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Deutungen | Deutsche Revolution 1918/19 | bpb.de

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Deutungen

Ernst Piper

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7. Februar 1919, Weimar. 3. Sitzung der Nationalversammlung: Hugo Preuß (DDP) trägt als zuständiger Staatssekretär des Inneren den Gesetz entwurf über die vorläufige Reichsgewalt vor. (© Deutsches Historisches Museum)

Die deutsche Revolution von 1918/19 ist in ihrer Deutung, Bewertung und Einordnung so umstritten wie kaum ein anderes Ereignis der deutschen Geschichte. Das ist nicht ganz überraschend, weil gerade bei einem revolutionären Umbruch der eigene Standpunkt unvermeidlich in die Beurteilung einfließt. Aus konservativer, sozialdemokratischer oder sozialistischer bzw. kommunistischer Sicht wird das Ereignis naturgemäß jeweils ganz unterschiedlich beurteilt. Schwierigkeiten bereitet dabei der Umgang mit Begriffen wie "die verratene Revolution". Denn hierbei geht es nicht nur um unterschiedliche Erwartungshorizonte, sondern auch um den Vorwurf, dass politische Akteure ihre Ziele verraten haben, etwas anderes getan haben, als sie zuvor gesagt haben oder als es den Erwartungen ihrer Anhängerschaft entsprach. Dieser Vorwurf des Verrats traf insbesondere die Sozialdemokratie. Das begann bereits 1914, als die Reichstagsfraktion der SPD den Kriegskrediten zustimmte.

In diesem Zusammenhang ist es sicherlich sinnvoll, sich noch einmal zu vergegenwärtigen, was in den entscheidenden Wochen der deutschen Revolution 1918/19 passiert ist und dies in Beziehung zu setzen zu den Gesetzmäßigkeiten, die der Politikwissenschaftler Wolfgang Merkel beim Übergang von autokratischen zu demokratischen Systemen ermittelt hat. Merkel unterscheidet drei Phasen. In der ersten Phase, die durch interne Ursachen, zum Beispiel eine Legitimitätskrise, oder durch externe Ursachen, zum Beispiel eine Kriegsniederlage, ausgelöst sein kann, gibt es unterschiedliche Verlaufsformen, für die sich unterschiedliche historische Beispiele finden lassen.

Verlaufsformen - Historische Beispiele

An dieser Tabelle wird deutlich, dass für die deutsche Revolution 1918/19 der Systemwechsel nach Aushandlung von Kompromissen zwischen alten und neuen Eliten stattfand. Kennzeichnend hierfür sind vor allem der Ebert-Groener-Pakt und das Stinnes-Legien-Abkommen.

Die zweite Phase der Systemtransformation ist die der Institutionalisierung demokratischer Strukturen. Im Kern geht es dabei um die Verabschiedung einer neuen Verfassung. Das geschah in Deutschland am 31. Juli 1919. Eine entscheidende Weichenstellung brachte allerdings schon der erste Reichsrätekongress im Dezember 1918, der mit überwältigender Mehrheit für die Wahlen zur Nationalversammlung stimmte und mit ebenfalls sehr großer Mehrheit den Antrag ablehnte, das Rätesystem zur Grundlage einer neuen Verfassung zu machen. Hier wurde keine Revolution "verraten". Es war einfach so, dass das sozialdemokratische Delegiertenkontingent auf diesem Kongress sehr viel größer war als das der USPD und beide Parteien unterschiedliche politische Vorstellungen hatten. Diese unterschiedlichen Größenordnungen bei den Delegierten entsprachen den Verhältnissen im Land. Das zeigte sich auch bei den Wahlen zur Nationalversammlung, als die SPD 37,9 Prozent erreichte, die USPD aber nur 7,6 Prozent. Die KPD hatte zu diesem Zeitpunkt noch den Status einer Splitterpartei und trat zu den Wahlen gar nicht an. Anders gesagt: Die Parteien, die eine sozialistische Revolution anstrebten, hatten nur einen kleinen Teil der Bevölkerung hinter sich. Die große Mehrheit wollte Parlamentarisierung und Demokratie, aber keine Diktatur des Proletariats.

In die Weimarer Reichsverfassung fand der Rätegedanke dann Eingang im Artikel 165, dem letzten Artikel des fünften Abschnittes "Das Wirtschaftsleben". Dort ist die Rede von Bezirksarbeiterräten und einem Reichsarbeiterrat, der sich mit Vertretern der Unternehmerschaft zu einem Reichswirtschaftsrat zusammenschließen sollte. Ein vorläufiger Reichswirtschaftsrat wurde 1920 gegründet, entfaltete aber bis zu seiner Auflösung 1934 kaum Aktivitäten. Der Rätegedanke, der sich nicht nur im Grundgesetz der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik vom 10. Juli 1918 durchgesetzt hatte, sondern auch in der frühen Nachkriegszeit in Ungarn und Deutschland eine erhebliche Rolle gespielt hatte, kam auf Dauer außerhalb der Sowjetunion nirgends zum Tragen. Und ein Nebeneinander von Parlament und Räten, eine "Doppelherrschaft", die nicht wenige linke Vordenker damals propagierten, konnte sich nie irgendwo etablieren. Gleichwohl gibt es bis heute immer wieder Stimmen, die in der strikten Abwehr von Versuchen in diese Richtung durch SPD und Gewerkschaften eine verpasste Chance sehen wollen.

Die dritte Phase der Systemtransformation ist die der Konsolidierung. Die neue Verfassung muss zunächst formal legitimiert werden. So gewinnt die Politik an Berechenbarkeit und kann sich an institutionell abgesicherten Normen orientieren. Das in der Verfassungstheorie festgeschriebene neue System muss sich aber auch in der Verfassungswirklichkeit bewähren. Dafür müssen Legislative, Exekutive und Judikative zusammenwirken. Nur so kann ein neuer gesellschaftlicher Grundkonsens (Common Sense) entstehen, auf dessen Boden sich eine zivilgesellschaftliche Bürgerkultur entwickeln kann.

Diese dritte Phase hat die Weimarer Republik nur unter großen Schwierigkeiten bewältigt. In den ersten Jahren – man denke an den Kapp-Lüttwitz-Putsch, kommunistische Aufstandsversuche und den Hitler-Ludendorff-Putsch – herrschten bürgerkriegsähnliche Zustände. Ein großer Teil der alten Eliten stand dem neuen System mehr oder weniger ablehnend gegenüber. Insbesondere in der Judikative gab es massive republikfeindliche Einstellungen. So musste sich Reichspräsident Ebert noch kurz vor seinem Tod vom Amtsgericht Magdeburg bescheinigen lassen, er habe als Beteiligter am Januarstreik 1918 Landesverrat begangen. Er hatte sein Amt unter schwierigen Umständen angetreten. Bisweilen überschätzte er die Gefahr einer kommunistischen Machtübernahme, unterschätzte gleichzeitig die Risiken einer vorbehaltlosen Kooperation mit den alten Eliten und nutzte nicht immer die Spielräume zum Aufbau einer neuen zukunftsweisenden Ordnung. Friedrich Ebert war das erste demokratisch gewählte Staatsoberhaupt der deutschen Geschichte. Von nationalistischen Gegnern der neuen Republik gnadenlos verfolgt bis zuletzt, starb er bereits mit 54 Jahren.

1952 in München geboren, lebt heute in Berlin. Er ist apl. Professor für Neuere Geschichte an der Universität Potsdam und hat zahlreiche Bücher zur Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts publiziert, zuletzt "Nacht über Europa. Kulturgeschichte des Ersten Weltkriegs" (2014) und "Rosa Luxemburg. Ein Leben" (2018).