Verschiedene Folgen der Globalisierung stehen in der Kritik, und eine Vertiefung der internationalen Arbeitsteilung ist bei breiten Bevölkerungsteilen zumindest in den OECD-Ländern nicht mehr uneingeschränkt populär. Viele Bürgerinnen und Bürger nehmen die Globalisierung als ein Projekt der politischen Eliten und der Reichen wahr. Das Gleiche gilt spiegelbildlich für die Europäische Union, die ebenfalls von vielen Menschen als Elitenprojekt angesehen wird, das in ihren Augen abgehoben wirkt und vor allem den Interessen der Wohlhabenden dient.
Als besonderes Problem gelten die Finanzmärkte, die von vielen Beobachtern, etwa Martin Wolf von der Financial Times, als übermäßig einflussreich bezeichnet werden. Zur Entstehung dieses Problembewusstseins hat gewiss auch die Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008/09 mit ihren Folgen und der Art ihrer Bewältigung beigetragen. Der Politik wird zum Vorwurf gemacht, bislang weder auf nationaler noch auf supranationaler Ebene auf diese Problematik entschlossen reagiert zu haben.
Die Untersuchung der internationalen Finanz- und Wirtschaftspolitik führt damit zur Frage nach der Zukunft der Globalisierung und den Optionen für einzelne Gesellschaften. Wie viel Raum bleibt für spezifische Präferenzen einzelner Gesellschaften in einer globalisierten Weltwirtschaft erhalten? Gibt es Alternativen zu einer "marktkonformen Demokratie", in der, wie der Soziologe Wolfgang Streeck bemerkte, dem Nationalstaat nur noch die Pflege des kulturellen Erbes obliegt? Das liberale Modell der Nachkriegszeit ist zumindest gefährdet, und die Entscheidungen der britischen und amerikanischen Wählerinnen und Wähler im Jahr 2016 haben deutlich gemacht, dass ökonomische Argumente allein nicht mehr genügen, um die gegenwärtige Ordnung zu erhalten.
Die größte Herausforderung für die liberalen Demokratien kommt heute deshalb nicht nur von außen, von autoritären Regimen wie Russland oder China. In den USA, Großbritannien und Kontinentaleuropa zeichnet sich vielmehr eine neue Konfliktlinie ab: zwischen den Verfechtern einer wirtschaftlich und gesellschaftlich offenen Ordnung und denjenigen, die gegen diese Ordnung aufbegehren.
Diese Konfliktlinie wird in verschiedenen neueren Wissenschaftsanalysen diagnostiziert. So spricht Wolfgang Streeck von Gewinnern, die sich eine globalisierte Welt als erweitertes Spielfeld zu eigen machen, und Verlierern, die von ihren angestammten Bereichen (Arbeitsplätzen, Strukturen) vertrieben werden. David Goodhart unterscheidet kosmopolitisch agierende Eliten (anywheres) von lokal, regional und national verwurzelten, jedenfalls aber weniger mobilen Bevölkerungsgruppen (somewheres) – mit Konsequenzen für die Bewertung von supranationalen Organisationen und Prozessen.
Diese mit dem Begriff "populistisch" nicht hinreichend beschriebenen Gruppen gehen auf Distanz zu grenzüberschreitenden Prozessen, sie halten wenig von internationaler Zusammenarbeit, supranationalen Organisationen und internationalen Regelwerken. Stattdessen setzen sie verstärkt auf den Nationalstaat, die eigenen Bedürfnisse und die eigene Identität, die sie von der Außenwelt abgrenzen und verteidigen wollen.
Die liberalen Eliten in den größtenteils demokratisch verfassten OECD-Ländern, die das bestehende System geschaffen haben, müssen seine Daseinsberechtigung rechtfertigen, um sich vor der Wählerschaft ihrer Länder zu legitimieren. Dabei sind sie gehalten, vor allem Fragen nach der sozialen Gerechtigkeit, der Teilhabe und der Identität von Gesellschaften beantworten.
InterviewGlobalisierung bedeutet fortlaufenden Umbruch
der Freitag: Herr Menzel, was ist für Sie Globalisierung?
Ulrich Menzel: Globalisierung ist keine Epoche, sondern ein Prozess. Insofern sind Sätze wie: "Wir leben im Zeitalter der Globalisierung" Unsinn. Die treibenden Kräfte der Globalisierung sind Innovationen – sowohl technischer wie institutioneller Art. Die Länder, die in diesen innovativen Prozessen besonders erfolgreich sind, sind diejenigen, die zu den führenden Mächten aufsteigen. Für eine Zeit stehen sie im Zenit ihrer Leistungsfähigkeit und können internationale Ordnungen begründen, die ihrerseits den Prozess der Globalisierung weiter vorantreiben.
der Freitag: Können Sie bitte ein paar Beispiele nennen ...
Ulrich Menzel: Die Durchsetzung des Prinzips "Freiheit der Meere" durch die Niederländer im 17. Jahrhundert gegen den portugiesisch-spanischen Anspruch der exklusiven Nutzung der Meere. Ein zweites Beispiel ist die Durchsetzung des Freihandelsprinzips durch Großbritannien seit Mitte des 19. Jahrhunderts. Das führte bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs zu einem großen Globalisierungsschub. Und ein drittes Beispiel ist die durch die Vereinigten Staaten nach 1945 begründete Weltordnung, die auch eine liberale Wirtschaftsordnung war. Institutionen wie das GATT, der Dollar als Weltgeld und Kredite der USA waren die Schwungräder.
der Freitag: Wodurch wird der Prozess der Globalisierung unterbrochen?
Ulrich Menzel: Durch Phasen der Fragmentierung. Nämlich dann, wenn die führende Macht nicht mehr für die internationale Ordnung sorgen kann, weil sie sich in einem relativen Abstieg gegenüber neu aufsteigenden Mächten befindet, die in wichtigen Bereichen innovativer sind.
der Freitag: Gibt es immer einen Hegemon?
Ulrich Menzel: Das kommt auf die Phase an. Wenn wir in Phasen der Expansion sind, ist eine Führungsmacht nötig, die die internationalen öffentlichen Güter bereitstellt. Das macht derjenige, der es am ehesten leisten kann und das größte Interesse daran hat. Zuletzt waren das 50, 60 Jahre lang die USA. Jetzt sind sie an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit gestoßen. Die Bereitschaft zur Bereitstellung internationaler öffentlicher Güter geht zurück. Deshalb wird die Welt nicht mehr so funktionieren, wie wir das gewohnt waren. […]
der Freitag: Was meinen Sie denn mit internationalen öffentlichen Gütern?
Ulrich Menzel: Zum Beispiel GPS. Jeder deutsche Autofahrer ist Trittbrettfahrer eines Navigationssystems, das die USA mit milliardenschwerem Aufwand kostenlos für die ganze Welt zur Verfügung stellen. Auch das WWW ist von den USA aufgebaut worden. Die Rolle des Weltpolizisten in Form des Drohnenkriegs gegen Terrorismus spielen die USA praktisch allein. Das können andere Länder gar nicht oder nur mit viel schlechteren Ergebnissen. Insofern sind viele Länder Freerider der USA. Großbritannien hat diese Funktion im 19. Jahrhundert ähnlich wahrgenommen, bis es nicht mehr konnte.
der Freitag: Was passiert dann?
Ulrich Menzel: Dann gibt es eine Übergangsphase, bis eine neue Macht den Stab übernimmt. Meine Prognose ist, dass etwa um die Jahre 2030 bis 2035 China die Führung übernimmt. Eine andere Macht sehe ich nicht.
der Freitag: Welche Rolle spielt der ideelle Überbau bei der Globalisierung?
Ulrich Menzel: Es geht auch um die Ideen, die in der Welt hegemonial werden und irgendwann wieder in die Defensive geraten. Nachdem der Neoliberalismus lange Zeit das Denken bestimmt hat, erleben wir jetzt eine Rückkehr des Nationalismus. […] Weltweit, nicht nur in Europa, gibt es ein Anwachsen populistischer Strömungen, denen gemeinsam ist, dass sie das nationale Interesse in den Vordergrund stellen. Die Idee, dass durch Kooperation eine Win-win-Situation entsteht, die für alle von Vorteil ist, wird abgelöst durch die Vorstellung von der Welt als Nullsummenspiel. Was der eine gewinnt, muss ein anderer verlieren. […]
der Freitag: Stehen Werten wie Freiheit, Demokratie und Menschenrechten also schwere Zeiten bevor?
Ulrich Menzel: Globalisierung heißt nicht zwangsläufig die Ausbreitung von Demokratie und Menschenrechten. Das Beispiel China zeigt, dass Industrialisierung, wachsender Wohlstand und technische Hochleistungen bis in den militärischen Bereich sehr wohl mit einem autoritären System vereinbar sind. Deswegen ist China ja so attraktiv für Despoten weltweit, weil es für ein bürokratisches Modell steht, während die USA für das liberale gestanden haben. Die Frage ist nur, wie rasch sich eine neue Führungsmacht etabliert, die die ordnungsstiftende Rolle einnimmt. […]
der Freitag: Wie steht Europa momentan da?
Ulrich Menzel: Auch Europa steht zur Disposition. Die europäische Identität im Sinne einer Wertegemeinschaft bröckelt. Der Brexit ist nur der radikalste Ausdruck dessen. […] Es ist dann das gemeinsame sicherheitspolitische Interesse, das übrig bleibt. Es wird ein "Europa à la carte". Wenn es um Sicherheitspolitik geht, tun wir uns zusammen, wenn es um wirtschaftliche Fragen, um Flüchtlinge und Freizügigkeit geht, ist sich jeder selbst der Nächste.
der Freitag: Wenn die EU nicht auseinanderbricht, wird sie gezwungen sein, sich stärker eigenständig in der Welt zu positionieren.
Ulrich Menzel: Sollte man annehmen. Aber das setzt die Interessenidentität der Mitgliedsländer voraus, die nicht mehr erkennbar ist. Der Fragmentierungsprozess ist nicht nur auf Weltebene zu beobachten, sondern setzt sich nach unten, auch innerhalb von Europa, fort. Es könnte sein, dass Deutschland in die ungeliebte Rolle des Eurohegemons gerät. Denn wenn die europäische Kooperation, deren harter Kern es ist, dass Frankreich und Deutschland an einem Strang ziehen, nicht mehr funktioniert, dann fliegt entweder die EU auseinander oder Deutschland muss die Führungsrolle, ob es will oder nicht, übernehmen. Das heißt auch, die größten Lasten zu schultern.
Ulrich Menzel, geboren 1947, war bis 2015 Professor für Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Internationale Beziehungen an der TU Braunschweig.
"Das Ende der Nachkriegsordnung". Interview von Leander F. Badura mit Ulrich Menzel, in: der Freitag, Ausgabe 06/17 vom 9. Februar 2017, online 13. Februar 2017
Der amerikanische Journalist Thomas Friedman hat 2005 den Prozess der Globalisierung als unaufhaltsame Umsetzung einer feststehenden Wirtschaftspolitik bezeichnet. Die einzelnen Gesellschaften befinden sich nach dieser Lesart auf einem festgelegten Pfad und unterscheiden sich nur noch danach, wie weit sie die einzelnen Elemente dieses wirtschaftspolitischen Konzeptes umgesetzt haben. Diese Hyperglobalisierung, eine "goldene Zwangsjacke", wird aber von immer mehr Bürgerinnen und Bürgern abgelehnt.
Der Ökonom Dani Rodrik hat schon vor einigen Jahren auf das Spannungsverhältnis zwischen Demokratie, Globalisierung und Nationalstaat hingewiesen. Es sei unmöglich, das heutige System der Nationalstaaten zu erhalten, diesen Staaten demokratische Entscheidungen zu ermöglichen und eine weit reichende, vollständige Globalisierung (Hyperglobalisierung) zu erreichen. Gleichzeitig seien maximal zwei der drei Ziele zu verwirklichen:
Ohne demokratische Ordnung können Hyperglobalisierung und der Nationalstaat erhalten werden, aber die an diesem Prozess teilnehmenden Staaten müssen sich und ihre Wirtschaft ohne Rücksicht auf die Präferenzen innerhalb ihrer Gesellschaft globalen Normen und Regeln unterwerfen, um die vollständige Globalisierung (Hyperglobalisierung) zu erreichen.
Das Streben nach Hyperglobalisierung wird verbunden mit demokratischer Partizipation, die auf supranationaler Ebene organisiert werden soll. Dabei gehen ökonomische und politische Integration miteinander einher. Der Nationalstaat verschwindet in diesem Modell, das Rodrik als Global Governance bezeichnet. Dieser Ansatz beschreibt Entwicklungen in Europa, aber auch supranationale Regulierung etwa in der Handelspolitik.
Die dritte Alternative verbindet den Nationalstaat mit einer demokratischen Ordnung, verzichtet dabei aber auf die Hyperglobalisierung. In dieser Alternative verzichten Gesellschaften auf maximalen wirtschaftlichen Nutzen zugunsten von Demokratie und Nationalstaat. Die Volkswirtschaften werden etwa durch Beschränkungen des Kapitalverkehrs voneinander getrennt. Auf den Nutzen durch internationale Arbeitsteilung wird nicht verzichtet, aber Gesellschaften erhalten sich in diesem Modell Spielräume für nationale Sonderwege.
Die Ereignisse des Jahres 2016, das Aufkommen populistischer Bewegungen, das Wiedererstarken autoritativer Herrschaftsformen, die Entscheidung zum Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union und die Infragestellung des bisherigen Systems selbst in den USA, prominent vertreten durch den siegreichen Präsidentschaftsbewerber Donald Trump, haben auch der Diskussion um die Weltwirtschaftsordnung neuen Zündstoff verliehen.
Insbesondere das Votum der britischen Wählerinnen und Wähler hat gezeigt, dass die Argumentation mit wirtschaftlichen Nachteilen zahlreiche Bürgerinnen und Bürger nicht von ihrer Entscheidung für den "Brexit" abbrachte. In Großbritannien stimmte die Mehrheit, wenn auch knapp, für einen Pfad, der von nahezu allen Spitzenpolitikern und sämtlichen Wirtschaftsverbänden abgelehnt und als ökonomisches Risiko bezeichnet worden war.
Vielleicht sollten sich Gesellschaften für einen eigenen Pfad, eine Globalisierung à la carte, entscheiden können. Dies gilt auch in Europa, wo die alte Logik der "immer engeren Zusammenarbeit" derzeit nicht an sachliche, sondern an politische Grenzen stößt. Die Forderung nach einer maßgeschneiderten Globalisierung heißt, dass Gesellschaften sich entscheiden können, welche Regeln sie sich geben – und dabei auch vermeintliche oder tatsächliche wirtschaftliche Nachteile in Kauf zu nehmen bereit sind. Zugleich könnten mit einem maßgeschneiderten Konzept die soziale Inklusion innerhalb von Gesellschaften und die liberale Demokratie gestärkt werden.
Diese Weichenstellungen werden in den kommenden Jahren in Europa, aber auch in anderen Regionen der Welt zu diskutieren sein.