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Zukunftsprognosen | Kirche in Deutschland | bpb.de

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Zukunftsprognosen

Wolfram Kinzig

/ 5 Minuten zu lesen

Die bisherigen Ausführungen werfen die Fragen auf, wie sich das Verhältnis von Religion und Gesellschaft in der Zukunft entwickeln könnte, und wo Chancen oder Risiken für dieses Verhältnis bestehen. Im Folgenden sei eine Prognose gewagt, die verschiedene Thesen zur Diskussion stellt.

Teilnehmer des XX. Weltjugendtages aus MExiko singen vor dem Kölner Dom im August 2005.

Die bisherigen Ausführungen werfen die Fragen auf, wie sich das Verhältnis von Religion und Gesellschaft in der Zukunft entwickeln könnte, und wo Chancen oder Risiken für dieses Verhältnis bestehen. Im Folgenden sei eine Prognose gewagt, die verschiedene Thesen zur Diskussion stellt.

  • Der direkte öffentliche Einfluss der Institution Kirche hat in den letzten Jahrzehnten in Deutschland deutlich abgenommen. Er dürfte auch in Zukunft weiter zurückgehen, wenn auch nicht verschwinden. Die Kirche wird - auch als moralische Instanz - eine Stimme neben anderen bleiben, mit unterschiedlicher Autorität bezogen auf die einzelnen religiösen Milieus.

  • Die Kirchen könnten versucht sein, zur geistlichen wie materiellen Besitzstandswahrung und -mehrung ihren indirekten öffentlichen Einfluss weiter auszubauen. Dies wäre ethisch nicht unproblematisch, sofern sie damit selbst eine Verfahrensweise ausbilden, die sie anderen Gruppierungen - etwa Sekten - gerne zum Vorwurf machen. Stattdessen sollte gelten: Wo Christentum drin ist, muss auch Christentum draufstehen.

  • Die abnehmende öffentliche Akzeptanz der Kirchen allgemein, das Fehlen einer zentralen Repräsentationsinstanz, der Mitgliederschwund und die daraus resultierende wachsende Finanznot werden die evangelischen Landeskirchen langfristig zwingen, zu einer Form von bundesweiter föderaler Kirchenstruktur zu finden. Damit werden auch die konfessionellen Spaltungen im deutschen Protestantismus, die in die Gesellschaft hinein ohnehin kaum noch breitenwirksam zu vermitteln sind, weitgehend hinfällig werden.

  • Auch in der katholischen Kirche zwingt die Finanznot zu Einsparungen auf Diözesan- wie Parochialebene und im karitativen Bereich. Darüber hinaus wird sie vor allem auf drei Herausforderungen reagieren müssen:

    • den akuten Priestermangel und den damit einhergehenden Mangel an Seelsorge und personaler Repräsentanz in den Gemeinden (Problem des Zölibats);

    • die Forderung von Laien nach Abbau von episkopalen Hierarchien und stärkerer Partizipation in der Kirchenleitung;

    • die Forderung nach Zulassung von Frauen zum Priesteramt.

  • Die Pfarrgemeinde wird weiterhin die primäre Organisationsform von Kirche sein, wobei aber - aus Pfarrer- wie aus Finanzmangel - auch hier die bereits erkennbare Tendenz zur Bildung größerer Einheiten und Verbände zunehmen wird. Damit wird jedoch umgekehrt die Sichtbarkeit und Präsenz von Kirche vor Ort weiter abnehmen. Dies ist für die Glaubwürdigkeit der Kirchen, die sich in erster Linie über Personen vermittelt, ein massives Problem.

  • Daneben wird das Christentum verstärkt neue Formen der Präsenz im gesellschaftlichen Leben suchen, etwa dadurch, dass es sich als Dienstleister für religiöse Fragen profiliert: mit unkonventionellen Webauftritten, öffentlichen Aktionen wie Kirchentanz und Kirchentheater, griffigen Werbeslogans an Bussen und Bahnen, durch den Vertrieb von "Sinnkarten" und Büchern zur Weisheit der Weltreligionen sowie durch spirituelle Heilungszentren und Seminare zur "gelingenden Kommunikation" und zur "Lebenskunst für Strapazierte" (so in aktuellen Akademieprogrammen). Diese Entwicklung ist deshalb problematisch, weil Kirche sich damit als ein Anbieter von religiöser Sinnstiftung neben anderen etabliert und ihr Anderssein nivelliert.

  • Demgegenüber sieht sich die Kirche dem biblischen Auftrag verpflichtet, in ihrer Lehre und in ihrem Handeln zu verkündigen, dass sich christliches Leben als von Gott geschenktes Leben von den Regeln und Zwängen dieser Welt nicht vereinnahmen lässt; vielmehr bietet christliches Leben hierzu eine Alternative an und stellt insofern die Hoffnung auf eine bessere Zukunft zeichenhaft dar (Johannes 18,36: "Mein Reich ist nicht von dieser Welt."). Kirche ist Teil der Welt, aber sie ist eben auch mehr als das: Ihre Existenz gilt ihr als ein Hinweis darauf, dass Leben nicht dann gelingt, wenn man in dieser Welt erfolgreich "mitzuspielen" gelernt hat, sondern wenn Menschen im Glauben Gottes Segen für die Welt empfangen und - so befreit - sich in Staat und Gesellschaft, in der Familie und am Arbeitsplatz für ein gerechtes und fürsorgliches Miteinander einsetzen. Durch ihren Einsatz für diese Welt verweisen Christen auf das durch Christus verheißene Reich Gottes. Das heißt, Kirche wird - wenn sie diesen Auftrag ernst nimmt - allen irdischen Mächten kritisch gegenüberstehen, die den Menschen verzwecken und ihn ökonomisch, sozial oder kulturell so einpassen, dass seine Individualität verloren geht. Denn sie nehmen ihm dadurch die Freiheit, auf je eigene Weise Gottes Segen zu empfangen und das Reich Gottes zeichenhaft zu verwirklichen.

  • Ungewiss ist, ob es den Kirchen gelingen wird, in den neuen Bundesländern für ihre Botschaft und ihre Arbeit neues Interesse zu wecken. Der Bildungsarbeit kommt hierbei besondere Bedeutung zu. Gerade in Ostdeutschland gab es nach Aussagen der EKD in den letzten Jahren einen Boom bei Schulneugründungen in kirchlicher Trägerschaft. Es handelt sich aber naturgemäß um einen langwierigen Prozess.

  • Weil die Fragmentierung des Christentums in unterschiedliche religiöse Milieus zugenommen hat, werden die Kirchen darauf auch durch eine individualisierte Seelsorge reagieren müssen. Da dies vor Ort immer weniger geleistet werden kann (s.o.), kommt hierbei den Neuen Medien eine wachsende Bedeutung zu. Fraglich ist allerdings, ob die Ansprache über das Internet das persönliche Seelsorgegespräch ersetzen kann. Chatrooms sind keine Beichtstühle.

  • Eine zentrale Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang der Seelsorge an Familien zu, denn Familien sind unverändert die häufigste Form menschlichen Zusammenlebens in unserer Gesellschaft. Um diese Aufgabe wahrnehmen zu können, bedarf es einer Ehe- und Familienethik. Deren Ziel darf es nicht sein, überlebte Rollenvorgaben weiter zu tradieren; die gestiegene Lebenserwartung und eine Arbeitswelt mit wachsenden Anforderungen an die individuelle Flexibilität haben zu veränderten Formen der Partnerschaft und - damit einhergehend - neuen Familienstrukturen geführt, denen eine zeitgemäße ethische Verkündigung Rechnung zu tragen hat. Partner in stabilen Paarbeziehungen und Eltern ohne Trauschein, Singles, Alleinerziehende und Wiederverheiratete müssen in ihren komplexen Lebenssituationen beratend und unterstützend begleitet werden.

  • Der Anteil der nichtchristlichen Religiösen, hauptsächlich der Muslime, wird schon aus demografischen Gründen weiter wachsen. Dabei wird der Einfluss des türkischen Staates unter türkischen Zuwanderern in Deutschland immer weiter zurückgehen.

  • Dementsprechend wird die gesellschaftliche Teilhabe von Muslimen zunehmen. Mehr Muslime werden Universitäten besuchen und auf lange Sicht Führungspositionen in Wirtschaft und Gesellschaft einnehmen. Erste Anzeichen hierfür sind erkennbar (zum Beispiel türkischstämmige bzw. islamische Universitätslehrer oder Bundestagsabgeordnete).

  • Dies wird weitreichende zivilreligiöse Veränderungen nach sich ziehen, angefangen von der Einführung eines islamischen Religionsunterrichts an staatlichen Schulen bis hin zu staatlich geschützten islamischen Feiertagen.

  • Dadurch werden der traditionelle Bildungskanon und die überkommenen Wertvorstellungen unter Druck geraten. Man wird neuartige Kompromisse aushandeln müssen. Die Kirchen können hierbei auf einen großen Fundus historischer Erfahrungen zurückgreifen.

Die gesellschaftliche Rolle der Religionen ist in Deutschland derzeit im raschen Wandel begriffen. Alte Gewissheiten verflüchtigen sich, neue Konsense und Aufbrüche sind (noch) nicht in Sicht. Die Kirchen sollten in dieser Situation unter Rückbesinnung auf ihren Auftrag und in nüchterner Reflexion der Möglichkeiten und Erfordernisse in einer globalisierten Welt "klug wie die Schlangen und ohne Falsch wie die Tauben" (Matthäus 10,16) agieren und weiterhin unerschrocken ihren Beitrag zur Stabilität des Gemeinwesens leisten. Zu Besorgnis um ihre Fortexistenz besteht kein Anlass.

QuellentextDas Produkt Glaube

Carsten Schwarz, ein sympathischer, ruhiger Mann, steht auf dem Berliner Breitscheidplatz, gleich neben der Gedächtniskirche, und schaut den Passanten nach. Hinter ihm sind zwei Frachtcontainer aufgebaut, wie man sie aus der Schifffahrt kennt. Sechs Meter lang, zweieinhalb Meter hoch, zweieinhalb breit. Der eine Container ist blau, der andere orangefarben. Auf dem blauen steht "Zweifeln", auf dem anderen "Staunen".
[...] Schwarz hofft, dass die Passanten in die Container gehen, dass sie sich umsehen, nachdenken und dann mit ihm reden. Es wäre ein erster Schritt, der erste Kontakt, ein Kundengespräch. Schwarz hat ein Produkt, das er anbieten will. Ein solides Produkt, lange im Markt, aber seit Jahren in der Krise. [...]
Als Christ, zumal als Pfarrer, hat Schwarz die Pflicht, seinen Mitmenschen Gott näherzubringen. Nicht Gleichgesinnte suchen, sondern Gleichgesinnte machen, das ist der Auftrag. [...] Das Konzept "Jünger werben Jünger" war sehr erfolgreich. Es schien, als könne es immer so weitergehen.
Wer suchte, der hatte in Deutschland lange Zeit nur einen Anbieter. Es gab einen, bei dem man das Telefon bestellte, einen, der die Bundesliga übertrug, und einen, der Antworten auf die großen Fragen hatte. [...] Dann veränderten sich die Dinge und [es] gab Konkurrenz. Andere, hippe Produkte, [...] Latte macchiato, Esoterik, Buddhismus. Buddhisten waren friedlich, das passte gut zur pazifistischen Bewegung. Scientologen waren dynamisch und mussten immerzu Kurse machen. Je mehr Kurse, desto näher war man am Ziel. [...] Die Kirche hatte es dagegen schwer. [...] Wenn man die Kleidung, die Möbeleinrichtung, die Urlaubsziele der Eltern schon nicht mochte, warum sollte man ihren Glauben mögen?
"Machen wir uns nichts vor, da draußen ist ein religiöser Markt, und wir müssen als Kirche diese Herausforderung annehmen." Pfarrer Schwarz hat einen ersten Schritt getan. Vor ein paar Tagen hat der Verein "Pro Christ" ihm die Container hingestellt. Laut Satzung des evangelikalen Vereins widmet sich Pro Christ "der Verkündigung des Evangeliums von Jesus Christus und der Förderung des christlichen Glaubens in Deutschland und Europa". [...]
Im Inneren der Container sind Bildschirme angebracht, auf denen Filme laufen. [...] Es sind Geschichten von Menschen, die zu Gott gefunden haben. Ein ehemaliger Alkoholiker erzählt, wie "Jesus mir die Freiheit gab, nicht mehr trinken zu müssen". Ein ehemaliger Neonazi und Hooligan beschreibt seine Verwandlung zum Christen. Ein Swinger aus Mannheim merkt durch eine Art Erleuchtung, dass Orgien auf Dauer auch keine Lösung sind. Trinker, Neonazi, Sexsüchtige, Gott hilft jedem, immer, auch dir. Das teilen die Container mit. Eine einfache, klare Aussage. [...]
Vor dem Container stehen Gemeindemitglieder, die kleine Papp-Container verteilen. [...] Die Papp-Container passen farblich zum großen Container. Darin ein Stift und ein Zettel. Man soll einen Wunsch aufschreiben, eine Hoffnung, irgendwas, um das sich Gott kümmern soll. Pfarrer Schwarz bietet an, bei der Andacht [...] für diesen Wunsch zu beten. [...]
Pfarrer Schwarz wird nicht aufgeben, er muss jetzt allerdings los. Gleich ist es 15 Uhr, Zeit für die Andacht. [...] Er wird ein paar kleine Papp-Container öffnen. Die Wünsche. Pfarrer Schwarz betet dafür. Er hat auch noch einen eigenen Wunsch. Er betet für die Kirche.

Juan Moreno, "Gottes Firma", in: Der Spiegel Nr. 34 vom 18. August 2008