett abzuschaffen (global zero). Der Atomwaffensperrvertrag spielt dabei eine entscheidende Rolle. Neben den fünf bei Vertragsschluss 1968 existierenden Atomwaffenstaaten (USA, Sowjetunion, Frankreich, Vereinigtes Königreich, Volksrepublik China) konnten alle anderen Staaten nur beitreten, wenn sie der Entwicklung oder dem Erwerb von Atomwaffen abschworen. Im Gegenzug erhielten sie Unterstützung bei der zivilen Nutzung der Kernkraft. Die Atomwaffenstaaten bekannten sich wiederum zur nuklearen Abrüstung. 1995 wurde der Vertrag auf unbestimmte Zeit verlängert. Weltweit sind ihm nur drei Staaten nicht beigetreten: Israel, Indien und Pakistan. Alle drei sind mittlerweile Atommächte.

Doch in der Nichtverbreitung von Atomwaffen kriselt es seit langem. Mehrere Vertragsbrüche wecken Zweifel an der Verlässlichkeit der Vereinbarungen: So verletzte unter anderem Nordkorea die Regeln und nutzte seit den 1990er-Jahren sein Nuklearprogramm wiederholt als Verhandlungsmasse, bevor es 2003 seinen Austritt erklärte und die Schwelle zur Atommacht überschritt. Zudem lässt der technologische Fortschritt und die Existenz von Proliferationsnetzwerken es immer schwieriger werden, die Verbreitung von militärisch nutzbarem Wissen und Technologie einzuhegen. Güter mit Mehrfachverwendung (dual use) können für lautere zivile, aber auch für verbotene militärische Zwecke genutzt werden. Dazu kommt der internationale Streit über die Prioritäten: Sind die Probleme bei der Nichtverbreitung oder fehlende Abrüstungsschritte das Kernproblem?

Das iranische Atomprogramm ist der Lackmustest für den Nichtverbreitungsvertrag. 2002 wurde bekannt, dass Teheran illegale Atomanlagen unterhielt und womöglich militärische Zwecke verfolgte. Der Iran dementierte die Vorwürfe, doch die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) als Aufsichtsbehörde überwies den Verdachtsfall 2006 an den VN-Sicherheitsrat. Die 2015 nach harschen Sanktionen und zähen Verhandlungen vereinbarte Übereinkunft (Joint Comprehensive Plan of Action; JCPOA) wurde als Meilenstein gefeiert. Sie sollte den Iran mit Auflagen und Kontrollmechanismen binden, während im Gegenzug Sanktionen aufgehoben würden. Kritiker, vor allem in den USA und in Israel, monierten den eng umrissenen Zeithorizont der Übereinkunft, der Teherans Ambitionen bremsen, nicht aber stoppen würde. Dass US-Präsident Donald Trump das von seinem Vorgänger Barack Obama unterzeichnete Abkommen 2018 aufkündigte, war insofern nicht völlig überraschend. Umgekehrt werteten die Befürworter des JCPOA – vor allem die europäischen Verhandlungspartner, die sich viele Jahre intensiv um eine vertragliche Konfliktregulierung bemüht hatten – die amerikanische Abkehr als großen Fehler, da sich der Iran bis dahin an die technischen Vereinbarungen gehalten hatte.

Die seit 2021 laufenden Bemühungen, das Atomabkommen wiederzubeleben, scheiterten bislang an der mangelnden Ko­ope­rationsbereitschaft des Irans. Dass die Führung in Teheran im Herbst 2022 Proteste im eigenen Land erneut mit Gewalt be­antwortete und Russlands Krieg gegen die Ukraine mit Kami­kaze-Drohnen unterstützte, ließen die Chancen weiter schwinden. Ein endgültiges Ausbrechen des Iran aus dem Atomwaffensperrvertrag könnte dessen Ende besiegeln. Zugleich versetzt auch Russlands Angriff auf die Ukraine der Nichtverbrei­tung einen schweren Schlag, weil Atomwaffen womöglich künftig noch stärker als Überlebensgarantie gesehen werden und der Verzicht auf sie als schwerer Fehler bewertet werden könnte.

Der Konflikt um das iranische Atomprogramm. (© picture-alliance/dpa, dpa-infografik GmbH | dpa-infografik GmbH, dpa/eigene Recherchen)

Das Ende von Abrüstung und kooperativer Sicherheit?

Die Großmächte kämpfen um die Spielregeln der Weltpolitik. Frühere Hoffnungen auf Abrüstung und kooperative Sicherheit haben sich bisher nicht erfüllt. Stattdessen gibt es aktuell eine Welle der Aufrüstung und Aggression, die sich zumeist im Grauzonenbereich zwischen Krieg und Frieden bewegt. Im Falle von Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine geht sie sogar darüber hinaus. Die Beziehung der USA zu Russland sowie auch zu China sind zerrüttet. Russland und China haben sich weder zu Demokratien entwickelt, noch garantieren ihre Mitgliedschaften in internationalen Institutionen ein kooperatives Miteinander. Viel mehr verhärtet sich die wechselseitige Wahrnehmung zwischen den USA und den beiden autoritär geführten Staaten.

Der Westen. (© picture-alliance, dieKLEINERT.de / Paolo Calleri)

Auch eine stabile Abschreckung für das Minimalziel der Kriegsverhinderung ist nicht gegeben. China und Russland wollen zentrale Elemente des internationalen Status quo revidieren und beispielsweise Grenzlinien in ihrer Nachbarschaft zu ihrem Nutzen verschieben. Sie setzen dabei auch auf militärischen Zwang. Selbst wenn sie vor einer militärischen Auseinandersetzung mit den USA und dem Westen zurückschrecken mögen, sind die Risiken einer Eskalation nicht zu unterschätzen. Mehr noch: Je konfliktreicher das Verhältnis zwischen Russland, China und dem Westen ist, desto schwieriger wird auch die Einhegung von Massenvernichtungswaffen. Für die internationale Sicherheit sind dies düstere Aussichten.

QuellentextBraucht die Bundeswehr 100 Milliarden Euro Sondervermögen?

Contra:

In seinen berühmt gewordenen Einlassungen vom 27. Februar [2022] ist Bundeskanzler Olaf Scholz vom rappelvollen Bundestag für nahezu jeden Satz beklatscht worden. Was man zum Teil sicher der aufgewühlten Gesamtemotionslage drei Tage nach Russlands Überfall auf die Ukraine zurechnen kann. Prompten Applaus gab es für den Ruf nach einer "leistungsfähigen Armee", nach "Flugzeugen, die fliegen, Panzern, die fahren", und für das "Sondervermögen", das man einrichten werde, aber nicht für die Zahl, die er nannte. Als Scholz "100 Milliarden Euro" sagt, kommt erst nichts, dann Geraune, und erst danach kleckert der Applaus los.

100 Milliarden Euro waren und sind eine gigantische, gleichwohl willkürlich wirkende Zahl, die Eindruck machen sollte und das auch tut. Sie wurde nicht errechnet, sie reagiert nicht auf einen konkreten Mangel, sie wurde erfunden – wie letztlich auch der Begriff vom Sondervermögen, wo es doch bloß um Schulden geht.

Diese 100 Milliarden Euro sollen nun […] für Rüstungs­güter und Ausstattung ausgegeben werden. Neben der vertanen Chance, dem Begriff Sicherheit und Verteidigung eine nicht militärische Dimension zu verleihen, bleibt die Frage, wie das Geld ausgegeben wird. Und da ist man schnell beim Beschaffungswesen, das seit Jahren auch von Insidern als skandalös ineffizient geschmäht wird und in dessen Innereien schon viel Geld einfach verschwunden ist. […]

Geld braucht geordnete Wege, damit es ohne Reibungsverluste da ankommt, wo es wirken soll. Dieser Umstand ist keinesfalls neu, aber auch keinesfalls immer eingepreist. Ein Stichwort aus friedlichen Zeiten: der Digitalpakt für Schulen. Erst fünf, dann sechs Milliarden Euro schwer. Und im Ergeb­nis rotten Berge veralteter Laptops in wackeligen Schulschränken vor sich hin. Der Geldregen hat gar nichts Gutes bewirken können.

Und am Ende nicht zu vergessen: Die 100 Milliarden Euro, eben noch zögerlich beklatschte Zahl, nun im Grundgesetz verankert, sind ein Vielfaches dessen, was gebraucht werden könnte, um die wachsenden sozialen Schieflagen abzumildern, die ebenfalls durch den Krieg ausgelöst wurden und die Bevölkerung jetzt oder bald konkret belasten. Nicht auszudenken, sie verpuffen. Die Bundeswehrmodernisierung mag unter dem Eindruck des Kriegs zwar dringlich wirken, aber ihre Ergebnisse betreffen nicht die nahe Zukunft.

Ariane Bemmer, "Ein Contra zum Sondervermögen: Geld allein löst noch kein Problem – es braucht Strukturen", Externer Link: https://www.tagesspiegel.de/politik/geld-allein-lost-noch-kein-problem--es-braucht-strukturen-4337329.html

Pro:

Die 100 Milliarden Euro kommen allein der Bundeswehr zugute. Alle Versuche, Mittel für andere Ziele abzuzweigen, wurden zum Glück abgewehrt.

Dahinter steckt keine Geringschätzung für Zivilschutz, Cyberabwehr, Entwicklungshilfe und Diplomatie, die auf ihre Weise zur Sicherheit beitragen. Sie sollen jedoch aus anderen Töpfen finanziert werden.

In der Zeitenwende-Rede im Februar [2022] hatte Kanz­ler Scholz aus guten Gründen gesagt, das Sondervermögen solle ausschließlich in die Ausrüstung der Bundeswehr flie­ßen. Die ist "blank", nachdem die Regierungen vergangener Jahrzehnte ihr die nötigen Mittel in unterschiedlicher parteipolitischer Zusammensetzung, aber einmütiger Fehleinschätzung der Bedrohungslage verweigert haben.

100 Milliarden Euro sind einerseits sehr viel Geld, andererseits nur etwa ein Zehntel der Summe, die der Bundeswehr seit 1989 als "Friedensdividende" vorenthalten wurden. Sie werden nicht ausreichen, um alle Lücken zu stopfen. […]

Der reale Finanzbedarf der Bundeswehr ist größer. Die Koalition konnte sich nicht entschließen, das Kanzler-Versprechen, "von nun an Jahr für Jahr mehr als zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts in unsere Verteidigung zu investieren", in die Etatplanung zu übernehmen.

Die 100 Milliarden sind, verteilt über vier bis fünf Jahre, der Ersatz für die ausbleibende Anhebung des Verteidigungsetats. Unklar bleibt, wie der Sprung auf dauerhaft zwei Prozent vom BIP finanziert wird, sobald das Sonder­vermögen ausgegeben ist. […]

Die Einsicht ist nicht erfreulich, aber notwendig: Deutschland muss dauerhaft mehr für seine Wehrhaftigkeit ausgeben. Die 100 Milliarden Euro sind ein kraftvoller Anfang, reichen aber nicht ewig. Parallel ist eine Reform des Beschaffungswesens nötig, damit das Geld effektiv eingesetzt wird.

Alles in allem sind zwei Prozent vom BIP nicht zu viel verlangt. Einen ähnlichen Anteil geben Privathaushalte für ihre Versicherungen aus.

Äußere Sicherheit ist die Bedingung für einen verlässlichen Alltag, das sollten alle aus dem Krieg in der Ukraine gelernt haben.

Christoph von Marschall, "Ein Pro zum Sondervermögen: die 100-Milliarden-Euro-Antwort", Externer Link: https://www.tagesspiegel.de/politik/die-100-milliarden-euro-antwort-5429773.html

beide Texte in: Tagesspiegel vom 3. Juni 2022

Deutsche Militärausgaben 1953 – 2021. Quelle: SIPRI Military Expenditure Database

PD Dr. Gerlinde Groitl forscht und lehrt an der Universität Regensburg im Bereich Internationale Politik und transatlantische Beziehungen.