Algerien
Algerien ist das Land der arabischen Welt, in dem der europäische Kolonialismus seine tiefsten Spuren hinterlassen hat. Seit 1830 befand sich das Land unter französischer Herrschaft, und erst nach einem langen und brutal geführten Befreiungskrieg erlangte es 1962 seine Unabhängigkeit. In dem Krieg, der 1954 begonnen hatte, kamen allein eine Million algerischer Bürgerinnen und Bürger, hauptsächlich Zivilisten, ums Leben.
Die Heftigkeit der Auseinandersetzungen erklärte sich aus der besonderen Stellung Algeriens im französischen Kolonialsystem. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts hatten sich hier tausende Franzosen, Italiener und Spanier niedergelassen. Deren Nachkommen waren nicht bereit, das Land kampflos aufzugeben, zumal Algerien mittlerweile vollständig zu Frankreich gehörte. Die muslimischen Algerierinnen und Algerier waren in diesem Staat allerdings stets Bürger zweiter Klasse geblieben – es sei denn, sie wandten sich von ihrem Glauben ab und konvertierten zum Christentum. Der Islam wurde so zu einem Erkennungsmerkmal, das die benachteiligten Einheimischen von den privilegierten Siedlern unterschied.
Bereits in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts forderten algerische Nationalisten, das Los der Muslime zu verbessern. Sie waren inspiriert von der so genannten Salafiya, einer islamischen Reformbewegung, die den traditionellen Volksglauben durch einen vernunftorientierten Islam ersetzen wollte. Unter Rückgriff auf die Frühzeit der islamischen Geschichte erklärte die Salafiya das Prinzip der Gerechtigkeit zu ihrem obersten Ideal. Im Unabhängigkeitskrieg entwickelte sich die Religion zu einem wichtigen Bestandteil der algerischen Identität. Und nach dem Abzug der Franzosen 1962 erklärte das unabhängige Algerien den Salafiya-Islam zur offiziellen Staatsreligion.
Dennoch fühlte sich das neue sozialistisch orientierte Regime dem Säkularismus verpflichtet. Es versuchte, Algerien durch einen Kraftakt auf das wirtschaftliche und technologische Niveau der Ersten Welt zu bringen. Gleichzeitig sollte eine eigene, arabische Identität bewahrt werden, gerade auch im Kontrast zur kolonialen Vergangenheit. Der Salafiya-Islam, der an den Schulen gelehrt wurde, sollte diesen Modernisierungsprozess gesellschaftlich abfedern.
Doch das algerische Entwicklungsmodell scheiterte. Die erwirtschafteten Erträge wurden durch das rapide Bevölkerungswachstum und eine eigennützige Führungsschicht aufgezehrt. Während der Staat die Arabisierung der Gesellschaft vorantrieb, blieb Französisch die Sprache der Elite und bildete so eine Barriere für den sozialen Aufstieg der nachfolgenden Generation.
Der Gegensatz von Anspruch und Wirklichkeit führte dazu, dass sich in den achtziger Jahren ein Gegenmodell zum algerischen Sozialismus entwickelte. Angespornt durch die Islamische Revolution im Iran gewannen die Islamisten an Einfluss. Als die Unzufriedenheit der Bevölkerung zu Unruhen führte, lockerte das Regime vorübergehend die politischen Zügel. Nach Jahrzehnten der Einparteienherrschaft wurde die Verfassung 1989 geändert und ein Mehrparteiensystem eingeführt. Doch die Demokratie überlebte die politischen Konflikte nicht, die sich im Laufe der Jahre angestaut hatten. Auch im Westen war die Furcht groß, die Islamisten könnten die Macht in Algerien übernehmen.
Tatsächlich gewannen die Islamisten der Front Islamique du Salut (FIS) bei den Kommunalwahlen 1990 die Mehrheit der Stimmen. Im Dezember 1991 folgten die Parlamentswahlen. Als sich nach der ersten Runde erneut ein überwältigender Sieg der FIS abzeichnete, erklärten die Militärs die Wahlen für ungültig und blockierten die demokratischen Entwicklungen.
Es folgte ein überaus grausamer Bürgerkrieg, in dem insgesamt um die hunderttausend Zivilisten brutal ermordet wurden. Die Militärs schoben die Verantwortung für die Massaker stets der anderen Seite zu: Die Groupe Islamique Armée – kurz GIA – wurde so weltweit zum Inbegriff des islamistischen Terrorismus.
Doch mittlerweile machen sich Zweifel breit. Waren die Islamisten wirklich an all den Greueltaten schuld? Die Enthüllungen des algerischen Offiziers Habib Souaidia, der 1989 in die Spezialkräfte der algerischen Armee eingetreten war und die Anfänge des Krieges hautnah miterlebt hatte, sorgten in Frankreich für Aufsehen. Danach gingen einige der grausamsten Massaker auf das Konto der Militärs. In Sorge um die eigenen Pfründe hätten hohe Offiziere mit zynischer Berechnung die Gewalt bewusst entfacht, um so die Bevölkerung gegen die Islamisten aufzubringen und die Aufhebung der Demokratie zu rechtfertigen. Demnach sahen sie in der Demokratie eine größere Gefährdung für ihre Macht als in den Islamisten.
Der Westen reagierte mit Erleichterung, als die Militärs die Islamisten an der Machtübernahme hinderten. Aber das Land stürzte in einen Bürgerkrieg, der immer noch nicht beendet ist.
Saudi-Arabien
Saudi-Arabien ist ein Land, dessen Herrscher sich unter zunehmenden Legitimationsdruck gesetzt sehen. Das wurde besonders nach dem 11. September 2001 klar, als viele Saudis ihre Sympathie für Osama bin Laden bekundeten. Das Regime sieht sich einer starken islamistischen Opposition gegenüber, die mal mehr, mal weniger gewalttätig auf sich aufmerksam macht.
Wieso gibt es aber ausgerechnet hier eine islamistische Opposition? Saudi-Arabien ist neben dem Oman das einzige islamische Land, in dem der Koran die Verfassung ersetzt. Wogegen protestieren die Islamisten, wenn das Regime das islamische Strafrecht doch mit aller Härte durchsetzt – eine der zentralen Forderungen vieler Islamisten?
In Saudi-Arabien dominiert der Islam alle Bereiche des Lebens. Trotzdem, oder gerade deswegen, kleidet sich jegliche Opposition gegen das Regime in ein religiöses Gewand. Bereits 1979 stürmten fanatisierte Islamisten die Kaaba in Mekka, den Heiligsten Ort des Islam, und hielten sie für mehrere Monate besetzt. Seit dem Golfkrieg 1991 hat die Kritik an dem Herrscherhaus noch zugenommen. Die friedliche Opposition hat sich mittlerweile nach London verlagert, von wo aus Gegner des Regimes per Fax und E-Mail die Korruption der Saud-Familie anprangern. Osama bin Laden hingegen hat sich auf gewaltsame Mittel verlegt, um das verhasste Regime in Riyad zu Fall zu bringen.
Das saudische Beispiel zeigt, wie gefährlich es für ein Regime im Nahen Osten ist, sich in seinem ganzen Handeln auf den Islam zu berufen. Denn unter bestimmten Umständen kann das die Kritik der Islamisten gerade erst hervorrufen, vor allem dann, wenn das Verhalten der Herrscher in Widerspruch zu ihren propagierten Grundsätzen steht. So passt der puritanische Wahhabismus, der von dem Regime nötigenfalls auch mit Gewalt durchgesetzt wird, nicht zum ausschweifenden Lebensstil mancher Mitglieder der Herrscherfamilie.
All das wäre vielleicht noch hinnehmbar, wenn der Reichtum, mit dem das Land gesegnet ist, einigermaßen gerecht verteilt würde. Dem ist aber nicht so. Schon vor dem Verfall des Ölpreises in den achtziger Jahren gab es Landstriche in Saudi-Arabien, über die sich das Füllhorn des Staates nur spärlich ergoß. Viele saudische Oppositionelle stammen aus diesen benachteiligten Regionen. Soziale Gerechtigkeit ist ein Ideal, das in der islamischen Tradition eine wichtige Rolle spielt. Sie kann unter Umständen zu einem Katalysator für politischen Protest werden. Für viele Islamisten ist die soziale Gerechtigkeit denn auch einer der wichtigsten Kritikpunkte am saudischen Königshaus. Das Regime, das sich vor allem islamisch legitimiert, wird von den Islamisten also auf seinem eigenen Terrain angegriffen. Das macht sie so gefährlich.
Hinzu kommt die "Komplizenschaft" der Monarchie mit dem Westen. Saudi-Arabien ist seit den fünfziger Jahren einer der engsten Verbündeten der USA im Nahen Osten. Das Interesse Washingtons an der Arabischen Halbinsel hatte lange Zeit in erster Linie wirtschaftliche Gründe. Amerikanische Firmen machen Milliardenumsätze bei der Ausbeutung des saudischen Öls. Doch seit der Islamischen Revolution im Iran 1979 und mehr noch nach dem Golfkrieg 1991 ist Saudi-Arabien auch zu einem wichtigen Militärstützpunkt für die US-Army geworden.
Aber auch für die Amerikaner selbst ist es schwierig, das besondere Verhältnis zum saudischen Herrscherhaus vor ihren eigenen Bürgern zu rechtfertigen. Das streng islamische Regime mit seinen Menschenrechtsverletzungen, der fehlenden Religions- und Meinungsfreiheit entspricht nicht den amerikanischen Vorstellungen von Demokratie. Deswegen wird Kritik an dem arabischen Partner in Washington nicht gern gesehen – sie fällt letztlich auf die amerikanische Regierung selbst zurück.
Ägypten
Ägypten ist das Herz der arabischen Welt, in mancher Hinsicht sogar das Herz des sunnitischen Islam. Die meisten religiösen Reformer, säkularen Denker, aber auch einige der wichtigsten Islamisten – militante wie friedliche – sind in Kairo geboren, aufgewachsen oder haben hier gelehrt. Die Ägypter nennen nicht zuletzt deswegen ihre Hauptstadt Umm al-Dunya, die "Mutter der Welt". Seinen besonderen Ruf hatte Kairo bereits im Mittelalter. 972 wurde hier die al-Azhar gegründet, die älteste religiöse Lehrstätte im Islam. Die Azhar hat sich im Laufe der Jahrhunderte den Namen erworben, das Zentrum der sunnitischen Gelehrsamkeit zu sein. Bis heute kommen Muslime aus der ganzen Welt, um hier die Grundlagen des Glaubens zu erlernen. Die Worte des Scheich al-Azhar, des höchsten Vertreters des Islam in Ägypten, haben auch im Rest der islamischen Welt Gewicht. Seine Rechtsgutachten gelten zwar nicht als verbindlich, genießen aber größere Autorität als die anderer Rechtsgelehrter.
Die Entwicklung der Azhar in den vergangenen fünfzig Jahren wirft ein bezeichnendes Licht auf das Verhältnis von Religion und Politik in Ägypten. Der Staat hat in dieser Zeit die vollständige Kontrolle über die offiziellen islamischen Institutionen übernommen. Seit 1962 wird der Scheich al-Azhar direkt vom Präsidenten ernannt, er ist somit ein Beamter des Staates. Und so ist er meist bereit, die Politik des Regimes religiös zu rechtfertigen. Die Flexibilität, die die Azhar-Gelehrten bisweilen an den Tag legen, ist erstaunlich. In den sechziger Jahren, als Präsident Gamal Abd al-Nasser Bereiche der Wirtschaft verstaatlichte, bemühte die Azhar den Propheten Mohammed, um diese Politik zu rechtfertigen, da auch er das Wohl des Gemeinwesens vor das des Individuums gestellt hätte. Als Nassers Nachfolger Anwar al-Sadat diese Maßnahmen wieder zurücknahm, sich dem Westen zuwandte und die freie Marktwirtschaft propagierte, änderte auch der Scheich al-Azhar seine Meinung. Ein Kommunist sei ein Ungläubiger, hieß es jetzt, weil dem Islam der Privatbesitz heilig sei. Auch für den Frieden, den Sadat 1979 mit Israel abschloss, fanden die Rechtsgelehrten eine Rechtfertigung in der Scharia. Er sei aus einer Position der Stärke heraus erreicht worden, nachdem Ägypten im Oktoberkrieg 1973 einen siegreichen Dschihad gegen die israelischen Truppen gekämpft hätte. Der Prophet Mohammed habe 628 ähnlich gehandelt, als er mit den verfeindeten Clans von Mekka ein Friedensabkommen schloß.
Anwar al-Sadat hatte die von säkularen und sozialistischen Überzeugungen geleiteten Anhänger Nassers verfolgen lassen und die Islamisten gefördert, um diese Kräfteverschiebung für den eigenen Machterhalt zu nutzen. Seine Wende zum Westen und zu Israel erregte jedoch Anstoß in der islamischen Welt und führte 1981 zu seiner Ermordung durch islamistische Militärs. Sein Nachfolger Hosni Mubarak regiert seitdem mit dem Kriegsrecht und hält sich an der Macht durch etwas mehr Distanz zum Westen, indem er einerseits mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln radikale wie gemäßigte Islamisten bekämpft und andererseits Nachgiebigkeit gegenüber der Islamisierung des öffentlichen Lebens bekundet. So werden beispielsweise Intellektuelle auf "unislamische" öffentliche Äußerungen hin als Glaubensabtrünnige mit Zwangsscheidungen von ihren Ehepartnern bedroht, anti-islamisch gewertete Veröffentlichungen von der staatlichen Zensur verboten.
Jemen
Bis zum Mai 1990 war der Jemen, ähnlich wie Deutschland, ein geteiltes Land. Die nördliche Arabische Republik Jemen und die Demokratische Volksrepublik Jemen im Süden spiegelten die größten Gegensätze wider, die in der arabischen Welt zu finden waren. Gerade was ihr Verhältnis zum Islam betrifft, verfolgten die beiden Regime eine grundsätzlich verschiedene Politik.
Als einziges arabisches Land hatte sich der Südjemen dem wissenschaftlichen Marxismus verschrieben. Per Dekret wollten die jemenitischen Sozialisten aus dem traditionellen Land eine säkulare Volksrepublik machen. So verpflichtete die Verfassung den Staat dazu, aktiv auf die Gleichstellung zwischen Mann und Frau hinzuarbeiten. Dazu gehörte eine gezielte Bildungs- und Berufsförderung von Frauen. Tatsächlich gab es im Südjemen bis zur Vereinigung mehr weibliche Anwälte, Richterinnen und Journalistinnen als in vielen anderen arabischen Ländern. Wichtigster Partner der Demokratischen Volksrepublik waren die Sowjetunion und die DDR.
Die Arabische Republik Jemen bildete genau das Gegenstück zu ihrem südlichen Nachbarn. Bis zum Jahr 1962 war das Land fast vollständig von der Außenwelt abgeschnitten. Die seit Jahrhunderten herrschenden Imame, die sowohl das religiöse wie das politische Leben bestimmten, verboten selbst technologische Erneuerungen wie Radio und Schallplattenspieler. Im März 1962 stürzten jemenitische Offiziere den Imam und führten ein republikanisches System ein, das sich an dem ägyptischen Modell orientierte. Der Jemen öffnete sich nun äußeren Einflüssen und nahm Kontakt zur restlichen Welt auf. Dennoch suchte die politische Führung einen gänzlich anderen Weg in die Moderne als der sozialistische Südjemen. Die Bedeutung des Islam für den Zusammenhalt der Gesellschaft wurde nie in Frage gestellt, und die Scharia blieb die wichtigste Quelle der Rechtsfindung im Nordjemen.
Wegen der unterschiedlichen ideologischen Ausrichtungen der jemenitischen Regime – der Süden sozialistisch-revolutionär, der Norden konservativ-pragmatisch –, lieferten sie sich während des Kalten Krieges wiederholt militärische Auseinandersetzungen. So unterstützten Anfang der achtziger Jahre die Sozialisten eine Guerillabewegung im Nordjemen, die das dortige Regime zu Fall bringen wollte. Gleichzeitig verhandelten beide Seiten immer wieder über eine mögliche Vereinigung, die jedoch an den unüberbrückbaren ideologischen Gegensätzen scheiterte.
Doch mit dem Ende des Ost-West-Konflikts schafften es auch die beiden Jemen, ihre langjährigen Differenzen zu überwinden. Im Mai 1990 vereinigten sie sich zur Republik Jemen. Wenngleich im Norden fast vier mal so viele Menschen lebten wie im Süden, einigte man sich auf ein pluralistisches System, in dem beide Seiten gleichermaßen berücksichtigt wurden. Über Nacht war eine Demokratie geboren, wie sie in der arabischen Welt ihresgleichen suchte: Diverse Parteien, Zeitungen und andere zivilgesellschaftliche Institutionen wurden gegründet. Nach einer Übergangszeit fanden im April 1993 die ersten freien und geheimen Parlamentswahlen statt.
Wie nicht anders zu erwarten, lehnten die Islamisten den Parteienpluralismus zunächst ab, ließen sich aber schnell eines Besseren belehren, da die Bevölkerung die Verfassung, ebenso wie die neu gewonnenen demokratischen Freiheiten, mit Begeisterung aufnahm.
Den Demokratisierungsprozess im Jemen beobachteten seine Nachbarn, besonders das strenge Saudi-Arabien, mit Argwohn. Auch die USA fürchteten um die Stabilität ihres langjährigen Partners. Nach den Wahlen 1993 warnte die amerikanische Regierung deswegen die Jemeniten vor unnötigem Missionsdrang. Demokratie sei eine Staatsform, die nicht für jede Gesellschaft geeignet sei.
Was im Jemen so hoffnungsvoll begonnen hatte, endete 1994 in einem blutigen Machtkampf. Wie sich zeigte, war Ali Abdallah Salih, der langjährige Präsident des Nordjemen, nicht bereit, seine Macht mit den Sozialisten zu teilen. In einem kurzen Krieg zwischen Truppen des ehemaligen Nord- bzw. Südjemens setzte sich letztlich der Norden durch. Die sozialistische Führung floh aus dem Land, wenngleich die Partei nicht verboten wurde. Seitdem entwickelt sich der Jemen wieder hin zu einem Präsidialregime, in dem die demokratischen Freiheiten immer weiter eingeschränkt werden.
Indonesien
Wer an Islam denkt, hat meistens den Nahen Osten und seine Konflikte vor Augen. Im Westen ist es kaum ins Bewusstsein gedrungen, dass die zahlenmäßig größten islamischen Staaten in Süd- und Südostasien liegen. Selbst in China leben noch 20 Millionen Muslime, das sind etwa so viele wie im Irak. Das bevölkerungsreichste islamische Land ist Indonesien. Von den etwa 220 Millionen Indonesiern bekennen sich rund 90 Prozent zum Islam. Doch Indonesien verdient nicht nur wegen seiner Größe Aufmerksamkeit, sondern auch wegen der spezifischen Ausprägung, die der Islam hier genommen hat. Er weist vielfältigere Erscheinungsformen und größere Toleranz auf als dies beispielsweise in einigen arabischen Staaten der Fall ist. Zudem hat in Indonesien 1998 ein Demokratisierungsprozess eingesetzt, der trotz diverser Schwierigkeiten bislang weiter verfolgt wird. Für manche Muslime steht Indonesien deswegen als beispielhaft für die Vereinbarkeit von Islam und Demokratie.
Der Islam in Indonesien besteht aus verschiedenen Strömungen. Zum einen gibt es modernistische Gruppierungen, die sich an den ägyptischen Reformtheologen des frühen 20. Jahrhunderts orientieren. Sie verstehen den Islam als vernunftorientierte Religion, die mit den Werten der Moderne in Einklang zu bringen sei. Der modernistische Islam ist vor allen Dingen in den Städten der Küstenregionen beheimatet. Auf der anderen Seite steht der traditionalistische Islam, der mehr im Landesinneren, vor allem auf der Insel Java, zu finden ist. Er zeichnet sich durch seine Anpassungsfähigkeit an die javanischen Bräuche und Traditionen aus. Sowohl Modernisten wie Traditionalisten verfügen über eigene Organisationen, die die größten ihrer Art in der islamischen Welt sein dürften. Die Nahdlatul Ulama (Renaissance der Rechtsgelehrten) etwa, die den traditionalistischen Islam repräsentiert, zählt weit über 30 Millionen Mitglieder. Der Muhammadiyah, die einen "reformierten" Islam vertritt, gehören etwa 20 Millionen Indonesier an. Beide Strömungen sind auch im heutigen Parlament durch Parteien vertreten, deren Programme allerdings nicht auf dem Islam beruhen.
Indonesien war lange Zeit eine holländische Kolonie. Im Kampf gegen die Kolonisatoren und deren christliche Missionare hatte der Islam, ähnlich wie in Algerien, eine identitätsstiftende Wirkung. In der Verfassung, die sich das Land nach der Unabhängigkeit 1945 gab, spielte er jedoch eine vergleichsweise unbedeutende Rolle. Die christliche Minderheit hatte damit gedroht, sich von Indonesien abzuspalten, falls der Islam eine zu große Bedeutung in der Verfassung spielen würde. So muss laut Verfassung der Staatspräsident kein Muslim sein, und auch die Scharia hat nur einen untergeordneten Status.
Von der Unabhängigkeit 1945 bis zum Beginn des Demokratisierungsprozesses spielte das Militär die dominante Rolle. Die schwere Wirtschaftskrise in Asien 1997, von der Indonesien besonders betroffen war, führte nach 30 Jahren Herrschaft schließlich zum Sturz von Präsident Suharto (1967–1998). Damit war der Weg frei für eine Demokratisierung. 1999 fanden zum ersten Mal seit 1955 wieder freie Wahlen statt. Parteien, die mit einem ausdrücklich islamischen Programm antraten, kamen dabei nur auf rund 14 Prozent der Stimmen. Experten fühlten sich dadurch in ihrem Urteil bestätigt, dass der politische Islam in Indonesien bislang keine breite Basis hat.
Dennoch befindet sich die indonesische Demokratie in einer prekären Situation. Das riesige Inselreich wird von zahlreichen Regionalkonflikten geplagt, die ein Erbe der Suharto-Zeit sind. Anhänger des alten Regimes aus Militär und Geheimdienst haben diese Konflikte noch angestachelt, indem sie muslimische Schlägertrupps gegen christliche Minderheiten ins Feld schickten. Damit wollten sie den Demokratisierungsprozess unterhöhlen.
Im Sommer 2001 zeigte sich die noch junge indonesische Demokratie jedoch erstaunlich stabil. Präsident Aburrahman Wahid, Führer der Nahdlatul Ulama, musste wegen Korruptionsvorwürfen sein Amt verlassen. Beobachter befürchteten, dass seine Anhänger nun einen blutigen Konflikt vom Zaune brechen könnten. Doch die Amtsübergabe an Megawati Sukarnoputri, die Tochter des ersten Präsidenten Indonesiens, verlief ohne Komplikationen.
Iran
Die Islamische Republik Iran ist das einzige Beispiel für den Versuch, einen islamischen Staat systematisch in die Tat umzusetzen – der Sudan ist eine Militärdiktatur, im "Islamischen Emirat Afghanistan" der Taliban beschränkte sich das "Islamische" darauf, das Strafrecht mit äußerster Brutalität durchzusetzen. Doch wie der Name "Republik" schon nahelegt, enthält dieser islamische Staat durchaus Elemente der Volkssouveränität. So werden sowohl Parlament wie Präsident vom Volk gewählt. Allerdings entscheidet ein Gremium aus islamischen Rechtsgelehrten darüber, wer als Kandidat antreten darf. Eine andere Kommission, die ebenfalls aus Rechtsgelehrten besteht, prüft, ob die vom Parlament verabschiedeten Gesetze mit dem Islam vereinbar sind, und schickt sie gegebenenfalls zur Revision zurück. Die letzte Instanz in der Islamischen Republik bleibt aber der "faqih", der Statthalter des bereits im Jahre 869 verschwundenen zwölften Imam, in dem die gläubigen Schiiten den letzten legitimen Nachfolger von Ali, dem Vetter Mohammeds, verehren. Der Statthalter ist ein Rechtsgelehrter, der laut Verfassung seine Autorität direkt von Gott erhält und über dem Präsidenten, der Regierung, dem Parlament sowie jeglichem Mehrheitswillen steht. Derzeit hat Ayatollah (arab. "Zeichen Gottes", Ehrentitel für einen hohen schiitischen Rechtsgelehrten) Ali Khamenei das Amt inne.
Im Iran ist der politische Islam seit über 20 Jahren nicht mehr in der Opposition, sondern an der Macht. Die Erfahrungen aus dieser Zeit lehren zwei Dinge: Auch utopische Bewegungen, die ihren Anhängern einfache Lösungen für schwierige Probleme versprechen, müssen sich den Realitäten der Gegenwart stellen, sobald sie an der Macht sind. Daraus folgt zweitens die Entmythologisierung dieser Bewegung, die sich über kurz oder lang Kritik an der Diskrepanz zwischen propagiertem Ideal und der Wirklichkeit gefallen lassen muss.
Ohne es zu wollen, hat der Islamismus im Iran damit einer Säkularisierung der Gesellschaft Vorschub geleistet. Viele Menschen verbinden mit Religion mittlerweile den Missbrauch von Macht, und wenn überhaupt, praktizieren sie ihren Glauben nur noch im Privaten. Es ist nicht schwer, im Iran junge Leute zu finden, die Religion ausdrücklich als Privatsache betrachten. Das hat dazu geführt, dass selbst ehemalige Vertreter der Islamischen Revolution auf Distanz zum Regime gehen. Die so genannten islamischen Aufklärer verlangen mittlerweile nachdrücklich die Trennung von Religion und Politik, unter anderem weil sie um den "guten Ruf" der Religion besorgt sind. Andere fordern die Einführung einer wirklichen Demokratie. Es entspreche dem Islam, so der progressive Geistliche Mohammed Schabestari – auch er früher ein Wortführer der Islamischen Revolution –, dass die Herrschaft weltlich sei. Die Notwendigkeit der Demokratie begründet er aus seiner Theologie. "Für den iranischen Diskurs", so die Islamwissenschaftlerin Katajun Amirpur, "ist das von enormer Bedeutung, denn nur so können sich die religiösen Aufklärer des Vorwurfs erwehren, verwestlicht und vom Ausland gesteuert zu sein."
Obgleich der Iran ein schiitisches Land ist und dessen islamische Aufklärer auf Persisch schreiben, findet die Diskussion um eine islamische Demokratie auch unter sunnitischen Muslimen in der arabischen Welt Widerhall. "Auf jeden Fall zeigt die iranische Debatte", so Amirpur, "dass es viele Ansätze gibt, den Islam neu zu interpretieren. Der Islam muss nicht unvereinbar sein mit der Moderne."
Derzeit liefern sich Reformer, personalisiert etwa durch Präsident Mohammed Khatami, den eine Mehrheit der iranischen Bevölkerung 2001 für eine zweite Amtsperiode wählte, und konservative Kräfte einen Machtkampf im Iran, der bislang noch friedlich verläuft. Sollten sich die Reformer durchsetzen, könnte die Islamische Republik das erste Beispiel für eine islamische Demokratie werden. Wenn die Konservativen, die immer noch alles versuchen, die Reformen zu verhindern, jedoch an dem alten System festhalten, könnte es erneut zu einer Revolution kommen – diesmal aber zu einer anti-islamischen.